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Antwort an Herrn Johann Jakob Bodmer, Professor und des Großen Raths zu Zürich

1738.


O Freund, der, fern von mir, im Schooß der Vaterstadt
Noch itzt ein schätzbar Herz mir vorbehalten hat,
Wie soll dein Lied mein Leid, mein ewig Leid vermindern?
Kann eines Freundes Schmerz des Freundes Schmerzen lindern?
Nein, mein noch wundes Herz, von langer Wehmuth weich,
Fühlt alles, was du sagst, und weint mit dir zugleich.
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Es wünsche, wer da will, ein Herz, das nie sich bindet,
Das von der Liebe nichts, als den Genuß, empfindet,
Das vorige vergisst, ans künftige nicht denkt
Und nur ans jetzige sich, klug wie Thiere, henkt;
Das giebt die Weisheit nicht. Sie lehrt dich wohl die Wege,
Die nach der Hoheit gehn, verlernt und öde Stege!
Du hast, getrost durch sie, und kühn durch eigne Kraft,
Schon längst den Götzendienst des Wahnes abgeschafft,
Dem Ausdruck, Schall und Reim ihr wahres Amt erlesen,
Dem schönen der Natur zur Zierde, nicht zum Wesen,
Und Teutschlands künftig Volk den Weg zum Ruhm gelehrt,
Dann der wird niemals groß, der noch, was klein ist, ehrt.
Doch der Natur entgehn, der Thränen Aufruhr zwingen,
Dem Blute widerstehn, das wird dir nicht gelingen.
Dein zärtliches Gefühl, das jede Schönheit schätzt,
Das der Gedanken Preis aus Grund und Urtheil setzt,
Die Stimme der Natur erkennt in Miltons Thränen
Und Josephs Wehmuth fühlt und Philoctetens sehnen, 1
Das schadet dir, o Freund! es dehnt dir den Verlust
In ferne Folgen auch, es schließt die eckle Brust
Vor schnödem Troste zu, es öffnet deiner Klage
Die Aussicht ohne Ziel in unerwünschte Tage;
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Und ruft das werthe Bild und jeder Stunde Glück
Und jeden holden Zug zu deiner Qual zurück.
Wie aber fragst du dann, ob meine Schmerzen dauren?
Ich leide mehr als du, wie soll ich minder trauren?
Zwar ich gesteh dir gern, daß jedem, wann er weint,
Sein klagen billiger als alles klagen scheint;
Und kündig seiner Noth, von jener nicht gedrücket,
Er gern sein eignes Leid weit über alle rücket.
Doch hör auch dieses Herz, das alle Lust der Welt,
Das Wollust, Ruhm und Gold – ein schlechtes Lösegeld! –
Für Marianen bot; und gönne meinem leiden
Den Trost, den bittern Trost des Vorzugs unter beiden!
Ein Kind ist noch ein Baum, von eitlen Blättern grün,
Die Nachwelt erbt die Frucht, wir leben kaum zum blühn;
Ihr unerfahrnes Herz erwidert unser lieben
Mit unfruchtbarer Gunst und mit zertheilten Trieben;
Sie lieben, fürchten, thun und wünschen nur für sich,
Und ihrer jüngern Welt wird unsre hinderlich.
Viel anders ist ein Weib, das unter allen Wesen
Zu unserm Eigenthum sich selber auserlesen,
In dessen treuer Schooß das Herz entladen ruht
Und auch das innerste der Sorgen von sich thut;
Die mit uns wünscht und traurt, mit unsrer Ehre pranget,
Nichts anders hat als uns, nichts für sich selbst verlanget.
Ihr Leben ist für uns, der Jugend Frühlings-Zeit,
Der reifen Jahre Frucht ist alles uns geweiht,
Auch Fehler straft sie nicht und sucht die irren Sinnen
Mit zärtlicher Geduld sich wieder zu gewinnen.
Ein stärkrer Eigennutz, des Glückes Unbestand,
Raubt nie den sichern Freund, trennt nie das enge Band.
Bequemlichkeit und Zier wächst unter ihren Wegen,
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Und jedem Blick von ihr wallt unser Herz entgegen.
Wann die Natur sie noch mit äußerm Schmuck begabt
Und unser irdisch Herz mit Reiz und Schönheit labt,
Gewiß, so können sich die unverklärten Seelen,
Zum Himmel noch nicht reif, zum Glücke nichts mehr wählen.
So war, die ich verlor, an jedem Vorzug reich,
Gewählet für mein Herz und meinen Wünschen gleich.
Auf einer öden Au, an der gelinden Leine,
Besucht mich oft ihr Bild und höret, wann ich weine,
Ihr himmlisch Bild, das itzt das Licht der Ewigkeit
Mit stiller Majestät verherrlicht überstreut.
Mein Herz wallt aus der Brust, wann ich sie innen werde,
Ein klopfend ängstig Weh erhebt mich von der Erde,
Mein Sinn, verwirrt vor Angst, vor Schmerzen und Begier,
Wünscht bald sie wieder mein, bald aber mich zu ihr;
Bis Thränen endlich frei, nicht ohne Wollust, quillen
Und mein empörtes Herz mit sanfter Wehmuth stillen.
Ists möglich, sag ich oft, daß ich sie jemals sah?
Wie so gar nichts ist mehr von meinem Glücke da!
Ach! nur ein Blick von ihr, nur eine von den Stunden,
Die zwischen ihr und mir oft ungefühlt verschwunden,
Ein Laut, wie noch mein Herz zu hören manchmal gläubt,
Wann Lieb und Phantasie den langen Gram betäubt!
Nein, Zeit und Jahre fliehn und bringen sie nicht wieder,
Die Sonne steigt empor, geht sie vorher schon nieder,
Der Sommer weicht dem Herbst und eilet wieder her:
Nur für mich ist kein Trost, noch Mariane mehr.
O recht in seinem Zorn hat das gerechte Wesen
Mir dieses ferne Land zur Wohnung auserlesen!
Hier lag mir Angst und Qual gezählet und bereit
Und Marianens Gruft gegründt vor Ewigkeit!
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Wer bleibt mir? dieser Leib, der sich der Jugend schämet,
Entkräftet vor der Zeit, im Marke wund gegrämet,
Der von dem Gram erliegt und krank den Gram vermehrt,
Des Geistes Krankheit fühlt und wieder sie ernährt;
Mein Sinn, zur Freude taub, vom Unglück dumm getroffen,
Der nichts mehr wünschen mag, nichts würdiget zu hoffen,
Das jetzige verschmäht, zurück mit Thränen denkt
Und in das künftige mit schaudern sich versenkt;
Die Bücher, wo mein Geist von Kunst zu Künsten irrte,
Die Wälder, wo ich gern den öden Pfad verwirrte
Und oft ein lockend Kraut vergnügt in Unschuld brach
Und sann dann meinem Glück und Marianen nach;
Mein angebornes Land, wohin ich manche Blicke
Der Sonnen-Straße zu, nicht ohne Wünsche, schicke,
Wogegen hier mein Sinn, vielleicht wohl ungerecht,
Die Schöpfung traurig findt und Titans Licht geschwächt;
Die Freunde, wo mein Herz gewissen Trost gefunden,
Die Hoffnung mancher Müh und Zuflucht öder Stunden,
Dieß alles ist dahin; selbst meine Wissenschaft,
Wohin mein Geist erhitzt, mit angestreckter Kraft,
Sich forttrieb über Macht, wie Renner in den Spielen
Vor Ungeduld dem Pferd auf Hals und Mähne fielen, 2
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Wird itzt mir Pflicht und Last; mein Tand, die Poesie,
Sucht eine Stunde Ruh und bei mir ist sie nie;
So wenig als im Sturm, wann Mast und Segel brechen,
Ein Redner Worte wiegt und Zeit nimmt, schön zu sprechen.
Einst, da ich eine Nacht, wie Ernte-Tage lang,
Mit Gram und Ungeduld im leeren Bette rang,
Wann öde Schatten uns das Unglück schwärzer machen
Und, Unholdinnen gleich, die Sorgen mit uns wachen,
Schalt die Vernunft mein Herz, das allen Trost verwarf,
Und sprach mit einem Ton, den ich nicht tadeln darf:
Kurzsichtiger! dein Gram hat dein Gesicht vergället,
Du siehst die Dinge schwarz, gebrochen und verstellet.
Mach deinen Raupenstand und einen Tropfen Zeit,
Den nicht zu deinem Zweck, die nicht zur Ewigkeit.
Sieh Welten über dir, gezählt mit Millionen,
Wo Geister fremder Art in andern Körpern wohnen,
Der Raum und was er fasst, was heut und gestern hat,
Mensch, Engel, Körper, Geist, ist alles eine Stadt,
Du bist ein Bürger auch, sieh selber, wie geringe!
Und gleichwol machst du dich zum Mittelpunkt der Dinge!
Da deine Welt doch kaum ein Haus der kleinsten ist
Und du mit Bodmern noch in einem Zimmer bist!
Willst du, daß Gott dann selbst die ewigen Gesetze,
Die er den Welten schrieb, aus Gunst für dich verletze?
Soll, wann ein Dichter weint, der zarte Leib ein Stein,
Ein Fieber ohne Wuth, Gift ohne Würkung sein?
Wie kurz ist doch der Schmerz der allertiefsten Wunde!
Weint ein Unsterblicher beim Leid von einer Stunde?
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So machte, dächt er sonst und mäße seine Zeit,
Ein Haft die Dämmerung zu seiner Ewigkeit. 3
Der heute starb und der, den Gott aus Erde drehte,
Sind Rosen eines Stamms, verwelket früh und späte;
Das Leben einer Welt, verlebt in Ungemach,
Ist nur ein schwüler Tag, wo dich die Sonne stach;
Und eine kühle Nacht bringt eilends einen Morgen,
Wo nichts mehr übrig ist von Weltlust oder Sorgen.
Selbst Mariane denkt an dich und an ihr Band,
So wie ein Reisender zurück vom sichern Strand
Nach einem Freunde sieht, mit dem, in gleichen Fällen,
Er Wind und See geprüft und die Gewalt der Wellen.
Sieh, Gram und Ungeduld ist nicht der Weg zu ihr!
Der sie aus Güte gab, der nimmt mit Recht sie dir;
Sie sollte nicht dein Gott, du nicht ihr Himmel werden,
Und ihrer Schöpfung Zweck war nicht erreicht auf Erden.
Du schwinge selbst vielmehr des Geistes Kräfte los,
Nicht ewig für die Zeit, nicht für die Erde groß 4
Und höhrer Sorgen werth. Was dich zur Erde bindet,
Der Glieder träge Macht, das ganze Thier, verschwindet.
Sieh jenem Himmel zu, wo dem entbundnen Geist
Die aufgedeckte Welt im wahren Tag sich weist,
Wo unsichtbares Licht durch stärkre Augen strahlet,
Die Wahrheit sich in uns durch bessre Sinnen malet
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Und Gott – doch nein; er straft, wer ihm sich nicht ergiebt,
Wer eigne Neigung mehr als Gottes Willen liebt;
Er ist gerecht und stark für die, die sich empören –
Dieß sagte die Vernunft! o Freund, soll ich sie hören?

Fußnoten

1 Es sind Leute gewesen, die diese zwei Reime nicht verstehen konnten. Miltons Thrähnen sind seine betrübten Gedanken über den Verlust seines Gesichtes. Josephs Wehmuth ist die mit natürlicher Einfalt rührende Geschichte des Josephs im ersten Buche Mosis, wodurch ein großer Mann, bei dem die Menschenliebe sowohl als die Weisheit herrschte, auch nach oft widerholtem durchlesen allemal noch zum weinen gebracht worden ist. Philoctetens sehnen ist die Beschreibung der Klagen des in einer öden Insel verlassenen Philoctetes im Telemach, die ich nie ohne Wehmuth zu lesen vermocht habe.

2 Nonne vides, cum præcipiti certamine campum

Corripuere, ruuntque effusi carcere cursus,

Cum spes arrećtæ iuvenum, exsultantia haurit

Corda pavor pulsans: illi instant verbere torto,

Et proni dant lora: volant vi fervidus axis.

Georgic. III.

und

Nec si immissis aurigæ undantia lora

Concussere iugis, pronique in verbera pendent.

Aeneid. V.

3 Dieses ist der uralte Name, den man am Nieder-Rhein der Ephemera giebt, die Swammerdam und Réaumur beschrieben haben und davon Milionen in ganzen Wolken auf der Aare, am Rhein und an der Maaß sich in den heißesten Sommer-Abenden zeigen, die das Ziel ihres Lebens ausmachen, in soweit sie fliegende Thiere sind.

4 Ich habe gesehn, daß man diese Größe mir als eine Prahlerei aufgerückt hat. Sie ist aber offenbar so wenig als die Ewigkeit dem Dichter persönlich eigen und geht bloß auf den wirklichen Vorzug einer unsterblichen Seele.

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TextGrid Repository (2012). Haller, Albrecht von. Gedichte. Versuch Schweizerischer Gedichte. 23. Antwort an Johann Jakob Bodmer. 23. Antwort an Johann Jakob Bodmer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-336B-D