Hugo von Hofmannsthal
Der Abenteurer und die Sängerin
oder
Die Geschenke des Lebens
In einem Aufzug (mit einer Verwandlung)

Personen

[510] Personen.

    • Ein Abenteurer, unter dem Namen Baron Weidenstamm.

    • Vittoria.

    • Cesarino.

    • Lorenzo Venier.

    • Sein Oheim, der Senator Venier.

    • Die Redegonda, Sängerin.

    • Achilles, ihr Bruder.

    • Marfisa Corticelli, Tänzerin.

    • Ihre Mutter.

    • Salaino, ein junger Musiker.

    • Der Abbate Gamba.

    • Der Sohn des Bankiers Sassi.

    • Le Duc, Kammerdiener des Barons.

    • Ein alter Komponist.

    • Dessen Dienerin.

    • Ein Juwelier.

    • Ein fremder älterer Mann.

    • Drei Musiker.

    • Diener.

[1. Szene]

I

In einem venezianischen Palast, den der Baron bewohnt: das Vorzimmer, vielmehr ein hoher geräumiger Vorsaal. Im Hintergrund große Tür auf die Treppe, daneben rechts eine kleine Tür ins Dienerzimmer, links ein Fenster in den Hof. Die rechte Wand hat ein vergittertes Fenster auf den Kanal hinaus. An der linken Wand kleine Tür ins Schlafzimmer und noch eine Tür. Der Saal selbst hat Stuckdekoration im Barockgeschmack und kein Mobiliar als einige große Armstühle mit verblichener Vergoldung.
Es treten auf: der Baron und Lorenzo. Der Baron in Lila, mit blaßgelber Weste, Lorenzo ganz schwarz.
Der Baron tritt zuerst ein, mit den Gebärden des Hausherrn.

BARON.

Nein, nein, Ihr müßt mir diese Ehre erweisen, ich tue es nicht anders. Ihr seid ein Edelmann, ich bin ein Edelmann. Ihr heißt Venier, ich heiße Weidenstamm. Ihr gehört zu den Familien, die diese Stadt regieren, ich liebe diese Stadt über alles. Wir finden uns in der Oper, ich will den Namen einer Sängerin wissen, ich sehe mich nach einer Person von Stand um, an die ich meine Frage richten könnte. Eure Haltung, Eure Kleidung, Euer gemessener Blick, Eure wundervoll schönen adeligen Hände ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich finde nichts wünschenswerter, als eine Unterhaltung fortzusetzen, die der Zufall angeknüpft hat.

VENIER.
Sie sind sehr gütig, und ich bin um so beschämter als –
BARON.

Wir wollen uns Du sagen, wie in der großen Welt in Wien und Neapel. Ich will dir erklären – verzeih –


Klatscht in die Hände.
Venier, stumme Bewegung.
Le Duc tritt von links auf.
BARON.

Le Duc, ich komme an, Niemand ist da, mir aus der Gondel zu helfen. Auf der Treppe ist kein Licht. Im Vorhaus [511] kann man den Hals brechen. Wo ist der Lakai, den du aufnehmen solltest? Wo ist der Diener, den der Wohnungsvermieter zu schicken versprochen hat?


Zu Venier.

Du mußt mich entschuldigen, ich bin noch keine vierundzwanzig Stunden hier und, wie du siehst, schlecht bedient.

LE DUC.
Euer Gnaden, es waren drei da, aber mit solchen Galgengesichtern –
BARON.
Genug, du wirst morgen zusehen. Jetzt Lichter, ich habe Spiel! Tokaier, Kaffee!

Zu Venier.

Darf ich dir sonst etwas anbieten?

Pause, während Le Duc serviert.
VENIER.
Sie sind nicht das erste Mal in Venedig, Baron?
BARON.
Wie kannst du das glauben? Aber du machst mich unglücklich, ich sehe, du fühlst dich nicht zu Hause.

Auf ihn zutretend.

Venier, wir überlegen es uns keinen Augenblick, den zehnten Teil unseres Vermögens hinzulegen, wenn wir unter dem Kram eines Antiquitätenhändlers den Kopf eines sterbenden Adonis oder eine Gemme mit beflügelten Kindern finden. Wir fahren stundenweit ins Gebirge, um die Fresken zu sehen, die eine längstvermoderte Hand an die Wände einer halbverfallenen Kapelle gemalt hat. Wir begehen die größten Torheiten um einer Frau willen, die wir im Vorübergehen gesehen haben; und um die Bänder eines Mieders aufzulösen, ehe wir wissen, was dieses Mieder verbirgt, setzen wir unser Leben ein und bedenken uns keinen Augenblick. Aber einen Mann, der uns gefällt, anzureden, einen Menschen zu suchen, ein Gespräch, das vielleicht Unendliches bietet, welche Schwerfälligkeit haben wir da, welche Mischung von Bauernstolz und Schüchternheit. Die Zurückhaltung, deren wir uns einer Statue, einem Gemälde, einer Frau gegenüber schämen würden, einem Manne gegenüber scheint sie uns am Platz.

VENIER.
Und ist es vielleicht auch ebendarum, weil wir Männer sind.
[512]
BARON
trinkt sein Glas aus.
Du bist ein Venezianer, ich bins zehnfach!
Der Fischer hat sein Netz, und der Patrizier
das rote Kleid und einen Stuhl im Rat,
der Bettler seinen Sitz am Rand der Säule,
die Tänzerin ihr Haus, der alte Doge
den Ehering des Meeres, der Gefangne
in seiner Zelle früh den salzigen Duft
und blassen Widerschein der Purpursonne:
ich schmecke alles dies mit einer Zunge!
VENIER
für sich.
Wer ist der Mensch?
BARON.
Hoho, ich bin vergeßlich.
Wie gehts der schönen Frau des Prokurators
Manin?
VENIER.
Die lebt nicht mehr.
BARON.
Die lebt nicht mehr?
Mit den meergrünen Augen!
VENIER.
Die ist tot
Seit sieben Jahren.
BARON.
Tot? Was du nicht sagst!
VENIER.
So ist es lang, daß Sie den Aufenthalt ...
BARON.
Recht lang. Drum atm ichs ein mit solcher Lust.

Er geht ans Fenster rechts.

Zu meiner Zeit saß auch der Alte noch
mit seiner roten Mütze auf der Treppe
der kleinen Löwen und erzählte Fabeln.
VENIER.
Der Cigolotti?
BARON.
Wundervolle Fabeln!
Von Serendib und von der Insel Pim-pim.

Er macht das Fenster auf.

Welch eine Luft ist das! In solcher Nacht
ward diese Stadt gegründet. Ihre Augen
schwammen in Lust, er hing an ihrem Hals,
sie tranken nichts als aufgelöste Perlen.
[513]
VENIER.
Wer?
BARON.
Weißt dus nicht, weißt du den Anfang nicht?
Ihr seid die Letzten nur von ihrem Blut.
VENIER.
Wovon den Anfang?
BARON.
Von Venedig. Hier
war solch ein öder Wald am Rand des Meeres
wie bei Ravenna. Aber Fischer zogen
an Perlenschmüren und an ihrem langen
goldroten Haar Prinzessinnen ans Ufer.
VENIER.
Prinzessinnen?
BARON.
Von Serendib, was weiß ich!
Sie waren nackt und leuchteten wie Perlen
und lebten mit den Fischern. Andre kamen
dann nach, auf Ungeheuern durch die Luft
und durch das Meer gefahren. Tra la la –

Er sucht eine Melodie.

Wie war das, was sie sang? Tra la la la ...
VENIER
aufstehend.
Wer sang?
BARON.
Die Mandane! heut in der Oper.
Oder Zenobia, wie? Sehr schön. Sehr schön.

Er fährt wieder in seiner Erzählung fort.

Doch später dann zerging die Zauberstadt –
nicht ganz! es blieb ein Etwas in der Luft,
im Blut! Mit rosenfarbnen Muschellippen küßte
das Meer und leckte mit smaragdnen Zungen
die Füße dieser Stadt! Die Kirchen stiegen
wie Häuser der verschwiegnen Lust empor –
VENIER.
Sie haben die Beredsamkeit eines Dichters, mein Baron.
BARON.
Oh, eines Liebhabers, höchstens eines Liebhabers.
VENIER.
Eines Liebhabers, der sich gerade hier ...?
BARON.
Der glücklichsten Stunden erinnert, der unbeschreiblichsten, der unvergeßlichsten ...

Venier, Bewegung.
[514]
BARON.

Sie war ein Kind und wurde in meinen Armen zum Weib. Ihre ersten Küsse waren unerfahren wie aus dem Nest gefallene junge Tauben, ihre letzten Küsse sogen die Seele aus mir heraus! Wenn sie kam, abends oder in der Früh, schlanker als ein Knabe! sie war in den großen alten Mantel gewickelt, dann warf sie ihn hinter sich und trat hervor wie ein Reh aus dem Wald.

VENIER.
So hinter sich ...
BARON.
Den Mantel, ja.
VENIER.
Den Mantel, und trat hervor.
BARON.

Sie glühte unter meinen Küssen auf.

Sie hatte einen andern Mantel dann

von nacktem Glanz und ungreifbarem Gold.

Ihr Hals war angeschwollen und ihr Mund

gekrümmt vom Schluchzen grenzenloser Lust.

Beladen war ein jedes Augenlid

mit Küssen, jede Schulter, jede Hüfte!

Ich habe hundertmal im Arm von andern der anderen vergessen, wie durch Dunst durch ihren Leib hindurch den Perlenglanz von jenem Leib im Dunkeln schwimmen sehn und zu mir glühen durch den Dunst goldfarben ein erbsengroßes Mal an ihrer Brust –

VENIER.
Ein Mal! hier! hier?

Zeigt an den Hals.
BARON.
Wie? Hier mich dünkt.

Denkt nach.

Nein, hier.

An der Brust.

Was ficht dich an?
VENIER.
Nichts, nichts, beinahe nichts.

Geht nach rechts vorne.
Baron geht zu Le Duc nach links rückwärts.
VENIER
rechts vorne stehend.

Ich bin wahnsinnig, meine ganze Angst und Erregung ist sinnlos und ich kann sie nicht bemeistern. Er hat mich in der Oper um ihren Namen gefragt, also kennt er sie nicht. Zwar er könnte sie doch früher [515] gekannt haben und hätte nur wissen wollen, wie sie jetzt heißt. Das Muttermal! Jede zweite Frau hat eines. Und er hat ja die falsche Stelle bezeichnet. Warum fallen mir nur die Punkte auf, die meinen Verdacht bestätigen, nicht die, die ihn entkräften! Es war noch etwas,


Nachdenkend.

noch etwas sehr Schlimmes! Das mit dem Mantel, das mit dem Mantel!
BARON
zu Le Duc.
Der Brief an die Opernsängerin ist bestellt?
LE DUC.
Zu Befehl, Euer Gnaden, und es ist auch schon eine alte Frau draußen, welche die Antwort bringt.
BARON.
Wo? her mit dem Brief!
LE DUC.
Sie will nur Euer Gnaden selbst – sie wartet in der Kammer neben dem Vorsaal.
BARON.
Ich gehe sogleich.

Laut.

Zwei Spieltische! Auf jeden vier Lichter!

Zu Venier.

Du entschuldigst mich für einen Augenblick.
VENIER
geht zu Le Duc.
Wer ist dein Herr?

Will ihm Geld geben.
LE DUC
zurücktretend.

Eure Exzellenz werden wissen, daß ich die Ehre habe, dem Herrn Baron Weidenstamm aus Amsterdam zu dienen.

VENIER.

Weidenstamm! Weidenstamm! es gibt keinen Holländer auf der Welt, der ein solches Venezianisch spricht.

LE DUC.
Ich habe sagen gehört, Verwandtschaften –
VENIER.
Des Teufels Verwandtschaften!
LE DUC.

Zumindest habe ich aus dem Mund meines gnädigen Herrn selbst die wiederholte Versicherung, daß er sich seit mehr als fünfzehn Jahren niemals in Venedig aufgehalten hat.

VENIER.
Die hast du, braver Mensch? die wiederholte Versicherung?
LE DUC.
Wiederholt und ausdrücklich.
VENIER
gibt ihm Geld.

Du bist ein sehr braver Mensch und verdienst, einem so ausgezeichneten Kavalier, wie der Baron ist, attachiert zu sein.

[516]
LE DUC.
Ich küsse Euer Exzellenz die Hände.
VENIER.

Vor fünfzehn Jahren war sie ein zwölfjähriges Kind. Und dann: er spricht nie von ihrem Singen; wie hab ich solch ein Narr sein können, das zu übersehen. Er wäre tausendmal zu eitel, so etwas zu verschweigen.


Baron kommt zurück, Venier ihm freundlich entgegen.
VENIER.
Nun aber wirklich gute Nacht, und morgen
zum Frühstück, hoff ich, tust du mir die Ehre:
Casa Venier, die jüngere, drei Schritte hinter San Zaccaria.
BARON.
Wie? Gute Nacht? jetzt wär es Schlafenszeit?
Du denkst nicht dran! und ich denk nicht daran,
dich fortzulassen! Nun kommt mein Bankier,
vielmehr sein Sohn und bringt, soviel er kann,
an lustiger Gesellschaft.
VENIER.
Nun, ich kann
beinah erraten.
BARON.
Wie?
VENIER.
Die Redegonda,
die Brizzi –
BARON.
Eine andre nannte er.
VENIER.
Die Corticelli, wie?
BARON.
Mir scheint.
VENIER.
Dazu
zwei, drei Tagdiebe, einer, der Sonette
und einer, der Pasquille schreibt, der dümmste
Abbate und der zudringlichste Jude –
BARON.
Und du und ich,
dann ists die Arche Noah! Jeder Art
ein Tier. Und daß so viele Arten sind,
das macht die Welt so bunt. Wen möchtest du
entbehren? Ich den tollen Neger nicht,
der von der Riva taucht um einen Soldo
und mit den Hunden sich ums Essen beißt,
[517] und nicht den goldnen Dogen, der an uns
vorüberschwebt auf einer Purpurwolke
und einem goldnen Schiff. In tausend Masken
läuft er um mich und zupft mich am Gewand,
der Dieb, der Schlüssel stahl zu meinem Glück.

Lebhafter.

In einen Edelstein hineingebannt
ist unsres Geistes Geist, des Schicksals Schicksal.
Der hängt vielleicht zwischen den schönen Brüsten
der Redegonda, und er schläft vielleicht
bei Zwiebeln in der Tasche eines Juden,
was weiß ich! nicht?
VENIER.
Du bist sehr aufgeräumt.
BARON
tritt nahe zu ihm.
Sei nicht zu stolz darauf, daß du nicht Dreißig bist!
Was später kommt, ist auch nicht arm. Rückkehren
und nicht vergessen sein: der Mund wie Rosen,
die offnen Arme da, hineinzufliegen!
Als wär man einen Tag nur fern gewesen –
und den Ulysses grüßte kaum sein Hund!

Immer fröhlicher.

Ich will hier Feste geben. Schaff mir Löwen,

Zu Le Duc.

die Blumensträuße aus den Rachen werfen!
Vergoldete Delphine stell vors Tor,
die roten Wein ins grüne Wasser spein!
Nicht drei, nicht fünf, zehn Diener nimm mir auf
und schaff Livreen. An den Treppen sollen
drei Gondeln hängen voller Musikanten
in meinen Farben.
VENIER
lächelnd.
Ihr beschämt uns alle.
BARON.
Wie? schon zuviel? zuviel? noch nicht genug!
Ich will den Campanile um und um
in Rosen und Narzissen wickeln. Droben
auf seiner höchsten Spitze sollen Flammen
von Sandelholz genährt mit Rosenöl
den Leib der Nacht mit Riesenarmen fassen.
[518] Ich mach aus dem Kanal ein fließend Feuer,
streu so viel Blumen aus, daß alle Tauben
betäubt am Boden flattern, so viel Fackeln,
daß sich die Fische angstvoll in den Grund
des Meeres bohren, daß Europa sich
mit ihren nackten Nymphen aufgescheucht
in einem dunkleren Gemach versteckt
und daß ihr Stier geblendet laut aufbrüllt!
Mach Dichterträume wahr, stampf aus dem Grab
den Veronese und den Aretin,
spann Greife vor, bau eine Pyramide
aus Leibern junger Mädchen, welche singen!
Die Pferde von Sankt Markus sollen wiehern
und ihre ehrnen Nüstern blähn vor Lust!
Die oben liegen in den bleiernen Kammern
und ihre Nägel bohren in die Wand,
die sollen innehalten und schon meinen,
der Jüngste Tag ist da, und daß die Engel
mit rosenen Händen und dem wilden Duft
der Schwingen niederstürzend jetzt das Dach
von Blei hinweg, herein den Himmel reißen!

Plötzlich innehaltend.

St! St! hör ich nicht singen? Kommts nicht näher?
Merk auf! Hörst du nicht eine süße Stimme?
Hierher! Noch nichts? Nein, früher war es stärker!
Du hörst gar nichts! So ists in meinem Blut.
VENIER
ist plötzlich wieder aufgestanden und hat sein Glas so heftig auf den kleinen Tisch gesetzt, daß es klirrend zerbricht.
Hier ist ein Glas entzwei. Verzeihen Sie.
Es gibt dergleichen Tage, wo ein tolles
und widerwärtiges Geschick den Kopf,
von Schlangenhaaren wimmelnd, uns entgegen
aus jeder Türe reckt und unterm Tisch
hervorkriecht, dran wir sitzen! Flecken hat
die Sonne selbst, am Mond hängt weißer Aussatz,
und unser ganzes Innre geht in Fetzen,
darein sich Diebe wickeln.
[519]
BARON.
Es ist ein Alp.
VENIER.
Beinah, nur schläft man nicht!
BARON.
Komm, gehn wir auf und ab, die Luft tut wohl.
O hättest du gelernt wie ich zu leben,
dir wäre wohl.
Ich achte diese Welt nach ihrem Wert,
ein Ding, auf das ich mich mit sieben Sinnen
so lange werfen soll, als Tag und Nächte
mich wie ein ächzend Fahrzeug noch ertragen.
Leben! Gefangenliegen, schon den Tritt
des Henkers schlürfen hörn im Morgengrauen
und sich zusammenziehen wie ein Igel,
gesträubt vor Angst und starrend noch von Leben!
Dann wieder frei sein! atmen! wie ein Schwamm
die Welt einsaugen, über Berge hin!
Die Städte drunten, funkelnd wie die Augen!
Die Segel draußen, vollgebläht wie Brüste!
Die weißen Arme! Die von Schluchzen dunklen
verführten Kehlen! Dann die Herzoginnen
im Spitzenbette weinen lassen und
den dumpfen Weg zur Magd, du glaubst mir nicht?
VENIER.
Wie kannst du einen Blick so sehr mißdeuten?
BARON.
Ich sage dir, es gibt nichts Lustigres
als hier im Zimmer auf und nieder gehn,
sich Wein einschenken, essen, schlafen, küssen
und draußen an der Tür den wilden Atem
von einem gehen hören oder einer,
die lauert und in der geballten Faust
den Tod hält, deinen oder ihren Tod!
Dein Leben, wie des kalydonischen Königs
an ein Scheit Holz, geknüpft an eine Kerze,
die wo vor einem höchst verschwiegnen Spiegel
in sich verglühend vor Erwartung flackert –
und das, worauf der Widerschein der Fackel,
[520] indes du fährst zur Nacht, mit Lust umhertanzt,
vielleicht dein nasses Grab! Hoho, sie kommen!

Es treten auf: Sassi, Marfisa Corticelli mit ihrer Mutter, der Abbate, zuletzt Salaino.
SASSI.
Wie gehts, Mynheer?
BARON.
Wie gehts, mein lieber Sassi?
Spielt Ihr den Hausherrn, mich laßt Diener sein
und Euren Gästen meine Dienste weihn.
SASSI
die Marfisa an der Hand vor ihn führend.
Marfisa Corticelli, die Camargo
des Augenblicks, eine, nein die Tänzerin Venedigs!
BARON.
Marfisa! Euren Namen auszusprechen
heißt Duft einatmen einer seltsam süßen
und wilden Frucht; erlaubt den Lippen, sie zu brechen.

Küßt sie.
DIE MUTTER.
Was lobt Ihr ihre Lippen? Ihre Lippen
sind so wie andrer Mädchen. Mit der Spitze
der Füße trillert sie, und in den Kehlen
der Kniee hat sie hübschre Melodien
als andre, wenn sie sich den Hals ausschrein.

Baron schaut verwundert.
DIE MUTTER
knixt.
Ich bin die Mutter.
BARON
mit Verbeugung.
Lamia, die Mutter
der jüngsten Grazie!
SASSI
vorstellend.
Der Abbate Gamba,
der Plinius, Cicero und Aretin
dieses Jahrhunderts.
BARON.
Viel in einem, viel!
Hier noch ein Freund?

Auf Salaino.
DIE CORTICELLI.
O dies ist kaum ein Mensch,
gebt auf ihn nicht mehr acht als wie auf einen Schatten!
BARON.
So ist es deiner?
[521]
DIE CORTICELLI.
Ja, ein Tollgewordner!
mit gräßlichen Gebärden hinter mir,
so wie der plumpe Faun die Nymphe ängstigt.
SASSI.
Dies ist ein junger Musiker, Salaino,
der für das übermütige Ding zuviel
Seufzer verschwendet –
DIE MUTTER.
Aber sonst auch nichts!
DIE CORTICELLI.
Laß ihn doch, Mutter. Und ich bitt euch alle,
tut so wie ich und gebt auf ihn nicht acht.
BARON.
Hier der Patrizier Lorenzo Venier,
seit wenig Stunden meinem Herzen nah,
doch teuer wie ein alterprobter Freund.

Venier verbeugt sich unmerklich, sieht alle durch ein Lorgnon an. Le Duc mit Erfrischungen von
links. Gamba zu Venier. Sassi, Marfisa, Mutter zu Le Duc. Baron rechts rückwärts bei Salaino.
BARON
zu Salaino.
Wie, junger Mensch, du hast nichts und du willst
dies weiter tragen? Armut, dies Gefängnis,
aus dem man nicht entspringt, weils mit uns läuft.
Den Hohn und Speichel einer solchen Vettel!
Du hast nichts! dann hat jeder dicke Schuft
von Seifensieder ja dein Haus, dein Bett
und küßt deine Geliebte, spürst dus nicht so?
Vielmehr er hat ein Recht auf ein Stück Fleisch
aus deiner Brust und darf das Messer noch
an deinem Haar abputzen! spürst dus so!

Greift ihm dabei ins Haar.

Wir werden spielen, wart, wir werden spielen,
und hier ist für den Anfang!

Gibt ihm Geld.

Nägel kauen,
an einem schmutzigen Kanal die Lacke
von Stockfisch atmen und auf feuchtem Stroh
von weißen Knien mit goldnem Strumpfband träumen,
bis das Geheul der Katzen auf den Dächern
dem Traum ein Ende macht. Verfluchtes Leben!
[522]
SALAINO
mit erstickter Stimme, den Blick zur Seite.
Ich wäre grad so gern der alte Grabstein
am Kirchentor, auf den die Weiber treten,
die halbverfaulte Alge im Kanal,
der Hund von einem Blinden! Manchen Tag,
mein ich, mich schleift ein Pferd an seinem Schweif,
daß ich von unten mit verdrehten Augen
die ganze Welt ansehen muß, so starr
und so verhaßt ist mir des Lebens Anblick.
Ich kann den Fetzen goldgestickten Stoffs
nicht anschaun, den ein Heiliger von Stein
um seinen toten Leib hat, wie viel minder
ertrag ichs, wenn ich die Lebendigen seh,
in lauter Lust gewickelt wie ein Wurm
im Granatapfel.
BARON.
Hast du keine Schwester?
Zur Kupplerin mit ihr! Was, keinen Bruder,
an den Kapellmeister, der Bubenstimmen
für Engelschöre braucht, ihn zu verkaufen?
Auch nicht? So ging ich und verhandelte
das Leben eines Menschen, den ich nie
gesehn, und liehe die Pistole mir
als einen Vorschuß von der Summe aus,
die ich mit ihr verdienen wollte. Was?
Genug davon. Auf später.

Geht zu den anderen hinüber.
BARON
zu der Gruppe.
Wir spielen gleich. Seid wie zu Hause, bitt ich.

Führt Marfisa am Arm nach vorne.

Was kann ich tun, Marfisa, um dir nicht
ganz zu mißfallen?
MARFISA.
Viel, o eine Menge.

Baron küßt sie auf den Arm.
MARFISA.
Nicht das. Wenn du mich gern hast –
BARON.
Nun?
MARFISA.
So gehst du
und mietest Leute – oh, sie tuns um wenig –
[523] wenn du mich gern hast, so mißfällt dir doch,
wer mich mißhandelt, unterdrückt, erniedrigt –
BARON.
Mißfällt? Ich haß ihn wie den Pfahl im Fleisch.
MARFISA.
Und wenn du hassest, läßt du doch nicht ungestraft?
BARON.
Des Schurken Namen sag, ich find ihn.
MARFISA
klatscht in die Hände.
Du tust es mir?
BARON.
Den Namen!
MARFISA.
Costa.
BARON.
Wie?
MARFISA.
Vicenzo Costa,
der Geck, das ekelhafte Ungeheuer,
der Pächter des Theaters, der die Brizzi
das pas de deux, das mir versprochene,
das große, tanzen läßt. Er geht am Abend
allein nach Haus, ich weiß. Bei San Moisé.
Zwei Männer tuns leicht. Du tusts! Du tusts!
Du bist ein großer Herr, und fremd, hast Diener –
BARON.
Und wirds dich freuen?
MARFISA.
Wie nichts auf der Welt!
BARON.
Und glaubst dann –
MARFISA.
Was?

Baron will sie küssen.
MARFISA.
Vielleicht! vielleicht auch nicht!

Reißt sich los, läuft nach rückwärts.
BARON
will ihr nach, auf einmal steht die Mutter vor ihm.

Liebe Frau, Ihre Tochter ist das entzückendste kleine Ding, das ich je berührt habe – mit der Fingerspitze. Sie ist ein so von Leben starrendes wildes funkelndes Wesen wie ein kleiner Turmfalke.

MUTTER.
Sie haben sie nur von ihrer unbedeutendsten Seite kennengelernt.
[524]
BARON.

Ganz richtig, ich brenne darauf, sie besser kennenzulernen. Ich sehe, Sie versteht mich, Sie versteht mich.

MUTTER.
Ich hoffe, Euer Gnaden werden öfter das Ballet mit Ihrem Besuch beehren.
BARON.

Sie versteht mich nicht. Ich gedenke mich hier nur wenige Tage aufzuhalten und möchte keine Gelegenheit versäumen, Ihre Tochter kennenzulernen. Ich werde morgen bei ihr vorsprechen.

MUTTER.

Oh, das ist ganz unmöglich, gnädiger Herr, unsere Appartements sind absolut nicht präsentabel. Es ist absolut unmöglich.

BARON.
Was heißt unmöglich?

Gibt ihr Geld.

Sie wird trachten, bis morgen die Appartements präsentabel zu gestalten.
MUTTER.

Oh, es ist unmöglich, meine Tochter ist nicht im Besitz eines konvenablen Negligé, um so distinguierte Gäste zu empfangen.

BARON.
Ich werde die Ehre haben, ihr durch meine Gondel ein sehr konvenables Negligé zuzuschicken.
MUTTER.
Ich weiß nicht, ob Euer Gnaden auswendig die Maße –
BARON.

Überlassen Sie das meinen Augen, gute Frau. Ich habe hier drinnen Maße genug, zehntausend verschiedene Frauen aus zehntausend blinden Marmorblöcken herauszumeißeln, aber ich habe nicht die Laune, mich mit totem Material abzugeben.


Redegonda tritt auf, ihr Bruder, als Lakai, hinter ihr.
REDEGONDA.
Geh vor und meld mich an!
SASSI
ihr entgegen, mit einer großen Handbewegung.
Die Redegonda!
BARON
ihr entgegen.
So ruft, wer am Verdeck zuerst erwacht:
die Sonne! und die andern rufens nach.
Ich hört Euch diesen Abend, Mademoiselle,
und neidete den körperlosen Tönen
den Weg auf Euren Lippen. Muß ich nun
[525] ein niedrig Band beneiden, schlechte Spitzen,
die diesen Hals berühren? Welcher Gott
war dies, der starb vor Sehnsucht nach dem Anblick
des wundervollsten Nackens? Seinen Namen
hab ich vergessen, doch ich teile, fürcht ich,
sein Schicksal, wenn Ihr geht.
REDEGONDA
sich fächelnd.
Sehr schön gesagt.
BARON
indes Le Duc Erfrischungen serviert.
Erlaubt Ihr?

Redegonda trinkt.
BARON.
Dieses Glas ist nun so wenig
mehr feil, da es an Euren Lippen lag,
als eine von den Kammern meines Herzens!
REDEGONDA.
O solche Gläser haben wir noch viele
zu Haus! Nicht wahr, Achilles? Wenn Ihr wollt,
könnt Ihr sie alle kaufen.

Lacht.
BARON.
Ihr spielt?
REDEGONDA.
Tut Ihrs für mich?
BARON.
Ich bin zu glücklich,
laßt Ihr mich nur den letzten Ruderer sein
an Eures Glückes Schiff.
REDEGONDA.
Was heißt das?
ACHILLES
leise.
Geh!

Baron, mit Le Duc, ist beschäftigt, Sassi, Marfisa, die Mutter, den Abbate an den Spieltisch links rückwärts zu bringen.
REDEGONDA
vorne zu Venier.
Ah, Herr Venier!

Venier grüßt, legt die Hand auf den Mund.
ACHILLES
zu Redegonda.
Er winkt Dir, du sollst schweigen.
REDEGONDA.
Wovon?
ACHILLES.
Nun, wahrscheinlich von seiner Frau.
REDEGONDA.
Ach so! Warum?
[526]
ACHILLES
immer halblaut.
Was weiß ich? Schweig!

Redegonda und Achilles ungefähr in der Mitte, Venier geht nach links vorne, Baron kommt von rückwärts zu Redegonda zurück, die durch ihr Lorgnon die Gesellschaft mustert.
REDEGONDA.
Wie? Die ist da? Die Tänzerin! Ich bin
nur gern beim Spiel mit meinesgleichen.
BARON.
Göttin
an Schönheit, müßtet Ihr dann Euren Spieltisch
aufschlagen lassen im Olymp.
REDEGONDA.
Wo ist das?

Baron führt sie zum Spieltisch, winkt Salaino herbei, der die ganze Zeit, im Hintergrund stehend, mit den Blicken der Marfisa folgte. Ein fremder älterer Mann tritt in die Türe, mit einer schüchternen Verbeugung, den Dreispitz unter dem Arm. Niemand bemerkt ihn.
VENIER
links vorne allein.

Ich bin hier lächerlich und kann nicht fort. Und doch, es war keine Täuschung: als dieser Mensch sich auf den Platz neben meiner Loge setzte und ihr Blick, der mich suchte, auf ihn fiel, wurde sie unter der Schminke blaß, und der Ton, der schon auf ihrer Lippe schwebte, tauchte wieder unter wie ein erschreckter Wasservogel, und von dem Augenblick an sang nur mehr ihre Kunst, nicht mehr ihre Seele. Soll ich mich in solchen Dingen irren, ich, der ich aus ihren Schritten auf dem Teppich, aus einem Nichts, aus dem Schlagen ihrer Augenlieder erraten kann, woran sie denkt? Und doch kann ich mich irren und diese ganze Qual kann um nichts sein! Hier ist niemand, den ich fragen könnte; die Redegonda ist zu dumm, Sassi zu boshaft. Und doch war mir, als hätte das ganze Haus gefühlt, daß in ihr etwas Ungeheures vorgegangen war. Und in ihrem Spiel war etwas wie Nachtwandeln, sie ging wie unter einem Schatten. Wer ist dieser Mensch? Mir ist, ich dürfte ihn nicht aus den Augen lassen, als wüßte ich, er ist auf geheimnisvolle Weise bestellt, in mein Leben hineinzugreifen.

[527] Wo hab ich das gehört: Ich seh den Dieb,

der zur geheimsten Kammer meines Glücks

den Schlüssel stahl: er geht um mich herum,

doch kann ich ihn nicht fassen: hab ich das

geträumt? und wann?

SASSI
vorkommend, zu Venier.
Wie, kommt Ihr nicht zum Spiel?
VENIER.
Sassi, wer ist der Mensch?
SASSI.
Ich glaub, nicht viel
Nachdenkens wert. Ein Abenteurer, glaub ich,
doch lustigre Gesellschaft als die Puppen,
von denen man Großvater und Großmutter
mit Namen nennen kann.
VENIER.
Wie kommst du zu ihm?
SASSI.
Ich? vielmehr er zu mir: mit einem Brief,
der auf viertausend Golddublonen lautet.
VENIER.
Und ausgestellt?
SASSI.
Von Arnstein Söhnen, Wien.
BARON
geht rückwärts von Marfisas Seite weg, um den Tisch herum; er ruft nach vorne.
Ihr langweilt euch!
SASSI.
Im Gegenteil, Mynheer!

Baron rückwärts stehend, neben Salaino, dem er spielen zusieht.
SASSI
nach rückwärts gehend.
Ich nehm die Bank.
BARON.
Ich bitte, Sassi, nehmt sie.
DER ABBATE
geht zu Venier nach vorne, sich vorstellend.
Abbate Gamba.
VENIER.
Lorenzo Venier, wir sehen
uns nicht das erste Mal.
ABBATE.
Ihr seid sehr gütig,
Euch zu erinnern.

Leises Gespräch, Abbate zeigt seine Uhr; beide gehen nach rechts vorne.
[528] Der alte Mann ist unbemerkt an den Tisch gegangen, steht hinter der Kerze und pointiert mit.
BARON
über Salainos Schultern schauend.
Nimm rot und bleib!

Nach einer Pause.

Es wird! es wächst! es schwillt!
Schon bücken sich zwei, drei vor dir, indes du
aus deiner Gondel steigst, schon brennt ein Licht
auf einer Treppe, schon für dich bewegt sich
ein Vorhang, und ein Tisch mit schönen Speisen
steht da, für zweie aufgedeckt, die Magd
schielt nur nach deiner Hand, um zu verschwinden.
ABBATE
vorne, zu Venier.
Verlassen Sie sich drauf, ich faß ihn plötzlich
und drück ihn an die Wand.
VENIER.
Wir werden sehn.
BARON
rückwärts, zu Salaino.
Nun gut und gut! Nun liegt schon mehr und mehr
gebundne Beute da, mit Zobelpelz
und goldenen Geweben halbverdeckt!
Dies ist die Larve schon, der Engerling
von einem großen Herrn! Jetzt sind schon hundert,
die um die Wette kriechen! Die Illustrissima,
die hochmütige schöne Bragadin,
dreht schon den Kopf. Nun aus dem Dunkel vor!
ABBATE
zu Venier.
Dies sind die Reden eines Taschenspielers
und eines armen Teufels, der groß prahlt.
BARON
zu ihnen vorkommend.
Ihr lacht! Den Teufel, ja, den spiel ich gern;
den meint Ihr doch, Abbate, der den großen
Goldklumpen nachts ins Netz des armen Fischers warf?
Nein, sagt mir, Freunde wer ist dieser Mensch?

Er zeigt auf den fremden alten Mann am Spieltisch.

Kennt ihr ihn nicht?
ABBATE.
Ich nicht, fragt Sassi.
BARON.
Der kennt ihn nicht, er hat schon mich gefragt.

[529] Der alte Mann ist inzwischen vom Spieltisch weggegangen und verschwindet verstohlen durch die Tür im Hintergrunde.

Nun geht er fort. Bei Gott, mir tut der Mensch
bis in die Seele leid. Er suchte immer lang
und legte noch ein Goldstück, jedes schien
zu zittern, wie er selbst, auf eine Karte
und immer gegen uns. Und jedesmal
zerschellte sein elendes Schifflein kläglich
an jenem dieses Burschen, dessen Segel
vom Wind des Glücks wild aufgeblasen waren.

Er geht ans Fenster, sieht hinab, geht dann nach links an die Tür, winkt Le Duc zu sich.
ABBATE
zu Venier.
Es gibt dergleichen, die wie Raben Aas
die Häuser wittern, wo gespielt wird abends
und mit den Fledermäusen und Nachtfaltern
auf einmal da sind.
VENIER.
Der sah traurig aus.
BARON
zu Le Duc.
Lauf diesem Menschen nach im braunen Rock,
er geht die zweite Brücke, lauf und gib ihm
soviel. Sag nicht, von wem. Steh ihm nicht Rede.

Le Duc ab.
BARON
bleibt einen Moment stehen, blickt ins Leere.
Dies war vielleicht mein Vater.
Zumindest hab ich meinen nie gesehn
und möchte keinem von dem Alter wehtun
aus Angst, es wär gerade der. Es gibt
Zufälle von der Art. Mir träumts auch öfter.
Gott weiß, der tolle Krüppel in dem Dorf,
wo ich heut durchkam und vor zwanzig Jahren
auch einmal schlief, der war vielleicht mein Sohn
und fletschte grad auf mich so wild die Zähne.

Er will zum Spieltisch zurückgehen; Abbate hält ihn auf.
ABBATE.
Erlaubt, reizender Hausherr, einen Blick!

Führt ihn unter ein Licht, betrachtet ihn sehr aufmerksam.

[530] Wir sehn uns nicht das erste Mal! Allein
mich dünkt, Ihr habt Euch wunderbar verändert!

Verdeckt mit seiner Hand einen Teil vom Gesicht des andern.
BARON
betrachtet ihn ebenso aufmerksam, wie eine Statue, von rechts, dann von links, dann von unten.
Wahrhaftig nicht das erste Mal! Wo aber
kanns nur gewesen sein?
ABBATE
triumphierend.
Das frage ich!
BARON.
Doch nicht im Haag? an jenem blutigen Abend? ...
Ich hielt den Kopf des sterbenden Oranien
in meinem Arm, und ringsum drängte sich
unheimliches Gesindel durch die Fackeln:
da war auch einer da, ein alter Jude,
zudringlicher als andre, aber wie,
der? soll ich meinen Augen traun, wart Ihr?

Abbate tritt zurück, beleidigt.
BARON
läßt ihn nicht los.
Nein, nein, jetzt hab ichs! In Damaskus dort,
am Hof Yussuf Alis, der Oberste,
wie sag ich schnell, der Stummen? Wieder nicht!

Abbate tritt noch einen Schritt zurück.
BARON.
Und doch gesehn, bestimmt gesehn! In Rom
bei Kardinal Albani –
ABBATE.
Das kann sein.
BARON.
Ihr wart der Monsignore,

Fängt zu lachen an.

dem die Damen –

Sagt ihm etwas ins Ohr.

und dem der Kardinal dann durch die Diener –

Sagt ihm noch etwas ins Ohr, faßt ihn bei beiden Händen, schüttelt sie kräftig.

Wie!

Lacht.

Das wart Ihr! und habt mich gleich erkannt!
Ich wars, der Euch ...

Ihm ins Ohr.
[531]
ABBATE
wütend.
Niemals und nimmermehr
war ich das, Herr, ich habe mich geirrt:
ich hab Euch nie gesehn.
BARON.
Wie schade, schade!

Zu Venier.

Und du verachtest ganz das kleine Spiel?
SALAINO
am Spieltisch, laut.
Ich hab die Bank, wer legt dagegen?
VENIER
nach rückwärts gehend.
Ich!
REDEGONDA
geht vom Spieltisch nach links vorne, Achilles aufwartend hinter ihr.
Richt mir die Schnalle am Schuh, sie ist verschoben.
Was willst du denn, du Garstiger, daß du
mich in den Arm so kneifst; ich hätt beinah
laut aufgeschrien.
ACHILLES.
Was flüstert er mit dir?
REDEGONDA.
Er will, daß ich
heut abends bei ihm bleib, wenn alle fortgehn.
ACHILLES.
Und?
REDEGONDA.
Er mißfällt mir nicht. Er ist auch artig
mit Frauen. Du, ich glaub, er ist ein Fürst
und reist mit falschem Namen.
ACHILLES.
Hat er dir
schon was geschenkt?
REDEGONDA.
Noch nicht, allein ich seh doch,
daß er freigebig ist.
ACHILLES.
Sag ihm vor allem,
du willst, er soll mich zum Bedienten nehmen.
Dann mach ich alles.
REDEGONDA.
Doch wie fang ichs an?
ACHILLES.
Ganz frech.
REDEGONDA.
Sag ich, daß du mein Bruder bist?
ACHILLES.
Nichts Dümmeres! kein Wort!
[532]
REDEGONDA.
Allein, mein Graf –
ACHILLES.
Was braucht der zu erfahren?
REDEGONDA.
Glaubst, es geht?

Lacht.

O weh, die Corticelli, die ist boshaft,
vor ihrem Mundwerk hab ich solche Angst
die bringts heraus! merk dir, ich habs gesagt!
BARON
zu ihnen tretend.
Wie, Reizendste? ich morde diesen Burschen
vor Neid.
REDEGONDA.
So nehmt ihn lieber, statt so schwere Schuld
auf Euch zu laden, schnell in Eure Dienste,
dann dient er Euch, und nichts gibts zu beneiden.
BARON.
Ihr wollt mir Euren Diener überlassen?
REDEGONDA.
Ihr sagtet doch, Ihr wollt die Gläser kaufen,
daraus ich trank, nun hier ist ja der Mensch,
der täglich mir die Haare lockt und brennt,
das ist ja noch viel mehr!
BARON.
Beinah so viel
als eine Eurer Locken, also mehr
als Zypern und Brabant!
REDEGONDA.
Er ist nicht dumm, und wär er ordentlicher,
so hätt ers leicht zu Besserm bringen können:
er hat Geschwister, die was andres sind.
ACHILLES
schnell.
Wir sind aus einer Stadt und Nachbarskinder.
BARON.
Sooft sie kommt, bedienst du sie allein,
sonst wirst du ihres Dieners Diener sein.

Bei der Tür im Hintergrund ist der Juwelier hereingekommen und steht lauernd. Auf ein Zeichen
von Achilles kommt er schnell nach vorne; Stellung von links nach rechts: Achilles, Redegonda, Baron, Juwelier. Juwelier hält dem Baron Perlenohrgehänge hin.
[533]
BARON.
Tut der Rialto Marmorkiefern auf
und speit den alten Tubal uns hervor?
JUWELIER.

Ich seh, der Herr kennt mich. Das sind ein Paar Ohrgehänge, wie der Herr keine zweiten solche findet in Venedig. Es hat eine Illustrissima sterben müssen in großer Verlegenheit, damit ich diese Ohrringe in die Hand bekomme und sie kann anbieten dem Herrn um einen Preis zum Lachen.

BARON
die Ohrgehänge in der Hand.
O Perlen, Perlen! nichts von Steinen! – Leben!
Sie halten Leben wie ein Augenstern:
die Sterne droben, diese goldnen Tropfen,
sind jeder, sagt man, eine ganze Welt:
so gleichen die, nur von weit weit gesehn,
dem Leib von Überirdisch-Badenden.
Vielleicht sind Kinder,
die einst der Mond mit Meeresnymphen hatte,
hineingedrückt, sie frieren in der Luft:
hier ist ihr Platz, hier saugen sie sich wach!

Hält sie an den Hals der Redegonda.
JUWELIER.
Ich seh, der Herr versteht sich auf Perlen.

Geht eilig ab.
BARON.
Halt, und dein Preis!
JUWELIER
an der Türe.
Ich seh, der Herr versteht.
Ich kenn das Haus. Morgen ist auch ein Tag.
BARON.
Ganz recht! ich kann sie ja nicht überzahlen!

Mit einem Blick auf die Redegonda.
REDEGONDA.
Wie meint Ihr das?
BARON.
Schlag ich für nichts dies an,
daß du sie trägst?

Redegonda gibt ihm die Hand zum Küssen.
BARON.
Die Hand! und wann den Mund? o heute, heute,
[534] unnützes Warten ist nichts als der Wurm
in einer reifen Frucht. O, Warten ist
die Hölle!
REDEGONDA.
Wenns dies boshafte Geschöpf,
die Corticelli weiß, bin ich des Todes!

Zu Achilles.

Fällt dir nichts ein?
ACHILLES.
Wir gehn zum Schein mit allen andern fort
und kehren um, sobald uns eine Ecke
verdeckt –
BARON.
Ein braver Bursch!
REDEGONDA.
Wenn sie uns sehn,
so weißt du dann, ich habs vorausgesagt.
BARON.
So willst du nicht?
REDEGONDA.
O ja, nur hab ich Furcht,
die Menschen sind so neidisch, wenn man schön ist
und nicht gemein wie sie.

Rückwärts treten alle vom Spieltisch weg, außer der Mutter, die noch ein Glas austrinkt. Sassi, Venier, der Abbate gehen nach vorne, Marfisa und Salaino nach rechts. Achilles nimmt sogleich eine andere Haltung an.
BARON.
Wie? Brecht ihr auf?

Salaino tritt ganz dicht zu Merfisa mit glühenden Augen.
MARFISA
kokett.
Und was?
SALAINO.
Und dies: ich bin verliebt in dich, verliebt,
verliebter als Narzissus in sich selber:
er fand im Wasser sich, ich find dein Bild
bis in den flüssigen Spiegel der Musik –
MARFISA.
Nichts Neues sonst?
SALAINO.
Und dies: ich reiß mein Selbst
von diesem Traum, um dens wie Efeu rankt,
und müßt ich alle Nerven ihm zerreißen.
[535]
MARFISA.
Wie schade!

Halb von ihm weggehend.
SALAINO.
Wie?
MARFISA.
Ich hörte nur »zerreißen«
und dachte an das Kleid.
SALAINO.
An welches Kleid?
MARFISA.
Du hättest mir doch eins gekauft –
SALAINO.
Ich dir?
MARFISA.
Wenn ich mit dir gegangen wäre –
SALAINO.
Du?
MARFISA.
Mit dir? Ich hätt es angezogen und
wär vor dem Spiegel auf und ab gegangen
und hätt auf dich gewartet, du indes –
SALAINO.
Nun, ich –
MARFISA.
Du hättest nicht getan –
SALAINO.
Marfisa!
MARFISA.
Du hättest doch getan!
SALAINO.
Was, was getan?
MARFISA.
Du weißt ja doch, wer mich gekränkt hat –
SALAINO.
Wie?
Dies zu versprechen ist zu häßlich.
MARFISA.
Ja.
Nicht reden, mit den Augen nur versprechen!
SALAINO.
Da. Aber tust dus nur deswegen?
MARFISA.
Still!
Still jetzt! Geh mir nur ruhig nach! gib acht!
Ganz still, ganz still, sonst macht die Mutter Lärm.

Sie geht ganz unbefangen einige Schritte nach vorne, dann, den Blick auf die Mutter geheftet, langsam nach rückwärts, wie in einem Ballett, zur Tür hinaus. Salaino folgt ihr schnell. Die Mutter[536] bemerkt ihn, läuft den beiden nach. Sassi kehrt sich in diesem Augenblick um, klatscht in die Hände. Alle lachen.
REDEGONDA.
Was das für Menschen sind!
ABBATE.
Die sind schon fort.
Wir folgen ihrem Beispiel, wenn auch nicht
so wortlos und so eilig.

Verbeugt sich.
BARON
verbeugt sich.
Abbate!
VENIER.
Ich seh dich morgen, schnellerworbner Freund.
REDEGONDA
zu Achilles.
Geh vor und leuchte!
BARON.
Mademoiselle!
SASSI.
Ich finde
nicht Worte ...
BARON.
Sie beschämen mich!

Noch winkend.

Abbate!

Alle ab. Der Baron bleibt allein; tritt ans Fenster.
Pause.
Le Duc tritt wieder auf mit einem Brief.
BARON.
Von wem?
LE DUC.
Die gleiche alte Frau,
Die schon vor einer Stunde –
BARON.
Von Vittoria!

Erbricht den Brief, liest.
LE DUC.
Antwort?
BARON.
Ist keine.

Geht auf und ab.

Wie! sie will hierher!
So steigt von links und rechts aus dieser Nacht
hier Gegenwart und hier Vergangenheit
empor, jedwede eine schöne Nymphe.
Und Zufall tanzt, der übermütige Gott,
wie ein betrunkner Stern in dunkler Luft
und streut Verwirrung! Doch ich nehms auf mich!
Und ficht er aus dem Dunkel – ich pariere!
[537]
REDEGONDA
tritt lustig und atemlos auf.
Versteck mich! schnell! ein Mann ist hinter mir!
Ich fürcht, es ist der Graf! wenn der mich findet,
der mordet dich und mich. Ich habs gewußt!
Ich habs vorausgesagt! ich habs gesagt!
BARON
führt sie durch die kleine Tür links vorne.
Nur Mut! nur still! hier steh ich, du bist sicher!

Venier tritt ein, hastig und erregt. Er ist sehr blaß. Hinter ihm Le Duc, der dem Baron Zeichen macht, daß noch eine Person draußen im Vorzimmer ist.
Baron zeigt ihm, er solle sie in das Zimmer rechts rückwärts führen.
Le Duc schließt die Tür in dieses Zimmer. Indessen
schlägt es Mitternacht.
BARON
halb für sich.
Wie! mehr Verwirrung! Folgen sie einander
wie Puppen an der Turmuhr, weil es schlägt?
VENIER
ist an der Tür einen Augenblick unschlüssig stehengeblieben, kommt jetzt rasch auf ihn zu.

Herr Holländer! ich tue hier ein Ding, das Ihr aufnehmen dürft, ganz wie Ihr wollt und wofür Ihr später jede Genugtuung haben sollt. Umstände nötigen mich, Argumente, die sich um meinen Hals legen wie der Strick des Henkers.


Hält inne.
Baron zuckt die Achseln.
VENIER.

Wenn das der Fall ist, was ich befürchte, so steht vor Euch ein Mensch, an dem das Schicksal einen unfaßbaren Diebstahl begangen hat, einen Diebstahl, gegen den alle Diebestaten zu nichts werden seit jener ersten berühmten, als die zwei in die schlafende Stadt krochen, das Heiligtum vom Altar stahlen und den von einer langen Reise ermüdeten Fremdlingen im ersten Schlaf die Kehlen abschnitten ... ein Diebstahl, der dem Bestohlenen alles wegnimmt, alles was war, was ist, was sein wird, und das Werkzeug dieses Diebstahls seid ihr.

BARON.

Messer Lorenzo Venier, ich bin um zwanzig Jahre älter als du, und du bist mein Gast. Das macht die Musik zu meiner Antwort. Hör auf dies:

[538] Die Dame,

die sich bei mir befindet, ist dir nichts;

ich hab dich nicht gefragt, ob du vermählt bist,

doch ist es weder deine Frau, Geliebte,

noch sonst dir nah, ja, der Beachtung wert.

VENIER.
Wie weißt du das? Ich hab mich so verstrickt
durch eine kleine Falschheit, daß ich nun,
wo Scham und Zweifel mir den Mund verschließen,
nichts andres weiß, als diesen ganzen Knoten
entzweizuhaun, bevor er mich erwürgt.
BARON.
Die hier drin steht, der steht dein Ernst so fern
wie finstre Waffen einem Maskenkleid.
VENIER.
Du weißt nicht, wer mir nahsteht, wenn sie dirs
nicht mehr verriet als ich, und sie hat zehnmal
mehr Grund als ich zu diesem Maskenspiel.
BARON.
Wär hier ein Ding, das für mich reden könnte,
ein Zipfel ihres Mantels! Könnte dies
ihr blondes Haar, das hier am Vorhang hängt,
goldfarbige Lippen auftun, diesen Argwohn
zu scheuchen.
LORENZO.
Wie, ein blondes Haar?
BARON.
Der Vorhang
entriß es ihr.
LORENZO.
Der Vorhang!

Er besieht es.

Dunkles Gold
wie die vom Weihrauch dunklen innern Kuppeln
der Markuskirche! welchen blöden Narren
macht Phantasie aus mir –
Was soll ich sagen? Wenn du morgen kommst,
sollst du sie sehen. Kenntest du mich besser,
so wüßtest du, ich bin nicht immer so
und nähmst es für den Krampf, der eine Kerze
zuweilen packt, daß sich ihr ganzes Licht
zusammenzieht und sie beinah erlischt.
Doch so ...
[539]
BARON.
Du bist so edel von Natur,
sehr wohl vergleichst du dich mit einem Licht,
das manches Mal, bedrängt vom finstern Hauch
des Lebens, flackert. Wahrhaft edle Art
hat dies vom Feuer, daß ihrs nicht gelingt,
sich zu verstecken, wickelt sie sich auch
in Finsternis, verkriecht sich in den Klüften
des Kaukasus in eine Schäferhütte,
sie glüht hindurch. Wer hinkommt, beugt die Knie!
LORENZO.
Nun laß mich gehn. So machst du mich dem Feuer
zu ähnlich. Meine Wangen brennen schon.
BARON.
Noch nicht. Du hast noch etwas gutzumachen.
LORENZO.
Wie kann ichs?
BARON.
Daß du dieses Spielzeug annimmst
und trägst.

Gibt ihm eine kleine Dose.
LORENZO.
Gold und Saphire!
BARON.
Stört dich das,
so denk, es wäre Zinn, nicht darum gab ichs:
es ist mein Bild darauf, und damals war ich
so alt, vielmehr so jung, wie du jetzt bist.
LORENZO.
Nimm diesen schlechten Ring, so stehn wir hier,
du Glaukos, Diomedes ich, das Bild
ungleichen Tausches.
BARON
zeigt auf das Bild auf dem Deckel der Dose.
Hätte dieser da
das Feur in seinem Blut so schön gebändigt
wie du, so stünde nun ein andrer hier,
ich bin ein Kartenkönig.
LORENZO.
Laß ihn ansehn.
BARON.
Er ist mein Vater, denn ein jedes Heut
ist seines Gestern Sohn. Ich bring dir Licht.
LORENZO
das Bild starr betrachtend.
Dies ... ist?
[540]
BARON.
Mein Bild. Ich sagte, 's ist lang her.
LORENZO.
Dein Bild?
BARON.
Du wirst wachsbleich.
LORENZO
schreiend.
Ich träum, ich träum!
Hexen und Teufel sind auf meinem Bett!

Schlägt ohnmächtig hin.
Baron, darauf Le Duc mit Wasser, um den Ohnmächtigen beschäftigt.
REDEGONDA
aus der Tür heraustretend.
Ach, ich vergeh vor Angst! Was ist denn hier?
Ganz sicher seid ihr alle einverstanden
und niemand schützt mich! und wo ist mein Bruder?
BARON.
Dein Bruder?
REDEGONDA.
Ja, Achilles ist mein Bruder,
daß dus nur weißt. Es kommt doch nichts heraus
mit der Geheimniskrämerei, und der

Auf Lorenzo.

Ist der Vittoria Mann, der Sängerin:
ich sag dirs grad, weil er mir Zeichen machte,
daß ichs nicht sagen sollte! Denn wenn ich
will, daß sie was verschweigen, tut mirs keiner.
Ich weiß zwar nicht, warum er dirs verschwieg,
allein ich sag dirs grad! und ich geh fort!
BARON.
Dies ist der Mann?
REDEGONDA.
Ja, ja, sie hat den Namen
nur am Theater nicht, weil er von hier
ein Adeliger ist, allein vermählt
sind sie zusammen. Und ein andres Mal,
wenn du so viel Geschäfte hast mit Herrn,
lad niemand ein, in einem dunklen Zimmer
sich totzufrieren! Das ist gar nicht höflich.
LORENZO
schlägt die Augen auf.
Nun wird es Tag.

Er steht auf, die Redegonda läuft hinaus.

Bei Gott, die Redegonda!

[541] Er hält sich atmend am Tisch fest.

So bin ich nicht bei mir!

Erblickt die Dose am Boden, hebt sie auf.

Nein, dies gibt Zeugnis,
Daß ich noch bei Verstand bin. So leb wohl.
Allein hier ist ein Knoten aufzulösen
und wird es! seis zum Guten oder Bösen!

Geht schnell ab.
Baron zu Le Duc, nach einer Pause, Zeichen: Jetzt führ die andere herein. Pause.
Vittoria von rechts rückwärts. Baron vorne am Tisch. Sie zittert vor Erregung, kann nicht gleich sprechen.
BARON.
Bist du es wirklich, Liebste!

Vittoria kann nicht sprechen, muß sich setzen. Pause.
VITTORIA.
Es waren Leute bei dir.

Sie redet fast gedankenlos, sieht ihn unaufhörlich an.
BARON.
Ja, dein Mann.
VITTORIA
versteht dies nicht, überhört die Worte vollkommen in ihrer Erregung, sie will aufstehen, ihre Knie zittern, ihre Stimme bebt; setzt sich wieder.
Es ist zu vieles von zu vielen Jahren:
eins wirft sich auf das andre; laß mich weinen.

Sie weint lautlos; er geht hin, küßt ihre Hand, sie entzieht sie ihm sanft.

So fragst du mich nun gar nichts, du hast recht:
wir sind hinaus übers Erzählen.
BARON.
Liebste,
wie du mich gleich erkannt hast!
VITTORIA.
Sonderbar,
jetzt seh ich dich verändert, im Theater
wars wie ein Blitz, bei dem mein Blut im Sturm
dein frühres Bild auswarf.
BARON.
So wohnts in dir?
VITTORIA.
Du fragst?

Pause.

[542] Auch deinen Namen trägst du nicht mehr,
hast wie ein altes Kleid ihn abgelegt.
BARON.
Was tut ein Name. Bins nicht ich?
VITTORIA
ängstlich.
Ja, bist dus?
Ich bins. Mir ist, ich hab in dieser Stadt,
wo keine Gärten sind, nur Stein und Wasser,
nicht altern können, nicht wie andre altern,
nur viel durchsichtiger und viel gelöster
vom schweren Boden scheint mir alles: dies
sind wohl die Augen, die der Herbst uns einsetzt.
Du warst mir Frühling, Sommer, Sonn und Mond
in einem! Lieber, fühlst du, daß ichs bin?
BARON.
Fühlst du, daß ichs bin?

Will sie küssen.
VITTORIA.
Laß! was willst du tun?

Pause.
In einem zarten, reinen Ton, mit sanften Augen.

Daß dus bist, ob ichs fühle? Ja und nein.
Ich bin bei dir und doch mit mir allein.
BARON.
So red von dir.
VITTORIA.
Ists noch dieselbe Stimme?
Zuweilen seh ich abends auf das Wasser:
es ist verwandelt, scheint ein Element,
herabgeflutet von den Sternen. Lautlos
verschleierts und entschleiert, unaufhörlich
erzeugt es und zerstört es tausend Bilder
von Dingen, die nicht dieser Welt gehören:
so ists in mir. Dies ist nun so geworden.
BARON.
Red noch von dir, noch mehr.
VITTORIA
immerfort lebhafter werdend.
Hast du mich nicht
singen gehört? Sie sagen, daß es finstrer
und lichter wird in einer großen Kirche
von meinem Singen.
[543] Sie sagen, meine Stimme ist ein Vogel,
der sitzt auf einem Zweig der Himmelsglorie.
Sie sagen, wenn ich singe, mischen sich
zwei Bäche freudig, der mit goldnem Wasser,
der des Vergessens, und der silberne
der seligen Erinnerung.
In meiner Stimme schwebt die höchste Wonne
auf goldnen Gipfeln, und der goldne Abgrund
der tiefsten Schmerzen schwebt in meiner Stimme.
Dies ist mein alles, ich bin ausgehöhlt
wie der gewölbte Leib von einer Laute,
das Nichts, das eine Welt von Träumen herbergt:
und alles ist von dir, dein Ding, dein Abglanz.
Denn wie ein Element sein Tier erschafft,
so wie das Meer die Muschel, wie die Luft
den Schmetterling, schuf deine Liebe dies.
In deiner Liebe, nur aus ihr genährt,
unfähig, anderswo nur einen Tag
sich zu eratmen, einzig nur bekleidet
mit Farb, aus diesem Element gesogen,
wuchs dieses Wunder, dies Kind der Luft,
Sklavin und Herrin der Musik, Geschwister
der weißen Götter, die im Boden schlafen,
dies Ding, das ich so: meine Stimme nenne,
wie Einer traumhaft sagt: mein guter Geist!
BARON.
Wie hätte ich an solchen Wundern Schuld?
VITTORIA.
Mein Lieber, wohl. Denn dies entstand ja so:
Als du mich ließest, stand ich ganz im Finstern
und wie ein Vogel an den dunklen Zweigen
hinflattert, suchte meine Stimme dich.
Du warst im Leben, dies war mir genug.
Ich sang, da warst du da, ich weiß nicht wie,
ich meinte manches Mal, du wärst ganz nah
und meine Töne könnten aus der Luft
dich holen, wie die Klauen eines Adlers.
Es wurden Inseln in der Luft, auf denen
[544] du lagest, wenn ich sang. Und immer war mir,
als rief ich nur das Eine: Er ist schuld,
an allen Wonnen er, an allen Qualen!
Merkt nicht auf mich! Er ist es, der euch rührt!
Und meine Klagen senkten sich hinab
wie tiefe Stiegen, unten schlugen Tore
wie ferner Donner zu, die ganze Welt
umspannte meine Stimme und auch dich,
du warst in ihr.
BARON.
Sei wieder mein, Vittoria.
VITTORIA.
Ich kann nicht. Nein. Ich will nicht!
BARON.
Wer verbietets?
VITTORIA.
Wer?

Kleine Pause.

Menschen – auch.
BARON.
Dein Mann?
VITTORIA.
Mein ganzes Schicksal
verbietets ungeheuer. Spürst du das nicht?
Es hüllt mich wie in seinen Schatten ein.
BARON.
Du lügst! Du liebst mich, aber du hast Furcht!
VITTORIA.
O nein, nicht Furcht, nur Ehrfurcht.
BARON.
Komm zu mir:
wir wohnen –
VITTORIA.
Auf dem Grabe unsrer Jugend?

Schüttelt den Kopf.

Ich hab ein Haus, ich hab –

Für sich.

Noch nicht, noch nicht!
Die Stunde kommt, wo er auch das erfährt!
BARON
will sie an sich ziehen.
Gehör mir wieder! Denk an das, was war!
VITTORIA
zurücktretend.
Ich denk daran. In mir ist keine Faser,
die nicht dran dächte. Eben darum laß mich!
Du denk daran. Denk an das Fürchterliche,
[545] das kam, als wir mit frevelhaftem Finger
aufjagen wollten die verglühte Flamme.
Denk an die Qual! Ich mein, ich muß vergehn
vor Scham, wenn ich dran denke. Auf dem Rand
des Bettes saßen wir wie bleiche Mörder!
Denkst dus? Die Luft der Nacht blieb stehn wie starr,
und draußen spie der Berg sein rotes Feuer
und leuchtete auf dein und meine Qual.
BARON.
Was meinst du?
VITTORIA.
Die drei Tage in Neapel,
wo wir als die Gespenster unsrer selbst
uns in den Armen lagen, schmählich tauschend
mit bleichen Lippen nicht mehr wahre Worte!
Und Küsse, nein, vielmehr blutrote Wunden
ein jedes auf das arme Herz des andern
über und über streute, bis ein Grauen
uns auseinander trieb!
BARON.
In Genua!
Dies war in Genua. Es war zu nah
von unsrem großen Glück, wir hatten noch
die Augenwimpern und die Fingerspitzen
versengt von zuviel Flammen. Welch ein Narr
war ich, Dich so zu quälen, welch ein Narr
und Bösewicht! um der Geschenke willen!
VITTORIA
ganz verwirrt.
Geschenke?
BARON.
Die der Marchese –
VITTORIA
wiederholt.
Der Marchese ... mir?
BARON.
Grimaldi –
VITTORIA
tonlos.
Wie?
BARON.
Der dir das Landhaus baute –
VITTORIA.
Ein Landhaus mir?
BARON.
Das mit dem Pinienhain.
[546]
VITTORIA.
Neapel war es und nicht Genua!
Ich weiß von keinem Landhaus! niemals warens
Geschenke, wegen deren du mich quältest!
Nie kam der Nam Grimaldi an mein Ohr!
Neapel wars! Neapel! Ich allein!
Nichts von Grimaldi! ich war ganz allein
– vielmehr nicht ganz allein, wer mit mir war,
hab ich dir damals nicht gesagt, ich hielt
dies einzige Geheimnis mit den Zähnen
in mir zurück wie einen Fetzen Schleier
für meine Seele.
BARON.
Hätt ich alles denn
verwechselt, so den Ort als die Person?
VITTORIA.
Er hats verwechselt! hats vergessen können,
wie man den Inhalt einer schlechten Posse
vergißt, so wie den Namen eines Gasthofs,
wie das Gesicht von einer Tänzerin!

Sie weint.

Und wenn er das vergessen konnte, was
vergaß er nicht?

Pause.

Er weiß's nicht mehr! Ich Närrin! Dies ist Leben.
Nun bin ich ruhig. Siehst du, früher war ich
so wie ein kleines Kind und hab uns ganz
ums Plaudern und ums ruhige Erzählen
gebracht.

Pause.

Ich hab gehört, du warst ein Jahr
hier in den bleiernen Kammern, hast den Weg
mit deinen Händen Dir gebohrt, an Tüchern
dich nachts aufs Kirchendach herabgelassen –
BARON.
Dann kam ein Sprung: doch hatt ich reichlich Kleider
übereinander an: zu unterst meine,
den grünen Rock –
VITTORIA.
Den grünen Rock!
[547]
BARON.
Du weinst?
VITTORIA.
Es war so bald
danach –
BARON.
Kein halbes Jahr. Darüber trug ich
von einem Domherrn das Habit. Zu äußerst
umschloß ein dicker dänischer Edelmann
mit Orden und Perücke diesen Klumpen.
Ich sprang und tat mir nur am Finger weh.
VITTORIA
streichelt sanft seine Hand, die am Tische ruht; mit sanftem Vorwurf.
Nun kommst du wieder!
BARON.
Wer erkennt mich?
VITTORIA.
Ich
hab dich erkannt.

Baron küßt ihr die Hand.
VITTORIA
sieht ihn lächelnd an.
Und Frauen, Frauen, Frauen
wie Wellen! wie der Sand am Meer! wie Töne
in einem Saitenspiel!

Leicht über seine Stirne streifend.

Dies war der Strand,
verzeih, dies ist der Strand, auf dem die leichte Barke
des leichten Gottes landet, jedesmal
beladen mit der jüngsten Siegerin:
und viele Spuren sind in diesem Strand.
Nun aber geh ich.
BARON.
Wie! wann kommst du wieder?
VITTORIA.
Ich, wieder? nimmermehr! Dies war einmal
und durfte einmal sein.
BARON.
Doch ich?
VITTORIA.
Wohl auch nicht.
BARON.
Du hast mich früher überhört: Dein Mann –
VITTORIA.
Ich habs gehört, ich dacht, mein Ohr betrög mich.
[548]
BARON.
Dein Mann ward heut mein Freund.

Vittoria schüttelt verwundert den Kopf.
BARON.
Gleichviel, es kam so.
Und führt mich morgen, er, der von nichts weiß,
an seiner Hand vor dich und nennt den Namen –
VITTORIA.
Den deinen?
BARON.
Nein, den ich jetzt hab. Wir müssen
bedenken –
VITTORIA.
Ja; bedenken, heucheln, lügen.
Ich seh, das Leben läßt von seinem Brauch
nicht ab, und wenn es ein Versprechen hält,
so mischt es einen wilden Augenblick
zusammen aus Verwirrung und Besorgnis
und wirft einem Betäubten sein Geschenk
zweideutig lächelnd vor die Füße hin.
Dich führt mein Mann, der von nichts weiß, mir morgen
treuherzig lächelnd zu. Was dir verborgen,
dacht ich in einer reineren Begegnung
an einem stillern Strande dir zu zeigen.
Nun ists wie eine wilde Hafenstadt
voll Lärm, in dem die Nachtigallen schweigen.
Allein muß nicht in dieser dunklen Welt
sogar das Licht gewappnet gehen? Nun:
wir wollen einen Harnisch von Musik
anlegen und dann mutig alles tun,
was uns gerecht und schön erscheint. Die Macht
ist bei den Fröhlichen. Jetzt gute Nacht.

Geht ab. Pause.
Baron, dann Le Duc, der einige von den Lichtern auslöscht.
LE DUC.
Befiehlt der gnädige Herr zur Nacht?
BARON.
Jawohl,
jawohl, Le Duc. Der gelbe Koffer ist
gekommen? Bring ihn her.

Le Duc bringt den gelben Koffer, sperrt ihn auf.
[549]
BARON.
Die Salbe für die Hände ist fast ganz
verbraucht.
LE DUC.
Ich habe nach Marseille geschrieben.
BARON.
Sehr gut. Der neue Diener, wie? gefällt dir.
LE DUC.
Ich glaube nicht, daß Euer Gnaden wirklich
im Ernst gedenken – Stellen Ihrer Dienste
mit Komödianten zu besetzen.
BARON.
Wie?
Sowas im Ernst! Du kannst ganz ruhig sein.
LE DUC.
Ich war vollkommen ruhig. Andernfalls
hätt ich sofort gebeten, meinen Rücktritt
in Gnaden zu genehmigen.
BARON
mit sanftem Vorwurf.
Le Duc!
Le Duc!

Pause.

Ich habe nicht genug
Bewegung!
LE DUC.
Um Verzeihung, ich vergleiche
den gnädigen Herrn, was die Gestalt betrifft,
in jeder Stadt mit andern Edelleuten
von gleichen Jahren, nein, vielmehr mit Jüngern
und werde mit vollkommenem Vergnügen
mir jedesmal des Resultats bewußt.
BARON.
Die letzten Tage auf dem Schiff, ich fühl es.
Le Duc, wir fechten vor dem Schlafengehn.
LE DUC.
Verzeihung, die Rappiere sind in Mestre
beim übrigen Gepäck.
BARON.
So ringen wir.

Er legt Uhr, Ringe, ein Armband ab.
Le Duc zieht seinen Rock aus, stellt sich mit einer Verbeugung bereit.
Es wird unten heftig an eine Tür geschlagen. Beide horchen; es wird noch einmal angeschlagen.
[550]
BARON.
Geh nachsehn.

Heftigere Schläge.
LE DUC
am Fenster.
Eine Gondel mit Maskierten!
BARON.
Auch Frauen?
LE DUC.
Nein, nur Männer.
BARON.
So ists der Messer Grande und mein Tod!

Blickt wild um sich, packt Le Duc an der Gurgel.

Du bists, der mich verkauft hat, Schuft! nur du!
Sonst kennt mich hier kein Mensch!
LE DUC.
Gnädiger Herr,
Hier ist ein Messer. Wozu Ihre Hände?

Entblößt seinen Hals.
BARON
läßt das Messer fallen.
Vergib. Was ist das! Bin ich schon so schreckhaft!
Gib meine Ringe. Zieh dich an, Le Duc.
Das Haus hat keinen zweiten Ausgang. Gestern
noch sicher wie in Mutters Schoß. Verflucht
mein Leichtsinn! wie? es ist gebaut, zum Teufel,
wie eine Mausefalle.

Kramt fieberhaft im Koffer.
LE DUC.
Der Koffer?
BARON.
Nein, das Haus ...

Wirft Kleidungsstücke aus dem Koffer.

das ist der Orden
vom goldnen Sporn –
LE DUC.
Was suchen Euer Gnaden?
BARON
weiterkramend.
Häng du ihn um.
LE DUC.
Den Orden?
BARON.
Du! ich wills!
Und steht der Henker unten, soll zumindest
ein Kämmrer ihm die Türen öffnen, geh!
Nicht den, den großen Leuchter! geh! dein Herr
empfängt.

[551] Wiederholte heftige Schläge; er verstummt, winkt Le Duc abzugehen; dieser geht.
Allein. Er zittert heftig; er hält ein kleines Fläschchen, das er aus dem Koffer genommen, und steckt es zu sich.

Und sind sies, hilft mir dies. Warum? ich könnte
ja noch einmal entkommen. Nein, nein, nein.
Noch einmal alles dies: mit meinen Nägeln
den Mörtel bohren, auf den Atemzug
der Wächter horchen, alle Höllenqualen
erdulden, wenn der letzte Schuft dem Bett
auf zwei Schritt nahe kommt – noch einmal dies?
Ich merk, das Leben will dasselbe Stück
nicht wiederholen ... Was die Seele
genossen und ertragen hat einmal,
brennt sich beim Wiederkehren in sie ein
mit glühnden Stempeln: Ekel, Scham und Qual.
Dies ist beinah der Brauch wie auf Galeeren:
und da und dort hilft eins, sich zu erwehren.

Le Duc kommt zurück mit einem Brief.
BARON.
Was ist? Was wollen sie?
LE DUC.
Fort sind sie, fort
und warfen dies herein mir durch die Tür.
BARON
liest aufmerksam, lacht dann heftig.
Wir sind nur Arlekin und Truffaldino
in einem tollen Stück. Die Herzogin
Sanseverina tut die große Ehre
uns an und ist – errätst du? – eifersüchtig.
LE DUC.
Das ist zum mindesten ein wechselnd Fieber,
es ließ lang aus.
BARON.
Heufieber, alle Jahr
ein Mal, doch heftig. Und sie schreibt, sie wisse,
was mich veranlaßt hat, hierherzugehen.
Ich weiß es selbst nicht! außer Übermut,
der Mäuse immer wieder zu der Falle
hinlockt. Und kurz und gut, sie droht, sie droht,
wenn ich bis morgen abend nicht Venedig
[552] im Rücken habe, ist ein Brief am Weg,
der mich verrät an die Inquisitoren.
Wir gehn. Sie ist die Frau, ihr Wort zu halten.
Doch nun zu Bett; dies ist ein buntes Zeug
von Wiedersehn und Trennung, Angst und Lust,
und macht den Kopf so wirr, als hätt man Nächte
in einem Maskenaufzug umgetrieben.
Wir gehen morgen, zwar vor Abend nicht:
Vittoria wollte mir doch etwas zeigen ...
Was wird das sein? Sie ist noch fast so schön
wie damals ... doch ich merk, man soll kein Ding
zweimal erleben wollen. Wie wenn Fäuste
unsichtbar uns von rückwärts hielten. Seltsam,
Ich wollt, die Redegonda wär geblieben!
Die hält kein Spuk mit Luft als wie mit einem
Gitter umschlossen. Vor zehn Jahren, glaub ich,
hätt ich dergleichen nicht gespürt. Dergleichen
sind deine unsichtbaren Boten, du,
den ich nicht nennen will, und dem die Zeit
auf leisen Sohlen dient.

Er wechselt den Ton.

O schöne Stadt,
die nie versagt! Heut war ein hübscher Tag,
wir wollen ihn uns merken! so gelungen,
als wär er eines Dichters Kopf entsprungen!
Doch was vergeud ich Schlafenszeit mit Schwätzen?
Wir wollen auf dies Heut ein bessres Morgen setzen!

Wendet sich an der Türe zum Schlafzimmer noch einmal um.

Schreib um die Salbe. Ja, du hast schon! Gut.

Zwischenvorhang.

[2. Szene]

[553] II

Großer freundlicher Saal im Hause Venier. Im Hintergrund eine große Tür und zwei große schönvergitterte Fenster auf den Kanal hinaus. Links und rechts Türen. An der Decke und über den Fenstern Fresken im Geschmack des Tiepolo. Im Vordergrund links steht ein kleines Klavier, in der Mitte des Saales ein sehr großer Tisch mit vergoldeten Füßen, auf diesem Blumen in einer großen Vase. – Es ist heller Tag.
Es treten auf: Lorenzo und sein Oheim, der Senator Venier. Der Senator trägt über seinem Kostüm den Überwurf eines dünnen schwarzen Maskenkleides; die schwarze Larve und den Kopfteil hält er in der linken Hand. Mit der Rechten stützt er sich auf einen Stock.

LORENZO
er ist blaß und erregt, – spricht im Auftreten; dann bleiben sie in der Mitte stehen.
Ich bitte, Oheim, frag mich nicht um Gründe
für etwas, das mir so natürlich ist
wie Atmen. Ja, wißt Ihr denn alle nicht,
was sie mir ist? Ich bitte, geh! ... So bleib!
Ich war kein frohes Kind: Du mußts doch wissen,
wie leichtlich übermannt von Traurigkeit,
wie schnell zu Tod erstarrt, wenn das Gemeine
mit aufgerissenen Medusenaugen
aus dem Gebüsch des Lebens auf mich sah.
Da fand ich sie. Ich fand das eine Wesen,
aus dessen hohler Hand der Quell des Lebens sprang,
daran ich meine Lippen legen konnte
und Seligkeit des Daseins in mich schlürfen!
O hätte sie nur halb die Fröhlichkeit,
die ihr im Auge quillt, mich lehren können,
so hingest du an meinem Munde jetzt,
so wie die Welt an ihrem Munde hängt,
[554] und dächtest an nichts andres als zu atmen!
Und das verleugnete ein Tropfen nur
von meinem Blut? Es ist das Blut Venier,
und wie der Brunnen in der Fabel wallt
es wütend auf, wenn ein unedler Atem
nur seinem reinen Spiegel nahe kommt,
und hebt sich in den Adern so voll Wut
wie ein gereizter Löw in seinem Zwinger.
Du mahnst mich recht: es ist das Blut Venier
und hat noch so viel edle Art in sich,
daß es bezahlt, wie Könige bezahlen
– und nicht wie Krämer –: einen Augenblick
etwa mit dem zusammgerafften Preis
von vielen Jahren, ja, dem letzten Gold,
das aufgesprengte Ahnengräber geben –
ein wenig Lächeln etwa mit sich selbst
und einen Traum etwa mit einem Leben!

Er hat sich bei den letzten Worten, die er mehr für sich spricht, von dem Alten abgewendet und ist einige Schritte nach vorne gegangen. Der Alte hat kopfschüttelnd seine Maske aufgesetzt und ist durch die große Tür im Hintergrund weggegangen.
LORENZO
wendet sich, sieht sich allein.
Schon fort, Gespenst? Ich will zu ihr.
Vielleicht,

Hält an der Tür links still.

daß sie noch schläft! So will ich denn noch warten.

Kehrt um, setzt sich in der Mitte des Zimmers auf einen Lehnstuhl.

Nun schon ich ihren Schlaf- und bald vielleicht
ermord ich ihr den Schlaf von vielen Nächten!
Nun ging es mir ans Herz, als Einer nur
auf ihren Schatten treten wollte – bald
tret ich vielleicht mit Fingern, die gepanzert,
in ihres Herzens Wunden und in meine!

Cesarino kommt von rückwärts gegangen, legt ihm die Hände auf die Schultern.
[555]
LORENZO
auffahrend, ergreift eine Hand Cesarinos.
Vittoria!

Cesarino tritt neben ihn.

Besser wärs, wenn eure Hände
sich nicht so ähnlich sähn!
CESARINO.
Warum denn besser?

Pause.
LORENZO.
Sag, du hast deine Mutter nie gekannt?
CESARINO.
Wie, unsre Mutter?
LORENZO.
Deine.
CESARINO.
Sie war doch
Vittorias Mutter auch.
LORENZO.
Jawohl, jawohl.

Er versucht, Cesarino mit dem Bild auf der Dose zu vergleichen, die er halbverdeckt in der linken Hand hält. Cesarino geht nach rückwärts.
LORENZO.
Wo gehst du hin?
CESARINO.
Ich seh, ob jemand kommt.

Er geht durch die Tür rechts rückwärts ab.
LORENZO
hinter ihm her, die Dose in der Hand.
Ein Bild! ein Bild! ein und dasselbe Bild!

Er bleibt stehen, den Kopf zu Boden gesenkt.
Vittoria von links, geht leise auf ihn zu. Er tritt zurück, sieht sie traurig an. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände. Er tritt wiederum zurück.
Pause.
VITTORIA.
Du siehst nicht fröhlich aus.
LORENZO.
Ich bin nicht fröhlich.

Pause.
LORENZO.
Vittoria, wie hast du heut geschlafen?

Ohne die Antwort abzuwarten.

Weißt du, ich wachte einmal morgens auf,
indessen du noch schliefest. Über dich
[556] war ich gebeugt und haßte deine Augen,
ich haßte deine süßen Augenlider:
denn irgendwie verstand ich, daß darunter
ein Traum war, angefüllt mit Leben, dran
ich keinen Anteil hatte, keinen Anteil,
nicht eines Schattens Anteil!
VITTORIA.
Ja, mein Lieber.
Doch war dies, weil ich schlief. Nun bin ich wach.
LORENZO.
Nein! dies ist, weil du wach bist! Aber dann
müßt ich die Lider nicht, ich müßte ja
die wachen Augen hassen und die Lippen
und diese süße, helle Stirn und alles!
VITTORIA.
Ich weiß nicht, was das ist, wovon du redest!

Pause.
LORENZO.
Sag mir, was bin ich dir?
VITTORIA.
Du bist mein Mann.
LORENZO.
So bist du meine Frau, und Mann und Frau,
sagt man, sind eins. Mich dünkt, dies ist nicht so.
VITTORIA.
Du bist ein Ganzes und auch ich bin ganz:
und kann mich nur als Ganzes geben, nicht
den Kranz auflösen, der mein Wesen ist.
Was quälst du dich und mich mit solchen Worten?
LORENZO.
Nicht genug deutlich? Nun, hier ist ein Bild!

Hält ihr die Dose hin.

Und der mirs gab – so hat Natur noch nie
mit lautem Mund geschrien, ist der Vater
des Burschen, den du deinen Bruder nennst!
und nicht dein Vater, dir ist er nicht ähnlich,
o, nicht dein Vater, er ist wohl zu jung!

Fast atemlos.

Des Burschen Hände aber wieder sind
den deinen allzu ähnlich, als daß nicht
[557] ein fürchterlich verwirrender Verdacht
sich wie ein Brand ganz durch mein Denken fräße,
von hundert dunklen Dingen noch genährt:
denn der mirs gab, das ist derselbe Mensch,
des Anblick gestern in der Oper dich
unter der Schminke so erbleichen ließ,
als schlüg ein weißer Blitz durch deinen Leib –

Er hält inne.
VITTORIA
den Blick auf ihn geheftet, ruhig.
Daß ich erschrak, kann sein. Ich hab ihn lange,
so lange nicht gesehen, daß mir war,
als müßt nun meine Mutter hinter ihm
aus ihrem Grabe aufgestanden kommen,
zuhören, wie ich singe. Ich hab ihn
als Kind sehr oft gesehn, bis zu dem Tag,
da meine Mutter starb und mich zurückließ
und meinen neugebornen Bruder.

Nach einer kleinen Pause.

Meine
und meines Bruders Hände gleichen, glaub ich,
den Händen unsrer Mutter. Ich war damals
zehn Jahre, und mein Vater lange tot.
LORENZO.
Wie, deine Mutter war zweimal vermählt?
VITTORIA.
Das nicht. Ich war ein Kind, das viel verstand.
Begreifst du, was mirs war, nach siebzehn Jahren
den Menschen wiederum zu sehn? Er ist
die Schuld, daß meine Mutter starb und daß
mein Bruder lebt. Jetzt schweigen wir! Die kommen.

Cesarino und Marfisa nähern sich. Lorenzo geht ihnen einige Schritte entgegen. Sie entfernen sich wieder.
VITTORIA
in der Mitte allein.
Ich lüge wie ein Grabstein, und ich bins
ja auch allein, drin wie in einem Grab
dies sonst vergeßne Abenteuer wohnt.

Lorenzo tritt wieder zu ihr.
[558]
VITTORIA
ohne sich umzuwenden.
Hast du sie wieder fortgeschickt?
LORENZO
hart bei ihr.
Vittoria, mach, daß ich dir glauben kann!
VITTORIA
sieht ihn mit offenen Augen an.
Lorenzo, was bin ich dir, wenn dus vermagst, jetzt zu zweifeln?
LORENZO.

Alles bist du mir, alles – so oder so, zum Guten oder zum Schlimmen. Das einzige Geschenk, das mein Leben je mir zuwarf, eines aber, das alle andern in sich schließt ...

Vittoria, ich habe Angst, an dir zu zweifeln und Angst an dich zu glauben. Was immer du redest, hab ich Angst, daß das Leben mich überlistet.

VITTORIA.
O, es überlistet uns alle, mein Freund!
LORENZO
dringender.

Vittoria, mach, daß ich dir glauben kann! – Bedenk, wie du in mein Leben hineintratest, beladen mit Geheimnissen –

VITTORIA.

Es gab eine Zeit, da du mich um dieser Dinge willen mehr liebtest. Du selbst verglichest mein Wesen mit einem festgeflochtenen Kranz. Ja, ich bin nicht dein Geschöpf, ich bin das Geschöpf des Lebens und beladen mit dem Abglanz überwundener Schmerzen; behängt mit dem Gold erstarrter Tränen, trat ich in dein Leben hinein. Denk daran, wie es anfing, Lorenzo. Hab ich gelogen? versprach ich zuviel?

LORENZO.

Ich denk daran, Vittoria. Dein Reden hat niemals etwas versprochen, dein Schweigen – auch nicht, dünkt mich. Es war nur dein Wesen, das Unaussprechliches versprach – und hielt, Vittoria, ja, o mehr als hielt! – – Ich war wohl nicht der unglücklichste Mensch auf der Welt, aber vielleicht der wenigst Glückliche – da fand ich dich. Welch ein Geschenk war das! Ich, der ich an einer Welt und ihrer Sonne nicht Lust gefunden hatte, lernte ein Öllämpchen lieben, weil es dich beleuchtete! Du warst die einzige Wirklichkeit in meinem Leben, die Veste, auf der ich meine Welt aufbaute – du, beladen mit Geheimnissen, du, das Geschöpf eines Lebens, von dem ich nichts wußte! Ich lernte dich zu sehr lieben, mit einer Liebe, die mein Wesen durchschütterte [559] und in mir zuweilen Abgründe der Ermattung aufriß, wie ein ungeheurer Zorn!

Doch wenn in deinem Reden, deinem Schweigen

so wie in einem Nest und einem Abgrund,

wie Kröten, Lüge neben Lüge wohnt –

vom Anfang an, und immer – immer fort

– wie's möglich ist, entsetzlich möglich ist! –

was bleibt uns dann, Vittoria, daß wir beide

fortleben können? sag, was bleibt Vittoria?


Vittoria, in ihrem Gesicht scheint ein Entschluß mit Heftigkeit zu arbeiten. Sie geht zum Tisch und läutet mit einer kleinen Glocke.
LORENZO.
Was willst du tun?
VITTORIA.

Das Einzige, was dich ruhig machen kann! Ich wollte es vermeiden, um jeden Preis vermeiden! Aber jetzt muß es sein. Wir müssen zu ihm gehn. Du mußt dabei sein, wenn ich ihn wiedersehe und wenn er mich wiedersieht. Dann wirst du mir vielleicht glauben können. Oder er muß hierher kommen.


Läutet nochmals.
LORENZO
erregt.
Vittoria, was du willst, das ist schon geschehn. Er wird herkommen.
VITTORIA
tonlos.
Er wird herkommen!
LORENZO.
Ich habe das getan, was du tun willst.
VITTORIA.
Du hast es getan, du hast es schon getan!

Zu dem Diener, der an der Tür rechts vorne erscheint.

Geh wieder, es ist nicht mehr nötig.

Diener ab.

Du hast ihn herbestellt – – um mich zu prüfen?
LORENZO
mit bebender Stimme.

Ich weiß es nicht – es kam so – es fügte sich so. Da du es aber nun so willst, Vittoria .... Du selbst es willst – dann ist ja alles gut, Vittoria!


Kleine Pause.

Was macht dich jetzt traurig?
VITTORIA
sehr ernst.
An eines nur hast du gar nicht gedacht.
Wenn er jetzt kommt, und sieht mich, und sieht den,
und nimmt ihn mir? Lorenzo, nimmt ihn mir!
[560]
LORENZO.
Wie, kennt er denn sein Kind?

Vittoria schüttelt den Kopf.
LORENZO.
Erkennt er dich?
VITTORIA.
Kann sein. Und dann? was dann, er ist der Vater
ich nicht die Mutter; welche Kraft hab ich,
die Schwester, wenn er sein Kind haben will?

Sie richtet ihre Augen auf ihn.
LORENZO
ganz verstört.
O weh mir, daß ich immer wehtun muß,
mir selbst und andern!
VITTORIA
indem sie ihn mit den Händen leise berührt.
Es ist besser so:
wenn du mir dann nur glauben kannst, mein Lieber,
und glauben, daß ich dein bin.
LORENZO
schmerzlich.
Mein! Doch wie?
VITTORIA.
So völlig, als ich kann! Nun still, die kommen.
LORENZO.
Sieh mich noch einmal an!
VITTORIA.
Da!

Sie reicht ihm einen Blick wie einen Kuß.
LORENZO.
Liebe! Liebe!

Marfisa und Cesarino kommen plaudernd näher, Lorenzo geht ihnen entgegen.
VITTORIA
in der Mitte allein, spricht sanft vor sich hin.
Ich kann nicht sehn, wie sein Gesicht so blaß ist
und so beladen mit verhaltnen Schmerzen.

Indem sie weiter spricht, nimmt ihr Gesicht einen völlig veränderten Ausdruck von Aufmerksamkeit, beinahe von Strenge an.

Um seinetwillen lüg ich bis ans Ende.
Nun bin ich Eine, die auf Dächern wandelt,
wo kein Vernünftiger den Fuß hinsetzt:
wer mich beim Namen anruft, bringt mich um.
Doch wenn der Andre ähnlich wär mit dem,
so fiele dies Gebäude schnell zusammen!
Nun muß ich warten, ruhig, was auch kommt:
[561] doch wenn ich Einen falsch berechnet hab,
so grub ich meinem ganzen Glück sein Grab.

Sie tritt ans Klavier und schlägt stehend ein paar Akkorde an.
CESARINO
zu ihr tretend.
Laßt mich doch nicht dabei sein, wenn ihr euch
mit diesem fürchterlichen Alten abgebt.
LORENZO.
Wen meint er denn?
VITTORIA.
Den alten Passionei.
Der kommt dann her. Du siehst, auch ich hab Gäste.
CESARINO.
Ich wollte grad so gern mein offnes Grab
anschaun, als solch ein wandelnd Grauen. Ich denk mir
immer,
wenn ich ihn essen seh und eine Beere
abfällt, bald fällt vielleicht der Finger mit!
Verzeih mirs Gott, ich freu mich manchesmal,
daß ich die Mutter nie gesehen hab
Und nun nicht zusehn muß, wie sie zerfiele!
Du bist mir statt der Mutter und bist jung!
Laßt mich mit der ins andre Zimmer gehn:
sie soll auf einem Stuhl im leeren Zimmer
verlassen sitzen wie die Ariadne,
ich will der Bacchus sein, der zu ihr kommt!
Ich roll den Apfel, wie ihr Knie so rund,
dann ist sie Atalanta, ich der Freier,
der sie gewinnen will mit großer List!
MARFISA.
Dies ist ein Kopf, in dem die ganze List
beisammen wohnt von Frauen und von Männern.
Er sagt aus Heuchelei das, was er meint,
und deckt es damit besser als mit Lügen.
CESARINO
auf sie zeigend.
Dies ist ein Kopf, in dem der Kopf der Circe
verborgen ist, der, wenn sie schläft, wie Phosphor
durch Elfenbein, durch diese Larve schimmert.
Ich fürcht, sie macht Glühwürmer aus uns allen
und steckt sich die mit Nadeln in ihr Haar!
[562]
VITTORIA.
Nein, bleibt nur da, ihr beiden.
CESARINO.
Ich bleib nicht da und will,
daß sie mit mir geht. Und willst du es wehren,
so schrei ich so, daß der dort an der Decke
vor Schrecken den gemalten Blumenkranz
aus den gemalten Händen fallen läßt!
VITTORIA.
Marfisa, bitte, geh: vor meinem Spiegel
sind aufgeschlagne Noten, bring mir die.

Marfisa geht links ab, Lorenzo in den Hintergrund.
Vittoria küßt Cesarino heftig auf die Stirn.
CESARINO.
Was hast du, Schwester? Du bist nicht wie sonst!
nein, lüg nicht, du hast eine Angst in dir!
Was ist es, Schwester, liebe Schwester, was?
VITTORIA.
Geh zur Marfisa, gib nicht acht auf mich!
CESARINO.
Nicht von der Stelle, eh du anders bist,
du! du!
VITTORIA.
Nein, geh, mein Kind. Du bist doch da,
du und mein Mann. Wovor sollt ich mich fürchten?
CESARINO.
Ich weiß nicht, was es ist, allein ich fühl,
es ist etwas. Du bist nichts als ein Schwindeln,
in einen dünnen Schleier eingewickelt.
VITTORIA.
Mein Freund, das ist nur, was wir alle sind.
Merk auf, ich geh den Gästen jetzt entgegen,
und später sing ich was von der Musik,
die er geschrieben.
CESARINO.
Wer?
VITTORIA.
Der Passionei,
der alte Mann, vor dem es dir so graut.
CESARINO.
Merk auf, er weiß nicht, daß die Melodien
von ihm sind und schläft ein, indes du singst.

Vittoria nickt ihm zu, gebt nach rückwärts.
[563]
CESARINO
steht rechts, sieht ihr nach.
Sie geht nicht so wie sonst. Ich bin nicht ruhig,
eh ich sie singen hör. Doch fürcht ich sehr,
sie singt heut nicht. O weh, was sind mir nun
die Lippen der Marfisa! Liebe Schwester,
die schwächste Angst um dich haucht auf die Welt
und macht sie trüb wie angelaufne Klingen!

Marfisa kommt von links, legt die Noten aufs Klavier, geht zu Cesarino nach rechts.
LORENZO
tritt von links rückwärts wieder herein, winkt Vittoria zu sich und führt sie an der linken Seite der Bühne einige Schritte nach vorne.
Vittoria, noch ein Wort!

Vittoria tritt zu ihm.
LORENZO
spricht hastig.

Wenn er sein Kind nicht kennt – und dich, wie's sein kann – auch nicht erkennt – so bitt ich: sag ihm nichts!

VITTORIA
sieht ihn groß an.
Wie?
LORENZO.
Denn nun hab ich Kraft, dir so zu glauben!
VITTORIA
sanft.
Wie du es willst, wie du es wirklich willst.
LORENZO
hastig.
Ich will, daß du für Cesarino nicht
zu fürchten hast – um meiner Schwäche willen!
VITTORIA
schnell.
O schmäh dich nicht!
LORENZO.
Sei still, die Gäste kommen.

Sie wenden sich nach rückwärts.
Rückwärts, als wie aus Gondeln und über Stufen heraufsteigend, die Folgenden, von Lorenzo und Vittoria begrüßt: der Abbate, der alte Komponist, geführt von seiner alten Dienerin und der Redegonda. Hinter diesen Salaino, der deutsche Graf und drei Musiker mit ihren Instrumenten.
DER ABBATE
indem er sich vor Vittoria auf ein Knie niederläßt.
O schönste Eurydike! die mit Orpheus
die Rollen tauscht, und sie ruft ihn zurück
und führt ihn aufwärts aus dem Reich der Schatten!

[564] Die Dienerin nimmt dem Alten den großen Mantel von den Schultern und eine große Halsbinde vom Hals.
VITTORIA.
Wen meint ihr, Gamba?
ABBATE.
Euch und diesen hier!
VITTORIA
sieht Passionei an.
Solch eine Kraft hat Zeit, und ist doch nichts,
schlägt nicht auf uns, gießt uns kein Gift ins Ohr
und solche Wirkung!

Der Alte flüstert mit seiner Dienerin.
VITTORIA.
Ich bitt euch, Freunde, wißt ihr, was er will?
REDEGONDA.
Er fürchtet sich vor jeder kühlen Luft.
VITTORIA.
So führt ihn hierher, hier ist er geschützt.

Indem alle nach vorne gehen.

Mit solchem Schauspiel kürzt das Leben uns
die Zeit, da wir nun einmal seine Gäste.
Lebendige läßt es wie die Sodomsäpfel
vor uns zu Staub zerfallen, schneller als
ihr blühend Bild in unserm Aug erlischt,
Verschwundne schickts zurück, erweckt die Züge
Vergessener im ahnungslosen Antlitz
von Kindern, legt es auf Verwirrung an,
schickt Jedem Doppelgänger übern Weg,
und läßt die Samen aufgehn, wann es will!

Sie setzen den Alten in einen Lehnstuhl vor dem großen Tisch. Die Dienerin bleibt neben ihm. Er flüstert mit ihr.
LORENZO.
Was will er nun, ich bitt euch, Freunde, seht!
DER GRAF.
Nun ängstigt ihn die Sonne.
VITTORIA.
Auch die Sonne!
Auch vor der Sonne hat er Furcht! So arm –

Es wird an einem der rückwärtigen Fenster ein grüner Vorhang herabgelassen.
Salaino setzt sich ans Klavier, die Musiker halten ihre Instrumente

[565]
bereit: Violine, Cello und Flöte. Vittoria geht, nachdem sie dem Alten einen Polster gegeben, nach links, nimmt ihre Noten in die Hand. Sie stimmen.
VITTORIA.
Dies ist ein Mensch, von dem einst Freude ausging
und hier, wo jetzt der öde Trübsinn brütet
und zweite Kindlichkeit, das grauenvolle
Gespenst der ersten, hier saß einst Musik,
so süß, wie in der Brust von jungen Lerchen,
die überladen mit Triumph aufsteigen
und manchmal tot vor Lust zur Erde fallen.
Er selbst sitzt nun nicht hier, nur seine Hülse:
sein bessres Teil schläft da und da und da!

Sie zeigt auf die Instrumente.

Das Leben spinnt das Beste unsrer Seele
aus uns hinaus und spinnt es still hinüber
auf andere unschuldigre Geschöpfe
wie Bäume, Blumen, solche Instrumente,
in denen lebt es dann und altert nicht.
Wahrhaftig, wo wir lieben, schaffen wir
solch eine unsichtbare Zauberinsel,
die schwebt, mit selig unbeschwerten Gärten,
schwebenden Abgründen: die gleitet dann
im Traum des Abends einmal spät vielleicht
in goldner Luft hin über unserm Haupt,
und wenn die Augen sie noch matt erkennen,
die Hände heben wir umsonst empor!
So lassen wir vor diesem alten Mann
sein ihm entwandtes Reich nach oben fluten,
vielleicht, daß er noch drüber weinen kann
und schmelzen bei des eignen Feuers Gluten!

Sie fangen an zu spielen, Salaino am Klavier, Vittoria zählt die Takte, bis die Singstimme einsetzt. Rückwärts rechts tragen Diener verdeckte Silberschüsseln auf. Der Alte dreht sich nach ihnen um. Die Dienerin will ihn abhalten. Der Alte schlägt nach ihr und scheint stärker nach einer der Schüsseln zu verlangen. Vittoria legt ihre Noten aus der Hand, geht zu dem Alten hinüber. Die Musiker halten inne.
[566]
VITTORIA.
Schaut: er will von den Speisen! Davon? nein?
doch davon? Das ist süß. So nimm von dem.

Sie haben ihm von der süßen Speise gegeben, er ißt gierig.
VITTORIA
sich von ihm abwendend.
Sieh mich nicht dankbar an, das ist zu bitter,
daß du für dieses dankst und nicht für jenes.

Geht wieder zu den Musikern hinüber.

So laßt ihn denn, und spielen wirs für uns!
Denn wirklich: was einst Feuer war in ihm,
ist Feuer nun in uns und diesen Geigen:
als er noch jung war, gab ihm das ein Gott:
er horchte auf den leisen, süßen Laut,
mit dem das Blut in den entblößten Adern
des Lebens läuft und fing den Klang davon
in seinem Ohr und hauchte ihn in Flöten:
wir haben die Musik, die er erschuf,
nun ist sein Atem nimmermehr vonnöten!

Sie fangen wieder an, das gleiche Musikstück zu spielen. Indessen führt ein Diener durch die Türe rechts vorne den Baron herein. Dieser winkt dem Diener, nicht zu stören und bleibt abseits stehen. Vittoria bemerkt ihn und senkt mit ruhigem Lächeln ihr Notenblatt. Die Musik hält inne.
VITTORIA
sehr gelassen zu Lorenzo, der dem Eintretenden den Rücken kehrt.
Lorenzo, du hast einen Gast gar nicht gesehn.
LORENZO
wendet sich, begrüßt den Baron.
Ah, Weidenstamm! ich freue mich von Herzen!

Leise.

Nichts, wenn ich bitten darf, von heute Nacht:
das ist vorbei und nicht mehr wahr, wie Träume!

Er wendet sich zu Vittoria, führt sie an der Hand einen Schritt vor.

Vittoria! – Baron Weidenstamm aus Holland!
VITTORIA
zum Baron, lächelnd, kühl.
Und mir nicht völlig fremd, wenn ich nicht irre.
LORENZO
rechts zur Seite tretend, für sich.
So grüßt sie nicht, wenn der geheime Inhalt
[567] all ihrer Träume aus dem Nichts hervor
auf einmal spränge. Ah, sie grüßt ihn so,
als wär es Einer, den sie gestern abend
noch sah und sprach. O ja, nun kann ich atmen.

Vittoria scheint durch eine Bewegung den Baron auf ihre Gäste hinzuweisen. Der Baron tritt auf Marfisa zu, die mit dem Abbate und Cesarino rechts steht. Cesarino und der Abbate treten zur Seite. Vittoria sieht unverwandt auf den Baron, dessen Blick nur einmal flüchtig über Cesarino hinstreift. Rechts ganz vorne steht Lorenzo und beobachtet auch die Gruppe mit Aufmerksamkeit. Plötzlich fährt er mit der Hand wie unwillkürlich nach der Dose, die er zu sich gesteckt hat. Er besinnt sich sogleich, tritt zu Vittoria und spricht.
LORENZO
hastig.
Du mußt ihm alles sagen. Cesarino
steht dort, als atmete dasselbe Bild,
das hier auf meiner Dose – ja, mich dünkt,
er muß es jetzt schon wissen.
VITTORIA
leise.
Wie du willst.
LORENZO
ebenso.
Wir müssen, Liebe, Mut!
VITTORIA.
Wenn du denn willst!

Der Baron verbeugt sich lächelnd vor Marfisa und tritt wieder zu Vittoria vor.
Vittoria winkt Cesarino zu sich. Marfisa und der Abbate gehen zu den Musikern hinüber, die ihre Instrumente bei Seite gelegt haben.
VITTORIA
Cesarino dem Baron vorstellend.
Dies ist mein Bruder und zu sehr mein Stolz.
Die Sonne von Neapel war das Erste,
zu dem er »Kukuk« sagte, wenn sie abends
im Meer versank, und später wollt er sie
anrühren, weil er sie für einen Ball
von Gold hielt, und seither ist er verliebt –
ich glaub, seitdem – in Gold und Edelsteine
wie eine Elster, und ich fürcht, das macht:
er hat ein zu begierig Aug für Schönheit.
Das Lesen und das Schreiben lehrten ihn
[568] die guten Väter auf dem heiligen Berg,
der die Karthause von Siena trägt;
ich glaube, wenn er lachte, waren sie
so froh, als wäre ihrem Klosterschatz
ein Stück vom heiligen Rock zuteil geworden,
und aus dem Holz ehrwürdiger Zypressen
auf ihren Ruhestätten schnitzten sie
ihm eine Armbrust und auch gleich den Vogel,
da der von Gott geschaffne nicht so still hielt.
Ich schwätz zu viel. Es haben ihn fünf Städte
und eine Schwester, die nichts kann als singen,
so schlecht erzogen, daß er voll der Fehler
der Jugend steckt, und leider voll des Zaubers,
der für zu günstige Augen sie verhüllt.
Je mehr ich von ihm rede, merk ich, kommt
nicht er, nur meine Torheit an den Tag.
Geh zu den Andern, geh zu der Marfisa.

Cesarino tritt zu der Gruppe beim Klavier.
VITTORIA.
Er meint, daß ihm die Welt gehört. Wenn er
zu Wagen oder Schiff in einer Stadt
ankommt, so rollt er seinen Blick umher,
ganz wie der Söldnerführer, der die Stadt
erobert hat und die Brandschatzung abhält
und mit den Augen, stärker als Magnete,
versteckte Frauen und vergrabne Schätze
aus allen Winkeln an sich ziehen will.

Während dieser Erzählung suchen Vittorias Augen den Blick des Barons, und sie scheint mit dem Blick ihm mehr sagen zu wollen, als ihre Worte sagen. Der Ablate steht aber nahe. Auch Lorenzo steht
rechts vorne in ihrer Nähe.
VITTORIA
fortfahrend.
Sein Reden, wenn er sah, was ihm gefällt,
ist wie Auflodern halberstickter Flammen.
Er ist noch halb ein Kind, und seine Zunge
ist wie der Speer des Halbgotts, dessen Spitze
die tiefsten Wunden schlug und wieder heilte.
Sein Blick dringt durch und durch, er sieht die nackt,
[569] die sich verstellen, und ich fürchte, Scham
hält ihn nicht auf, doch weiß ich: Liebe kanns –
CESARINO
tritt wieder zu ihr.
Sprichst du ihm immer noch von mir, du Gute?
VITTORIA.
Mein Bruder, sprich mit ihm, er stand sehr nah
zu deiner Mutter.
CESARINO.
Tatet ihr das, Herr?
Ich habe meine Mutter nie gekannt.
Sie sagen, »Mutter« ist das schönste Wort
im Leben, mit dem tiefsten süßen Klang
beladen, doch für mich ist »Schwester« dies.
Und wenn ich »Mutter« sag, so denk ich Eine,
die mit dem einen Fuß im Grab, auf mich
aus fremden Augen schaut, und schaudre fast.
BARON.
Da tut ihr unrecht.

Führt ihn plaudernd nach rückwärts.
VITTORIA
allein stehenbleibend, da auch Lorenzo nach rückwärts gegangen, der Abbate zu der Gruppe am Klavier zurückgetreten ist.
Schmäht er seine Mutter,
um mir zu schmeicheln? Und mich schmerzts beinah!
So steh ich selber mir im Licht und muß
zwiesäftige Früchte essen, deren Fleisch
halb süß, halb bitter schmeckt. Wie gleicht dies Träumen!
LORENZO
zu ihr zurückkommend.
Vergißt du ganz den Alten?
VITTORIA.
Nein, mein Freund.
Verzeih, ich bin heut nicht die beste Hausfrau!
LORENZO.
Verzeih mir du. Ich seh, du bist bewegt.
VITTORIA.
Ja, ja, ich bins. Bedenk, wie viel er mir
wegnehmen könnte, dieser Augenblick:
mein Schicksal tanzt auf eines Messers Schneide –
verstehst du mich?
LORENZO.
O wohl.
VITTORIA
indessen Lorenzo sich wegwendet und einem Diener etwas aufträgt; für sich.
Das hoff ich nicht!

[570] Wieder zu Lorenzo.

Sei ohne Sorgen, ich vergesse nicht.
Wo ist der Alte? ich vergesse nicht.
LORENZO.
Auch mich nicht ganz?
VITTORIA.
Heut weniger als je:
mir ist, ich seh mein Leben durch und durch
und deine Liebe drinnen.
LORENZO.
Wie die Mücke
im Bernstein?
VITTORIA.
Nein. So wie den Edelstein
im Bergkristall, der eine Heilkraft hat
und den verstümmelten Kristall von innen
nachwachsen macht, wie ein lebendiges Ding!

Lorenzo geht nach rückwärts.
Zu Vittoria tritt der Baron, Cesarino zu Marfisa, den Musikern und dem Abbate, der ihn bekomplimentiert.
VITTORIA
geht noch einige Schritte nach vorne, so daß niemand sie hören kann; zum Baron.
So weißt du, wer das ist?

Baron küßt ihr die Hand.
VITTORIA.
Es ist dein Kind,
dein und mein Kind! Stell dich vor mich,
daß mich die dort nicht weinen sehn

Sie weint.
MARFISA.
Such du mir eine Frucht aus, Cesarino,
und bring sie mir!
SALAINO
leise, flehend.
Marfisa!
MARFISA
halblaut zu ihm.
Das war gestern –
und heut ist heut!

Sie nimmt die Frucht aus Cesarinos Hand.
VITTORIA
zum Baron.
So wein ich
einmal aus meiner Seele tiefstem Kern:
denn dies ist das Geheimnis meines Lebens
und alles andre nur die leere Schale.
BARON.
Du liebste Zauberin, ein Spiegel ists,
[571] der dreißig Jahr nach rückwärts, wie ich atme,
mich eilig blitzt! Ich küsse meine Jugend
wehmütig auf die Stirn, wenn ich ihn küsse!
VITTORIA.
Mir macht er meiner Jahre Zählung wirr
und mich mir selbst zur Doppelgängerin.
BARON.
Wie meinst du das?

Die Gruppe links will Cesarino ans Klavier ziehen, Marfisa am schmeichelndsten. Ein Musiker bietet seine Geige. Salaino steht abseits.
VITTORIA
halb gegen diese gekehrt, spricht zum Baron.
Sind alle nicht von seinem wilden Feuer
bestrahlt? er ist dein Kind! Sag, bist du froh?

Indem sie sich nach links hin wendet.

Sie haben recht, Abbate – Malaspina
hat Unrecht: ja, mein Bruder spielt viel besser,
geläufiger und besser viel als ich,
obwohl er um zehn Jahr, vielmehr beinahe
zehn Jahre jünger ist –

Zum Baron.

Siehst du, hier weiß kein Mensch
mein wahres Alter!
BARON.
Weil du keines hast!
VITTORIA
lächelnd.
So schwimme ich auf einer großen Lüge
durchs Leben, wie Europa auf dem Stier:
die Schwester meines Kindes, schattenhaft,
zu einem neuen Wesen fast verdoppelt – –

Es kommt rechts der Alte vor, von seiner Dienerin und der Redegonda geführt; hinter ihm Lorenzo und der deutsche Graf. Der Baron tritt etwas zur Seite nach rechts vorne, Lorenzo zu ihm. Die Redegonda präsentiert den Alten und die Dienerin der Vittoria. Der Graf nimmt Anteil. – Indessen.
LORENZO
zum Baron.
Nun weißt du, was mich in den Boden schlug,
als du mir deine Dose schenktest. Zwar
nicht jedes Blut ist so, daß es vor Staunen
[572] und plötzlicher Verwirrung fast gefriert.
Ich müßte diese Eigenschaft in meinem
ein Weibererbteil nennen und mich schämen,
wüßt ichs dafür nicht ziemlich frei von Feigheit
und fieberfrei, wo wirkliche Gefahr.

Baron schweigt mit einer verlegenen Bewegung.
LORENZO
erklärend.
Ich weiß erst heute, daß Vittorias Bruder
von Mutter- zwar, doch nicht von Vaterseite
ihr Bruder ist –
BARON
ablenkend.
Ich kannte einen Marschall
von Frankreich, den der Anblick weißer Mäuse
in Ohnmacht warf. Es gibt dergleichen Spiele –

Vittoria läßt sich von einem Diener die große Fruchtschüssel reichen und legt Feigen und Orangen in einen Korb, den die alte Dienerin hält. Der Alte sieht mit leuchtenden Augen zu.
VITTORIA.
Ja, deine Anna trägt sie dir nach Haus,
und sie gehören alle dir. Die Welt
ist für ihn wieder, wie für Kinderaugen
zurückgekrochen in die runde goldne
Orange. Möglich hat er selbst einmal
den Kern, bei Gott! unwissend hingestreut,
daraus der Baum entstand, von dem die kommt.
Er war vielleicht bei einer, die er liebte,
und wie die Nacht verging und ihnen Küsse
den Sommerdurst nicht stillten, schälten sie,
im Bette aufgestützt, solch eine Frucht
und warfen ihre Kerne durch das Fenster
nach einer Fledermaus, die draußen schwirrte.
Sie wühlten in dem kühlen Fleisch der Frucht
und teilten ihren Duft und Purpursaft
mit trunknen Fingern, die in einer Welt
von Leben, Lust und Traum zu wühlen meinten –
und ihre Lippen teilten eine Welt!
Nun hat die Zeit dies alles umgekehrt
wie eine Sanduhr, und die ganze Welt,
rückflutend, ließ ihm nichts als diese Frucht zurück.
[573]
DER GRAF.
Ich führ in meiner Gondel ihn nach Haus:
er wohnt in einem Winkel der Giudecca,
wo morsche Leiber alter Schiffe liegen
und, langsam faulend, auf das hohe Meer
aus blinden Augenhöhlen –
REDEGONDA.
Wie! und ich?
Ich fahr nicht mit! Dort ist nichts als Gesindel,
hohläugige Kinder –
DER GRAF.
Kommen Sie nicht mit,
so finden wir uns auf der Piazza später,
in einer Stunde.

Die Redegonda tritt einen Schritt nach rückwärts, die Dienerin fährt den Alten weg.
VITTORIA
zu dem Grafen.
Schön ist an euch Deutschen –
daß ihr Liebende sein und doch zugleich
vom Vater und vom Bruder einen Schimmer
an euch bewahren könnt. Hier liegt ein Grund,
euch recht zu lieben, wenn man euch versteht.
REDEGONDA
flüsternd zum Baron, der zu ihr getreten ist.
So gib doch acht! Er würde mich ermorden!
DER GRAF
lächelnd.
Meint Ihrs auf den? Dann wärs von Söhnen etwas –
REDEGONDA
etwas rückwärts, zum Grafen.
Friedrich, Sie kommen nicht?
VITTORIA
zum Grafen.
Ich meins auf den
vielleicht, und auch auf die.
DER GRAF.
Ihr seid sehr gut –

Er küßt ihr die Hand, sie reden noch, langsam nach rückwärts gehend.
Die Gruppe am Klavier hat sich aufgelöst und mit Ausnahme der Marfisa, die sitzenbleibt, sind alle nach rückwärts gegangen.
BARON
rechts vorne zu Lorenzo, dem Alten nachsehend.
Das wird aus uns!
LORENZO.
Ich glaub, ich hab gehört,
daß er sehr schön war und von vielen Frauen geliebt –
[574]
BARON.
Nicht möglich! Hast du seine Lippen
gesehn?
LORENZO.
Es gibt vielleicht Gedichte drauf! Er sang
in einer seiner Opern – man verglich
die Lippen einer halbgeöffneten
Granatfrucht –
BARON.
Weißt du das?

Für sich.

Er ist nicht doppelt
so alt wie ich, und wär ers, wärs kein Trost!
Nur keinen Tag verlieren, keiner kommt zurück!

Er sieht, daß Marfisa allein ist, geht mit einer verbindlichen Bewegung gegen Lorenzo eilig zu ihr hinüber, spricht eifrig mit ihr; sie lacht. Lorenzo geht zu der Gruppe im Hintergrund. Von dieser lösen sich bald Cesarino und Vittoria und kommen wieder vor, jeder für sich, er links, sie rechts. Cesarino betrachtet den Baron. Dann bemerkt er Vittoria, geht lebhaft zu ihr. Beide stehen rechts im Mittelgrund, halb den zwei andern zugewandt. Indessen.
BARON
zu Marfisa.
Ich muß wahrhaftig heut vor Abend fort,
und doppelt gibt, wer gleich gibt, schöne Kleine!
MARFISA
lacht, scheint ihm etwas zu versprechen.
Vor Abend, das ist lang!
BARON.
Drei kurze Stunden!

Er zieht seine Uhr heraus, beide neigen sich über die Uhr. Marfisa streckt drei Finger in die Höhe, er küßt flüchtig ihre Fingerspitzen. Sie deutet, er solle jetzt zu den andern gehen.
CESARINO
lebhaft zu Vittoria.
Schwester, der fremde Mensch gefällt mir sehr –
VITTORIA.
Hat er denn viel mit dir geredet?
CESARINO.
Nein!
Allein die Art, und daß er wieder jetzt
mit der Marfisa spricht – schau, wie sie lacht!
ich weiß nicht, was es ist – ich hab ihn gern!
VITTORIA
küßt ihn auf die Stirn.
Stellst du dir vor, du möchtest gern einmal
so sein?
[575]
CESARINO.
Wie der? ganz so und nichts als das?
VITTORIA.
Ja, was denn noch? berühmt?
CESARINO.
Ja, auch berühmt!
Um alle auszulachen, die den Ruhm
wie eine große Staatsperücke tragen!
VITTORIA.
Wie trügst denn du ihn?
CESARINO.
Wie eine Schuhschnalle.
VITTORIA.
Wenn er jetzt herkommt, sprich noch mehr mit ihm,
und merk auf alles gut, was er dir sagt.

Marfisa ist aufgestanden und mit einem Blick auf Vittoria langsam und lautlos nach rückwärts gegangen, wo sie in der Tür rechts verschwindet.
BARON
tritt mit einer leisen Verlegenheit zu Vittoria und Cesarino.
Bruder und Schwester!
CESARINO.
Das sind wir doch wirklich!
Sie sagens so wie »Diana und Endymion«,
»Zeus und Europa«, ganz als ob es Masken wären.
VITTORIA.
Er ist zu unverschämt!
BARON.
Es ist sein Alter.
Ich muß ihn bitten, daß er mir du sagt,
daß wird ihn älter machen und mich jünger.
CESARINO.
Warum? es sagen Väter ja und Söhne
einander du!
BARON.
Doch Freunde auch. Es gibt
nicht wenig Städte, wo der ganze Adel
sich so zu Brüdern macht.
VITTORIA
zu Cesarino.
Laß dir von ihm
erzählen! Er ist viel gereist: die Welt
ist ihm ein offnes Buch.

Sie geht nach rückwärts, wo sich indessen alle empfohlen haben und Lorenzo allein zurückgeblieben ist.
CESARINO
eifrig zum Baron.
Die halbe Lust
am Reisen, denk ich, nein, mehr als die halbe
[576] muß in der Schnelligkeit – ich kann mich schlecht
ausdrücken –
BARON.
Aber was du meinst, hat Sinn:
Europa wird dein Haus, die Welt dein Garten,
der Wunsch erschafft dir Vaterländer,
die Hast ist schönste Trunkenheit!
CESARINO
nachdenkend.
Ja, das – und viel – Doch irgendwie
muß dann das Leben immer so –

Er hält inne.
BARON.
Das kommt von selbst.
Der umgegrabne Baum geht schnell zugrund,
uns gibt ein fremder Boden Riesenkräfte.
Die Märchen werden wahr, der Vogel Rockh
trägt dich in seinem Turban, Ariadne
hebst du in deinen Wagen, die Verlassne:
Städte versinken hinter dir, und neue
tauchen empor: weil du der Fremde bist,
bist du schon reizender als alle Andern:
die Schönsten sind an Felsen festgekettet,
doch du hast Flügel an den Fuß gebunden
und wo du auftrittst, haben sich im Flug
Perseus und Andromeda schon gefunden!
CESARINO
der jedes Wort von seinen Lippen trinkt; atemlos.
Warst du an einem Hof? und wie ists dort?
BARON.
Dort lernst dus jeden kurzen Augenblick
so leer zu saugen, wie ein Bettelkind,
das Trauben stahl, die letzte Beere aussaugt.
Und das ist gut, denn keiner kommt zweimal!
Geh jung an einen Hof und wenn du dort
herauskommst, bist du wie der Salamander,
der auch im Feuer atmet. Dort nur lernst du,
die Flatternde von vorne wild zu packen
an ihrem einzigen Büschel Haar, die Göttin
Gelegenheit! Dort lernst du, Dolche reden
und Gift aus deinen Blicken werfen, aber
du lernst auch, Augenblicke, die die Kraft
[577] von Blitzen haben, deinem Willen vor-
zuspannen, mehr in einem Blick zu schlürfen
als Perlen, die drei Königreiche wert sind,
und eines Atemzuges Frist zu stehen
auf einem Rad, dess Speichen Schicksal sind!
CESARINO.
Mir schwindelt!
BARON.
Nein, es ist nichts als Spiel,
darin der stärkste Wille aus Medusen,
die ihn erwürgen, wenn er sie nicht bändigt,
tanzende Grazien machen kann, ein Spiel –

Er legt die Hand auf Cesarinos Schulter und geht plaudernd mit ihm nach rückwärts.
Vittoria, hinter ihr Lorenzo, kommen stumm aus dem Hintergrund und bleiben links vorne stehen. Vittoria zeigt auf die Beiden.
Kleine Pause.
LORENZO.
Er denkt nicht daran, ihn uns wegzunehmen,
nicht wahr?
VITTORIA
den Blick zu Boden.
Er denkt nicht dran.
LORENZO.
So bist du froh?

Vittoria nickt, aber mit traurigem Gesicht.
Lorenzo tritt von ihr weg nach links. Sie steht, ans Klavier gelehnt.
LORENZO
für sich.
Warum ist sie nun traurig? Wieder Träume,
daran ich keines Schattens Anteil habe?
Ich werd nicht fröhlich, eh nicht der verschwunden:
so hängt noch immer Unheil in der Luft.
Fang ich aufs neue mich zu quälen an?
Nun ist nicht Nacht und morgen folgt nichts Beßres.

Der Baron und Cesarino kommen wieder nach vorne.
BARON.
Auch Kleider sind kein Ding, ganz zu verachten,
nichts ist bloß äußerlich: was wären Blumen?
In diesen Dingen steckt ein Teil von uns:
die Römer ließen Sklaven hinter sich
[578] hergehen, deren Köpfe schwer beladen
mit dem Gedächtnis wundervoller Verse
aus großen Dichtern waren: unsre Kleider
sind solche Diener, und sie atmen Träume,
die unsre eigne Phantasie erschuf.
VITTORIA
zu ihnen tretend.
Ich seh, daß Ihr Euch nur zu sehr versteht.
BARON.
So sehr, daß Euer Bruder mir erlaubt hat,
ihm so, als wär ich ein Verwandter, dies
engmaschige Netz zu schenken, das ein Ring
mit eingegrabenen arabischen Worten
verschließt, doch eines Edelmannes Hand,
großmütiger als dieser Heidenring,
aufschließen wird, bis kein Gefangner mehr
im Innern wohnt.

Er reicht ihm eine schöne gefüllte Börse.
CESARINO.
Die Hülse gern, doch tu dies Gold heraus!
BARON.
Wie, hätt ich dir einen Granatapfel
geschenkt, behieltest du die Schale nur
und würfest mir die Kerne vor die Füße
wie dieses Gold?
CESARINO.
Nein, dies wär Nahrung
für einen Augenblick.
BARON.
Laß deine Laune
den Mund weit auftun und dies Gold wird mehr
nicht sein als Nahrung eines Augenblicks!
CESARINO.
Ich kann nicht –
BARON.
Also weißt du nicht zu schenken,
da du so gar nicht anzunehmen weißt!
CESARINO
nimmt die Börse.
So muß ich wohl –

Baron scheint mit dem Blick jemanden zu suchen.
VITTORIA.
Die sind schon fort. Sie suchen?
BARON
schnell.
O niemand, niemand!
[579]
VITTORIA
zu Cesarino, der mit der Börse in der Hand unschlüssig dasteht.
Und was denkst du nach?
CESARINO.
Wir sind im Feenland: hier drinnen halt ich
ein seidnes Zelt, groß wie die Markuskirche,
Gewänder für zweihundert Sklavinnen –
und eines aus durchsichtigem Gewebe,
mit goldnen Schmetterlingen eingestickt,
mit einem Unterkleid mattgelber Seide,
liegt drauf und –
VITTORIA.
Heißt –
CESARINO.
Ich wollte sagen »glänzt« –
doch heißt? nun: heißt?
VITTORIA.
Marfisa Corticelli!
CESARINO.
Ja, liebe Schwester. O mach keine Falten
in deine schöne, liebe, helle Stirn!
Steht nicht so da und seht euch an und denkt:
er ist verliebt, das ist wie eine Krankheit,
man muß ihn hüten, er ist viel zu jung!
O laßt die Worte weg, sie sind Harpyen,
die Ekel auf des Lebens Blüten streun!
Bin ich so jung? Die Göttin Helena
war sieben Jahr, als Könige um sie
zu Felde lagen, und der Dichter Dante
neun Jahr, als ihm der Liebesgott im Traum
erschien und in Sonetten zu ihm sprach!
Die Seele hat kein Alter: dein und meine
sind Zwillinge, die deine nur die sanftre!
Wenn ich Musik gehört hab, ist mein Ohr
so voller Nachklang, daß ich Harmonien
der Sphären spüre, wenn ein Ruder leise
durchs Wasser gleitet: so verzaubert sie
mir meine Augen, wie Musik mein Ohr.
Seht den an, der meint alles, wie ichs meine!
VITTORIA.
So geh und kauf!
CESARINO.
Zwei Schiffe sind gekommen,
eins von Brabant und eins aus der Levante:
[580] da find ich, was ich such: denn ihre Maße
hab ich im Kopf, so wie die vielen Stimmen
der Palestrinamesse, die ich neulich
aus dem Gedächtnis aufschrieb in der Nacht.
VITTORIA
leise.
Er macht Musik aus allem, was er anrührt!
LORENZO
ebenso.
Wie wundervoll, daß solch ein wildes Wasser
zugleich die Gabe hat, so rein zu spiegeln!
BARON
küßt ihn auf die Stirn.
Geh, geh, mein Sohn, o wie ich dich erkenne!
CESARINO.
Für was?
VITTORIA
schnell.
Für einen frechen kleinen Burschen –
den hoffentlich die Leute auf dem Schiff
einfangen, ihn in einem andern Land
als Affen zu verkaufen.

Baron und Lorenzo reden indessen miteinander.
CESARINO.
Gut, dann spräng ich
ins Wasser und es käme ein Delphin
und trüge mich auf seinem Rücken fort!
VITTORIA.
So geh nur, geh!
LORENZO
zu Cesarino.
Nimmst du mich mit?
CESARINO.
Wie gern!

Er läutet, ein Diener kommt, bringt zwei schwarze Maskenanzüge.
Der Baron tritt zu Cesarino, flüstert ihm etwas ins Ohr, Cesarino hängt sich ausgelassen an seinen Arm.
Lorenzo legt den Arm um Vittorias Taille, führt sie ein paar Schritte nach vorne.
LORENZO
sehr heiter.
Weißt du, daß der Baron mir eben sagt,
daß er Venedig heute schon verläßt?
VITTORIA.
Wie, heute schon?
LORENZO
Ja, heut, und läßt sein Kind
mit heiterm Lächeln stehen, wo ers fand.
[581] Wie rätselhaft verschieden Menschen sind ...
Auch deine Mutter glich wohl dir nicht sehr!
Wie töricht war ich nur mit meiner Angst:
das weiß ich: diesen hast du nie geliebt,
auch nicht im Traum, auch nicht im bunten Traum!

Er wendet sich wieder zu den andern.

Leb wohl, Vittoria. Cesarino, komm!

Zum Baron.

Du aber, bitte, leistest meiner Frau
noch eine kurze Zeit Gesellschaft, ja?
Ihr müßt euch vieles zu erzählen haben,
wenn ich nicht irre. Sind die Masken da?

Lorenzo und Cesarino werfen die Masken über und gehen ab. Vittoria geht nach vorne links, lädt den Baron mit einer Handbewegung zum Setzen ein, er bleibt stehen, scheint befangen.
VITTORIA.
Nun geht dein Sohn mit meinem Mann und kaufen
ein Kleid für eine Tänzerin. Kein Märchen
geht lustiger aus. Die alten Tränen wurden
Goldflitter für ein buntes Maskenkleid,
du bist der Tänzer, ich die Tänzerin,
wir drehn uns einmal, dann gehst du hinaus,
ich hier hinein, und alles hat ein Ende.
BARON
küßt ihre Hand.
Du Liebe, Schöne, Gute!

Er wendet sich, nimmt seinen Hut von einem Lehnstuhl, wie um wegzugehen.
VITTORIA
sieht ihn nachdenklich an.
Viel, viel leichter
sind manche Dinge hier, wo sie geschehn,
als hier, wo wir sie träumen. Sonderbar!
Nun lassen sie uns eine halbe Stunde
allein, damit wir, wie auf dem Theater,
du mir, ich dir, in hundert Worten sage,
was zu erleben grad ein halbes Leben
hinreichte – und dann willst du wirklich fort?
BARON
den Hut in der Hand, rasch.
Noch heute, Liebe.
[582]
VITTORIA.
Heute! an dem Tag,
der dir dein Kind gegeben. – Dies ist wahr,
daß Frauen Mütter sind, und Männer – Männer.
BARON.
So kränkt es dich?
VITTORIA
achselzuckend.
Du mußt –
BARON.
Ich muß, Geliebte!
Sie sind mir auf der Spur. Aus Eifersucht
hat eine Frau –
VITTORIA
lächelnd.
Ist eine Frau im Spiel?
So mußt du wirklich, Frauen sind gefährlich!
Man sagts zumindestens. Ich war es nicht:
dir nicht, dem alten Mann nicht, nicht dem Dritten.
Vielleicht bin auch ich keine rechte Frau.

Sie tritt ihm einen Schritt näher.

Weißt du denn noch, wie über alle Maßen
achtlos, wie über Nacht du mich verließest?
BARON.
Nach den drei Tagen?
VITTORIA.
O nein, der drei Tage
gedenk ich nicht, der guten Zeit gedenk ich,
und ihres doch für dich so leichten Endes!
BARON
verlegen.
Du weißt nicht, wie das war.
VITTORIA.
Ich weiß es nicht
und hab es nie gewußt. Doch nun, mein Lieber,
erzähl mirs nicht, denn nun ist nicht die Zeit.

Tritt ein wenig zurück.

Nun ist die Zeit, von unserm Kind zu reden.
– – Der alte Mann, bei dem ich lang gelebt –
BARON.
Der Fürst von Pallagonia?
VITTORIA.
Diesen Namen,
der dich und mich nicht kümmert, der auf Erden
nichts als den Deckel einer Gruft bezeichnet,
den wußtest du, doch daß ein Kind, dein Kind
aufwächst, ein lebend Kind von dir und mir,
das hast du nie gewußt! so leben wir!

[583] Nach einer kleinen Pause.

Der alte Mann war gut. Mit wenig Kunst
könnt ich aus ihm mir einen Vater machen.
BARON
mit affektiertem Interesse.
Er?
VITTORIA.
Hat dies Kind gekannt und recht geliebt.
Ich hab ihn sterben sehn. Die Güter kamen
an seine Neffen.

Sie tritt an die Wand links, schlägt einen Gobelin zurück und läßt ein tiefes geheimes Fach aufspringen.

Diese Edelsteine,
die er mich anzunehmen sterbend bat,
sind das Korallenriff im Meer gewesen,
daran sich mit der Zeit ein kleines Erbgut
für mein – für unser Kind von selber hing.
BARON.
Von selber?
VITTORIA.
Ja, denn ich tat nichts dazu,
als daß ich sang. Wofür sie mich bezahlten,
der Schatten wars, den meine Seele warf,
wenn sie die Flügel schwang, um dich zu suchen.
Ich warf mein Netz nach Liebe, und ich zogs
mit einem Klumpen Gold empor. Allmählich
fand ich das Leben freundlich. Wie sie alle,
die Menschen, wie ein langer Maskenzug,
fast wie die Könige aus Morgenland,
die Gaben brachten für ein schlafend Kind,
an mir vorüberkamen und von allen
mir nichts zurückblieb als dies viele Gold –
BARON.
So ist er reich?
VITTORIA
lächelnd.
Wohl reicher als mein Mann.
BARON.
Der – ist der Dritte?
VITTORIA
läßt das Fach wieder zuspringen.
Ja, der Dritte. Du
der Erste, warst mein einziger Geliebter:
[584] doch weil das Leben Vater mir und Bruder
versagte, als ich hilflos war und klein,
so mußt ich sie im Leben suchen gehn
und fand zuerst den einen, dann den andern.

Sie zieht die Tapete wieder vor, tritt von der Wand weg.

Nun weißt du alles.
BARON
zieht einen Ring vom Finger.
Wenn dein Sohn so reich ist,
so wird ihn dieser Ring des Steines nicht
und auch – des Gebers wegen nicht erfreun:
so gib ihn du, von der er alles hat,
dem Kind an seines armen Vaters Statt!
VITTORIA.
Du nennst dich selber arm! Antonio, hör mich.

Nimmt ihn bei der Hand.

Er, ich, dies alles ist doch dein! dein Ding!
Du bist sein Vater, ich gehör zu ihm,
und er muß dir –
BARON
schnell.
Vittoria! still, Vittoria!
Wir müssen still vorüber aneinander,
still wie die beiden Eimer in dem Brunnen,
der eine geht nach oben, der ist voll,
der leere geht nach unten in das Dunkel.
VITTORIA.
Antonio!
BARON.
Ich bin heut nicht arm und morgen –
VITTORIA
ängstlich.
Lieber!
BARON.
Gib ihm den Ring und sag ihm dies dazu:
er kommt von einem, der mit tausend Armen
nach allen Freuden griff und wie ein Kind
mit allem wild zum Mund fuhr; der mit Lust
am Schein von Seifenblasen hing; der achtlos
ein wundervolles Herz hinfallen ließ,
um eine liederlich geschminkte Maske
zu haschen; der des Lebens Sklave hieß,
nicht altern konnte, und – dein Vater war!
[585] Gib ihm den Ring, und sag ihm nichts dazu.

Er wendet sich zum Gehen.
VITTORIA.
Wie, du willst gehen und ihn auch nicht erwarten?
Es ist noch früh am Nachmittag!
BARON
sieht auf die Uhr, verlegen.
Verzeih,
ich hab Verschiedenes zu ordnen, auch –
es wär ein Augenblick, was macht der aus?
VITTORIA.
So geh und ordne.

Sie läutet; an der Tür rechts vorne erscheint ein Diener.

Angelo, die Gondel
für den Baron.

Diener ab.

Wie du sie verstehst,
die Kunst, die ich im Leben nie erlernt,
die Kunst, zu enden! Wer das kann, kann alles.
Ich fing was an, da war ich sechzehn Jahr,
und heute hats kein Ende –
BARON.
Tuts dir leid?
VITTORIA.
Ich weiß nicht; geh.
BARON.
Leb wohl!
VITTORIA.
Leb wohl!

Sie wendet sich noch einmal um, geht an ihn heran; mit veränderter Stimme.

Antonio, weißt du, wie ich gestern nacht
zu dir kam? Nimm dirs als Erinnrung mit:
ich kam, so sehr die Sklavin eines Zaubers,
der von dir ausging – und doch nicht von dir –,
daß ich kaum mehr die Mutter deines Kindes,
kaum mehr ich selber war, die Sängerin,
vielmehr dein Ding, dein törichtes Geschöpf,
die kleine längst begrabene Vittoria.
Ich bin sehr froh, daß du das nicht gespürt
und mich mir selbst zurückgegeben hast.
Ich könnt auch dafür danken, daß du schuld warst,
daß ichs noch einmal spürte –
BARON
nähertretend.
O Vittoria!
[586]
VITTORIA
indem sie ihn mit einer leisen Gebärde abwehrt, leise.
Vorüber.

Von rückwärts kommt der Diener.
VITTORIA
dem Diener zunickend, lächelnd, laut.
Ihre Gondel wird gemeldet,
Baron!

Sie verneigt sich, der Baron verbeugt sich tief. Beide gehen ab. Der Baron verschwindet mit dem Diener im Hintergrund. Vittoria bleibt an der Tür links stehen, sieht ihm nach, bis er verschwindet.
VITTORIA.
Wie, geht er wirklich? Kann ers? ja, er geht!
Er geht. Was will ich weinen? Alles führt
ein gütiges Geschick zu sanftem Ende,
und mir bleibt alles, denn der eine geht,
aus dessen Mund der Blitz hätt fallen können:
denn ihn hält eine Tänzerin am Faden,
und den Magnetberg, dran sein morsches Schiff
einmal die Nägel läßt und elend scheitert,
birgt jedes Haus, aus dessen offnen Fenstern
geschminkte Lippen auf die Straße lächeln.

Sie setzt sich in einen Stuhl, schlägt die Hände vors Gesicht, weint. Nach einer Weile steht sie auf, geht auf und ab.

Er geht und dreht den Kopf nicht noch einmal,
das Haus zu sehn, in dem sein Kind zurückbleibt.
Mich dünkt, das wollt ich doch, was jetzt geschah!
Wie, oder log ich auch mich selber an?
Wie leicht und lustig ging dies alles aus!
Hätt ich ihn gestern abend nicht gesehn,
gelang mir heute niemals die Verstellung:
und wiederum, wär etwas von dem Erz,
das in dem Namen »Vater« dröhnt und klingt,
in seines Wesens weichen Lehm gemischt,
so ging er heut nicht so von dieser Schwelle!
An welchem Spinnweb oder welcher Kette
von Eisen hängst Du unser Schicksal auf,
Du droben?

Sie stößt mit dem Fuß an eine Orange, die aus dem Korb des Alten [587] gefallen ist, hebt sie auf und legt sie, ohne darauf zu achten, aufs Klavier.

Wohl, ich seh, dies ist nun so.
Des Lebens Wasser rinnen einen Weg,
und der Musik erschuf – dann kommt ein Tag,
wo er sie nicht erkennt, und sich von ihr
wegwendet: also auch geschah es hier.
Bin ich nicht die Musik, die er erschuf,
ich und mein Kind? ist Feuer nicht in uns,
was Feuer einst in seiner Seele war?
Was gilt das Scheit, daran es sich entzündet:
die Flamme ist dem höchsten Gott verbündet!

Sie geht mit leichtem Schritte zur Tür rechts vorne hinaus, erscheint gleich wieder auf der Galerie, öffnet dort eine kleine Tür und verschwindet. Die Bühne bleibt eine Weile leer. Dann kommt von rückwärts Cesarino, verlarvt. Er ruft.
CESARINO.
Vittoria! Vittoria!

Steht horchend in der Mitte der Bühne still, reißt die Larve vom Gesicht, horcht gespannter. Läuft durch die Türe rechts, erscheint gleich wieder auf der Galerie; beugt sich weit über und ruft herunter mit bebender Stimme.

Lorenzo, schnell! sie singt so wundervoll,
mir bleibt das Blut in allen Adern stehn!
Sie singt das große Lied der Ariadne,
das sie seit Jahren hat nicht singen wolln!
die große Arie, wie sie auf dem Wagen
des Bacchus steht! o komm, Lorenzo, komm!

Vorhang.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hofmannsthal, Hugo von. Dramen. Der Abenteurer und die Sängerin oder Die Geschenke des Lebens. Der Abenteurer und die Sängerin oder Die Geschenke des Lebens. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-7919-1