[15] Der Priester der Venus

Der Greis, der so viel Liebesgötter
In seinem Busen ausgeheckt,
Der sich auf zarte Lotosblätter
So oft bey Libern hingestreckt,
Der frohe Greis, der nie getrauert,
Als wenn vielleicht der Wein verdarb,
Der, von Lyäen selbst bedauert,
An einem Traubenkerne starb:

Der Greis Anakreon ward nach seinem Tode auf dem Wagen der Venus in die Insel Cythera gebracht, wo ihn zween Amors zu dem Throne der Göttinn führten. Sie lächelte liebreizend, da sie ihn sah, und sprach also:


Vor allen Dienern meines Thrones
Hast du mein Recht am eifrigsten geschützt,
Hast auf die Spötter meines Sohnes
Oft rächrisch, wie ein Zevs, geblitzt.
Empfang den Anfang deines Lohnes:
Mit diesem Kranz weih ich dich ein,
Der Priester meines Reichs zu seyn.

Einst, als ich Jüngling einen Faun hinter einer Nymphe stolpern, und sie neben mir im [16] Walde erhaschen sah, und itzt zuspringen wollte, ihm die schöne Beute zu rauben, um sie für mich zu behalten – fühlte ich mich plötzlich von Blumenfesseln zurückgezogen, die mir drey lose Mädchen unvermerkt um die Arme gebunden hatten.


Arglistiger! Untreuer! riefen sie,
Ha! soll man dich also, die Nymphen zu erhaschen,
In Wäldern lauschend überraschen?
Muß man dich darum nur so lange suchen? Wie?
Da spring itzt zu, und hasche sie!

Zieht mir die Arme nicht wund, liebste Mädchen! antwortete ich. Nur einen Augenblick laßt mich hier auf dem Moose ruhn; ich bin so müde, ihr Mädchen, so erschrocken. – Aber umsonst!


Zwo liefen mit mir fort, so sehr ich bat,
Die dritte jagte mich mit Drohungen und Minen
Und Liljenstengeln hinter ihnen,
Wie Amor einst dem Tejer that.

Alle Liebes-Götter klatschten über den lustigen Aufzug in die Hände. Auf diese Art kamen wir vor dem Anakreon in dem Tempel [17] der Liebe an, und die Mädchen drangen darauf, daß ich gestraft werden müßte. – Ihr Mädchen, sprach der Priester der Liebe, ich kann ihn nicht strafen; ich selbst bin nicht treuer gewesen, als er. – Aber wir werden den Jüngling nicht lieben, antworteten sie, wenn er uns untreu bleibt. – Sie stritten noch immer, als ich mit allen meinen Blumenfesseln davon lief, und eine vorüberfliehende Nymphe schon zehnmal geküßt hatte, ehe sie die Flucht nur bemerkten. Sind die Mädchen unsinnig, sagte die Nymphe küssend, daß sie Jünglinge finden wollen, die nicht untreu und flatterhaft sind?

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TextGrid Repository (2012). Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von. Gedichte. Tändeleyen. Tändeleyen. Der Priester der Venus. Der Priester der Venus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D4C3-3