Hedwig Dohm
Christa Ruland

[1] Frau Justizrätin Harriet Ruland hatte ihren Jour. Ihre Erscheinung, vom Kopf bis zu den Füßen, war von vollendeter Eleganz, ebenso wie das zierliche Theetischchen – japanisch, mit Elfenbein eingelegt – und der Salon selbst, dem nichts zu fehlen schien. Da waren die bildhübschen Bibelots, die Gobelins, die persischen Teppiche, die alten Stickereien, die übergroßen Chrysanthemen und originellen Orchideen in allerhand phantastischen Vasen mit symbolisch-figürlichen Verzierungen, und als Perlen – echte Kunstwerke.

Jeder, der diesen Salon betrat, hatte den Eindruck: hier empfängt eine Weltdame par excellence Gleich darauf aber drängte sich die Frage auf: wo aber wohnt die Frau? Es fehlte diesem glanzvollen Salon doch etwas: das Intime, die individuelle Physiognomie. Er war oder schien die Sonntagsschöpfung eines stilgeschickten Dekorateurs, der über große Mittel verfügt. Etwas zu Absichtliches war in der vollkommenen Harmonie der Farben und Formen.

Frau Harriet Ruland warf einen prüfenden [1] Blick über den Theetisch, ordnete die Früchte in dem Korb von Silbergeflecht und verbreiterte auf den Majolikatellern die Küchelchen und Sandwichs, damit sie quantitativer wirken sollten. Sie war eine zugleich ehrgeizige und sparsame Hausfrau.

An einem Nebentischchen, in der Nähe des Fensters, war der Theekessel an die elektrische Leitung angeschlossen. Das blasse, überschlanke junge Mädchen, das am Fenster stand, wartete auf das Sieden des Wassers.

Frau Harriet wandte sich zu ihrer Tochter: »Du sollst sehen, Christa, heute, gerade wo ich Migräne habe, werden wir einen ausverkauften Salon haben. Geselligkeit ist wirklich ein Stück Arbeit.«

»Warum hast Du denn diesen Jour eingerichtet, Mama?«

»Man erkauft damit die Freiheit der sechs übrigen Tage.«

»Du brauchst ja die Leute, die Du nicht magst, garnicht einzuladen.«

»Ach,« seufzte Frau Harriet, »man mag ja die meisten Leute nicht. Womit soll man den Salon füllen?«

»Muß man ihn denn füllen?«

Frau Harriet zuckte die Achseln.

Ein Mangel an Harmonie zwischen Mutter und Tochter sprang sofort in die Augen. Die Mutter war lebhaft in jeder Bewegung, mit immer wechselndem Mienenspiel. Junges, Kampfbereites, Lebenheischendes [2] war in ihrer Art. Die Tochter trug ein kühles, stilles Wesen zur Schau; zuweilen klang es wie verhaltene Ironie aus ihrem Ton. Sie widersprachen sich meist, wenn Christa überhaupt auf die Bemerkungen ihrer Mutter reagierte. Meist redete die Mutter, und die Tochter schwieg.

Nach einer Pause sagte das junge Mädchen: »Es sind doch Deine Jours, Mama, warum muß ich immer dabei sein?«

»Warum? weil es chik ist, daß ein junges Mädchen den Thee bereitet. Wozu hat man denn seine Töchter?«

»Ah – dazu!« Christa sah ihre Mutter etwas mokant an.

Der Blick reizte Frau Harriet: Herr Gott, es wäre doch jetzt mit der Elektrischen keine Arbeit, Thee zu machen. Gott sei Dank wäre die Zeit des Samowar vorüber.

Durch die offene Thür, die zum Speisezimmer führte, fiel Christas Blick auf den Samowar von dunklem Kupfer, der, auf dem Büffet aufs Altenteil gesetzt, nur noch ein beschauliches Dasein führte.

»Poetischer und anheimelnder war er doch als der nüchterne elektrische Kessel.«

»Wenn Du Dich verheiratest, schenke ich ihn Dir.«

Christa fuhr zusammen. Da war ja Mama bei ihrem Steckenpferd. Sie bestieg es resolut. Unfaßlich, was Christa an dem jungen Mann – er warb seit einem halben Jahr um sie – auszusetzen [3] habe? worauf sie denn warte? bei ihrem Charakter sei es durchaus wünschenswert, daß sie heirate.

»Wie ist denn mein Charakter, Mama?«

»Schwierig.«

»Und da hoffst Du, daß Dein junger Mann der rechte Petrucchio sein wird, um die böse Käte zu zähmen?«

Jedenfalls habe der Betreffende alle Eigenschaften, die sich eine Mutter für das Glück ihrer Tochter wünschen könne, sie würde keinen Zweiten finden, der so für sie passen würde.

»Aber Mama, woher weißt Du denn, wer für mich paßt, da Du doch ein ganz anderer Mensch bist als ich, mit ganz anderen Ansichten und anderem Geschmack. Du wirst doch nicht zu den altmodischen Müttern gehören wollen, die böse auf ihre Töchter sind, wenn sie sich nicht verheiraten.«

Eine solche Bemerkung würde sich Anne Marie nie erlaubt haben, die habe auf ihren Rat hin geheiratet und sei glücklich geworden.

Das Glück Anne Marie's – der älteren Ruland'schen Tochter – war ein immer wiederholtes Argument der Mutter, um Christa für die Ehe zu begeistern. Man hatte damals über die Heirat allerhand Glossen gemacht. Da aber niemand etwas Bestimmtes wußte, verstummte allmählich das Gerede.

Die Heirat Anne Marie's mit dem fünfzigjährigen Theodor Stern war in der That das Werk Frau Harriets. Stern, sehr reich, sehr angesehen, [4] war Inhaber eines der ersten Eisenwerke Deutschlands.

So sehr Frau Harriet ihre älteste Tochter liebte, war sie doch scharfsichtig genug, um ihre Charakterfehler richtig zu taxieren und zu – fürchten. Von diesem Schmetterling konnte man allerhand Tollheiten gewärtigen. Und eine Tochter im Hause, die ihren Ruf verloren, paßte ihr nicht. Also – fort mit ihr in die Ehe. Bei Christa waren leichtsinnige Streiche unwahrscheinlich. Dieses Mädchen aber mit ihren kritischen Mienen, ihrer ablehnenden Haltung genierte sie. Also – fort mit ihr in die Ehe.


Der Justizrat Gotthold Ruland hatte die Einnahme eines Millionärs. Er ersparte aber kein nennenswertes Vermögen. Der Bedarf im Haushalt war enorm. Er dachte nicht daran, sich irgend einen Genuß – und nur die ausgewähltesten Dinge bereiteten ihm Genuß – zu versagen. Aber auch Frau Harriet legte keinen Wert auf ein großes Erbe für die Kinder. Sie glaubte das Schicksal dieser Kinder in der Hand zu haben. Ihre Herrschaft über sie hielt sie für unfehlbar, ihre berechnende Klugheit auch. Ihr Schicksal sollte eine glänzende Heirat sein, eine Partie um jeden Preis.


[5] Die für Christa so unliebsame Unterhaltung wurde durch den Diener unterbrochen, der Frau Felix Thalheim meldete. Die Dame, die Gattin eines steinreichen Bankinhabers, wurde von der Hausfrau mit ausbündiger Liebenswürdigkeit empfangen.

Litt Frau Harriet darunter, daß sie noch nicht Geheimrätin war, so wartete Frau Adelheid Thalheim noch viel ungeduldiger auf die einfache Rätin. Geradezu unwahrscheinlich, daß Felix, ihr Gatte, der doch einen förmlichen Wohlthätigkeitssport trieb, es noch nicht einmal zum Kommerzienrat gebracht. Die arme Betrogene ahnte nicht, daß dieser Felix hinter ihrem Rücken den Titel ein für allemal abgelehnt hatte.

Frau Thalheim war in ihrer äußeren Erscheinung so ultramodern wie die Hausfrau, nur ihre Haltung war steifer. Sie vertrat einen Typus, der zwar noch existiert, aber schon im Aussterben begriffen ist: Die Naturtoilettendame. Sie ging ohne Rest in ihren Kleidern auf. Wie man von einem Reisenden erzählt, der die ganze Erde nur auf Schlachtfelder absuchte, so spürte sie in allem, was sie sah, Toilettenmotiven nach. Im Zoologischen Garten lernte sie an den Papageien Farbeneffekte. Theater, Gemäldegallerien waren für sie nur Ausstellungen von Kleiderfaçons. Der Anblick einer Schneelandschaft im Abendsonnenschein reifte in ihr den Plan zu einem schneeweißen Kostüm mit rötlich goldenem Besatz.

Sie gehörte zu den Leuten, die sich an Menschen[6] und Dinge nur leicht anleben, die leben und sterben, ohne sich je auf sich selbst besonnen zu haben. Sie fühlte sich aber dabei schön zufrieden, und amüsierte sich, soweit es ihre Toilette nicht derangierte.

Ihr Ruf war makellos. Man sagte ihr mit Recht eine Idiosynkrasie gegen Hüte der vorigen Saison nach, und da ihr Gatte durchaus verlangte – so sagte sie – daß sie zu jedem Kostüm einen passenden Hut trage, mußte sie enorm viel Hüte anschaffen, was ja insofern ein Segen war, als sie mit ihren abgelegten Hüten verschiedenen armen Verwandten unter die Arme greifen konnte.

Christa bereitete den Thee mit einer Langsamkeit, die ihre Mutter ungeduldig machte. In derselben langsamen Weise reichte sie dann den Thee. Es lag etwas Mechanisches in ihren Bewegungen, doch waren sie von einer ernsten Anmut, wie wenn eine Prinzessin Dienste leistet, für die sie nicht geschaffen ist.

Als Frau Adelheid ihr die Tasse abnahm, bemerkte sie verwundert das excentrische Kostüm des jungen Mädchens. Christa trug ein Kleid von rosarötlichem Sammet, eine Farbe von süßer, weicher Milde, die wie eine Liebkosung berührte. Eine prangende, orientalische Stickerei faßte den runden Ausschnitt und die langen, bis auf die Mitte der Hand reichenden Aermel ein. Aus dieser leuchtenden bunten Stickerei stieg blumenhaft der schlanke, etwas zu lange Hals, auf dem wie auf [7] einem zarten Stiel das kleine feine Köpfchen zu schwanken schien.

Frau Adelheid fand, sie sähe wie eine Märchenprinzessin aus. Ob sie Abends in Gesellschaft oder in die Oper ginge? »Nein.« – »Sie müssen wissen,« nahm Frau Harriet das Wort, »das ist Christas Hauskleid. Sie trägt es alle Tage, geht sie aber in Gesellschaft, so zieht sie sich möglichst langweilig und konventionell an, das Kleid bis ans Kinn geschlossen. Sie kann es garnicht geschlossen genug kriegen, das scheint de rigueur, wenn man originell sein will. Als Kind schon wollte sie Sonntags, wenn sie schön geputzt war, mit der Kinderfrau nicht auf die Straße gehen, sie schäme sich so vor den Leuten.«

Christa schwieg. Frau Adelheid hatte Takt genug, von dem Thema abzulenken, indem sie die Schneiderinnenfrage anschnitt, wobei sich herausstellte, daß sie endlich die Silbermeier, ihre bisherige Schneiderin, abgeschafft habe; die wollte nämlich nicht mehr zum Anprobieren kommen, weil ihr die Thalheimschen zwei Treppen zu hoch waren, und da die berühmte Silbermeier ihre drei Treppen nicht abschaffen wollte, verzichtete Frau Adelheid auf die Silbermeier, wozu sie eigentlich verpflichtet war, um Felix willen, der ihr nur noch Pariser Toiletten erlauben wollte.

Frau Harriet fand es unpatriotisch, das Geld ins Ausland zu tragen.

O, sie wäre nicht für Lokalpatriotismus. Es [8] sei ihr ein Bedürfnis, zwischen den Nationalitäten versöhnend zu wirken.

»Und sind doch Antisemiten?«

»Aber nur aus Ueberzeugung,« beteuerte sie.

Nachdem die Toilettenfrage von der Dame, die noch nicht Rätin war, hinreichend ventiliert worden, brachte die Dame, die noch nicht Geheimrätin war, die Litteratur – ihre eigenste Domaine – auf's Tapet, wobei sich herausstellte, daß Frau Adelheid sich auf diesem Gebiete naivster Unkultur erfreute. Da Bücher keine Hüte waren, gehörte es nicht zu ihren Gepflogenheiten, sie zu kaufen. Sie erkundigte sich in der Leihbibliothek immer nach den Romanen, die am meisten gelesen wurden, und die las sie.

Frau Harriet benutzte die Gelegenheit, um ihren litterarisch geschulten Geist leuchten zu lassen, wurde aber verstimmt, als sie ein paarmal dem Blick Christas begegnete, der, wie sie meinte, mit malitiösem Ausdruck auf ihr ruhte. Unausstehlich, daß dieses Mädchen dieselben Journale las wie sie. Zwar versteckte sie sie in der Regel, vergaß es aber auch oft. Von einer belesenen Tochter immer belauert zu werden, – mein Gott, man ist doch keine Spinne, die immer alles aus sich selber heraus arbeitet.

Frau Adelheid, die höflicherweise das schweigsame junge Mädchen ins Gespräch ziehen wollte, fragte nach dem Stand ihrer Studien.

»Ich besuche die Gymnasialkurse nicht mehr. Mama will, daß ich zum Diner zu Hause bin. Sie [9] mag nicht, daß man mir nachserviert. Sie hält das für eine Untergrabung des Familienlebens.«

Sie sagte das gleichmütig, ohne Anstrich von Spott.

»Habe ich nicht recht?« verteidigte sich Frau Harriet, »ja, wenn die Kurse in den Vormittag fielen, aber Nachmittags von 4–7 Uhr. Und um 6 ist unsere Dinerstunde. Zu der Zeit kann ich auch weder die Jungfer, noch den Diener entbehren, die sie doch hinbringen und abholen müßten.«

»Da natürlich ein einundzwanzigjähriges Mädchen nicht allein über die Straße gehen kann,« sagte Christa mit demselben kalten Gleichmut.

»Nein, das kann sie nicht, wenn sie das Glück hat, zu den oberen Zehntausend zu gehören.«

Die Thür wurde aufgerissen, und wie vom Wind hereingeweht, erschien eine nicht mehr ganz junge, ungemein interessant aussehende Dame, die von der Hausfrau gönnerhaft und obenhin begrüßt wurde: die Malerin Anselma Sartorius.

Anselma Sartorius war vorläufig noch nicht berühmt, Geld hatte sie keins. Frau Harriet hatte ihr kürzlich notgedrungen ein Bildchen abgekauft – für ein Hinterzimmer natürlich. Unberühmter Leute Bilder waren nicht für den Salon, selbst wenn diese Bilder Kunstwert gehabt hätten. Uebrigens hatten Anselmas Bilder noch keinen Kunstwert.

Als sie sich Frau Harriet näherte, lag in ihrem Gang etwas von der geschmeidigen, sich schlängelnden Vorwärtsbewegung junger Tiger. Sie hatte[10] große, glühende Augen. Atlasglatte, schwarze Scheitel rahmten ihr ganz weißes Gesicht ein. Unter ihren Bekannten hieß sie »der Vampyr«.

Anne Marie war der Meinung, Anselma dichte sich einen Dämon an, und spiele mit diesem imaginären Kobold wie ein Kind mit der Puppe. Christa aber glaubte an Anselmas Dämon und lauschte mit intensivem Interesse ihren Seelenentblößungen.

Die Malerin lebte wie in einem feurigen Dunst, flatterte, haschte, ahnte, glühte, durstete und brütete auf einsamen Spaziergängen über süperben Plänen. Die belebtesten Straßen Berlins, wo es rasselte, brauste und wie in einem Hexenkessel um sie her brodelte und brandete, das war für sie die rechte, die tiefste Einsamkeit. Da schritt sie hindurch, wie Orpheus durch die Unterwelt, die Harfe im Arm, dithyrambische Akkorde auffangend, Entwürfe koncipierend.

Sie malt einen Todesengel durch Wolken brausend, die mächtigen schwarzen Flügel vom letzten Sonnenstrahl angeglüht, aus den Augäpfeln weiße Blitze sprühend. Sie malt ein üppiges Gastmahl: Nero in einer säulengetragenen marmornen Halle, Rosen fallen von der Decke, purpurne Gewänder, funkelnde Weine in rubinfarbenen Kelchgläsern – Schönheit, Rausch. Auf der Schwelle zum Saal steht ein Gespenst, verhüllt in ein schleppendes, weißes Gewand. Unter der Kapuze ein furchtbares Gesicht, die Augen zinnoberrot: Die Pest. Oder sie malt eine Judith in den Armen des Holofernes, wie [11] sie den Kopf mit dem Ausdruck einer begeisterten Priesterin emporwirft, den Kopf, der von dem Leibe nichts weiß.

Das heißt, sie malte das alles in Gedanken, in Wirklichkeit brachte sie es nur zu flüchtigen Skizzen. Die Ausführung wurde ihr schwer, es fehlte ihr an Technik. Ihre Schulung war eine dürftige und dilettantische gewesen. Die Akademie war jungen Mädchen nicht zugänglich, die Ateliers der ersten und vornehmsten Maler waren der mittellosen Malerin zu teuer. Sie hatte im Gewerbemuseum nach Gyps gezeichnet und hier und da dieses oder jenes Atelier besucht. In einem dieser Ateliers hatte sie Christa kennen gelernt.

»Sie müssen eine phantasiereiche Schneiderin haben,« bemerkte nach der ersten Begrüßung Frau Adelheid mit einem Blick auf das lockere, halb griechische Gewand, das die Malerin trug. »Darf man ihren Namen wissen?«

Anselma lachte. »Ich und eine Schneiderin! ich bin meine eigene Schneiderin und behelfe mich meistenteils mit Stecknadeln. Dieses mein Gewand ist aus einem alten Cachemirshawl meiner Großmutter zusammengenestelt.«

Wie üblich, fragte man auch alsbald, was Anselma unter dem Pinsel habe. Sie legte den Finger an die Lippen: »Ein Geheimnis.«

Frau Adelheid hielt es für notwendig, ihre warnende Stimme zu erheben: Fräulein Sartorius möchte sich um Gottes Willen nicht einer der neusten [12] Richtungen zuwenden, wo man vor den Bildern immer nicht weiß, ob man lachen oder sich ärgern solle. Da habe sie neulich in einem Kunstsalon ganz verrücktes Zeug gesehen, von einem Holländer – Toroop hieße der malende Herr.

»Ja, ganz verrückt,« bekräftigte Frau Harriet, »dieser lächerliche Linienapostel mit seinen symbolischen Skeletten und tollgewordenen Strichen, die sich in grotesken Totentänzen verrenken.« Auf dem Bilde Sphinx z.B., da kribbele und krabbele es von reihenweis liegenden oder hockenden Geschöpfen, eine ganz neu erfundene Sorte von Geschöpfen, eine Art heruntergekommenener Mumien; und alle sähen unter ihren gelblichen Kapuzen wie Kürbisköpfe aus, in die man ein paar Linien gezeichnet, die Gesichter bedeuten sollen.

»Ich teile Ihre Ansicht nicht, gnädige Frau,« sagte Anselma. »Mich packen diese Bilder mit ihrer stilisierten Erhabenheit, wie tragische Chorgesänge. Gerade auf dem Bilde ›Sphinx‹. Alle diese unzähligen völlig gleichen Arme und Hände, die alle mit den gleichen abwinkenden rhythmischen Gebärden sich gegen die Sphinx emporrecken, wirken wie langgezogene Weherufe, die in unendlichen Echos wiederhallen, Traumbilder eben Gestorbener, deren Hirn noch nicht erkaltet ist. Ein Losreißen vom Irdischen in schmerzlich brünstiger, mystischer Frommheit.«

Christa nickte Anselma zu. »Ja, das finde ich auch. Stilles Grauen schleicht einem bei diesen [13] Geister-Hallucinationen durch die Seele. Ein Rausch der Askese sind sie.«

»Natürlich,« spöttelte Frau Harriet. »Christa ist immer anti, selbst wo es sich um grimassierende Kürbisköpfe handelt.«

»Fräulein Julia König wünsche das gnädige Fräulein zu sprechen,« meldete der Diener.

Julia, eine Studienfreundin von Christa, war in Ungnade bei Frau Harriet und wurde, als nicht fein genug, von ihr im Salon nicht empfangen. Anselma sprang auf: das träfe sich gut. Sie habe etwas mit Fräulein König zu bereden.

Das junge, und das nicht mehr ganz junge Mädchen verließen den Salon.


Frau Adelheid sah ihnen mit einem leichten Kopfschütteln nach, einem sehr leichten, ein stärkeres hätte ihre Frisur derangieren können. Ihr Ton war etwas hoch, als sie sagte: »Ihre Tochter, liebe Freundin, entwickelt sich ja – sie suchte nach einem Wort – recht interessant.«

»Gott ja doch,« war die mißlaunige Antwort, »aber es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich habe noch immer erreicht, was ich wollte. Eigentlich begreife ich nicht, wie ich zu dieser Tochter komme. Vielleicht,« meinte sie nachdenklich, »mein Mann hat in der Jugend gedichtet, und meine eigene Mutter [14] zeichnete Köpfe nach Gyps; eben als sie zur Oelfarbe übergehen wollte, heiratete sie. Gräßlich, wie man seit Ibsens Gespenstern pietätloserweise immer seine Eltern kontrolliert.«

»Es ist Ihnen doch so gut gelungen, Anne Marie zu einer vollendeten jungen Weltdame zu erziehen.«

»Ja, Anne Marie!« Frau Harriets Augen leuchteten auf. »Da war ein guter Fonds vorhanden. Ich brauchte nur herauszulocken, was in ihr steckte. Aber Christa! ich denke noch immer mit Schrecken an ihr erstes Gesellschaftsdebüt. Da war ein Baron von außerhalb, den wir eingeladen hatten, ein schüchternes, ganz junges Bürschchen, ganz fremd in unserem Kreis. Er drückte sich in den Ecken herum, Christa sollte sich seiner annehmen. Sie wollte nicht. Sie wisse nichts mit ihm zu reden. So ganz obenhin sage ich: Fange damit an, ihn zu fragen, wie ihm Berlin gefällt. Was thut Christa? Sie marschiert stramm auf ihn los, pflanzt sich gerade vor ihm auf, donnert ihn an: ›wie gefällt Ihnen Berlin?‹ und – schwenkt wieder ab.«

Und dabei habe sie es doch an mütterlichen Lehren und Ermahnungen, an Eifer, ihr Gesellschaftsroutine beizubringen, – inklusive ganz diskreter Andeutungen wie sie – in feinster Weise natürlich – kokettieren dürfe – in keiner Weise fehlen lassen. Eine anmutige Haltung, Munterkeit, Liebenswürdigkeit, wie eine Konversation zu führen, ein zierliches, elegantes Briefchen zu schreiben sei, (letzteres halte sie für einen Hauptpunkt in der Töchtererziehung), [15] für alles das habe sie versucht, das störrische Mädchen – –

»Abzurichten!« schaltete Frau Adelheit taktlos ein.

Förmliche Gesellschaftsproben habe sie mit ihr abgehalten. Bei Tisch und auf Spaziergängen sei abwechselnd französisch und englisch gesprochen worden. Und was das Mädchen gekostet! Die Graziestunde, jede Woche einmal eine kunstgeübte Haarwäscherin und eine Maniküre, warme Bäder mit Essenzen selbstverständlich u.s.w. »Sagen Sie selbst,« schloß sie das Eigenlob ihrer Erziehungskunst, »kann die vorsorglichste Mutter mehr für ihre Tochter thun?«

Mit aufrichtiger Bewunderung sagte die Dame, die noch nicht Rätin war: »Nein!« Ob vielleicht das junge Mädchen in der Wahl ihres Umganges nicht vorsichtig wäre? z.B. dieses Fräulein Sartorius mit ihrem komischen Putz...

Frau Harriet verteidigte die Malerin. Wenn Frauen kein Geld hätten, dann zögen sie sich eben malerisch an.

Frau Adelheid begriff umsoweniger Christas Sonderbarkeiten, da sie doch für ungewöhnlich klug gelte. Man sage allgemein, sie habe den Geist des Vaters geerbt.

Es beleidigte Frau Harriet, daß die Tochter nur den Geist vom Vater geerbt haben sollte, und sie sagte etwas spitz: »Wenigstens hat sie meines Mannes Eigenschaft, allen Leuten die Wahrheit zu sagen, das heißt Unangenehmes, welches letztere sich ja allerdings [16] meistens mit der Wahrheit deckt.« Ihr Mann habe Christa den Beinamen »Madame Abseits« gegeben, weil sie immer anders wollte, als alle Andern, immer, wie er sich ausdrückte – anti – sei.

Ein neuer Besuch, der gemeldet wurde, unterbrach die Unterhaltung.


Daß Gotthold Ruland auch Christas Nase »anti« fand – abseits von der Ruland'schen Familiennase, die sich nichts heraus nahm – hatte Frau Harriet nicht erwähnt. Diese Nase hätte nicht größer sein dürfen; sie sprang etwas vor, fein und scharf geschnitten, wie gemeißelt, an der Spitze etwas kantig, im Profil kaum merklich gebogen, die Nasenflügel leicht gebläht; förmlich eine dionysisch genußsüchtige Nase, meinte der Vater. Zu dieser geistreichen Nase paßten die graugrünlichen Augen nicht recht, die unter tiefen, breiten Augendeckeln halb versteckt, leicht einen träumerischen, wie nach innen horchenden Ausdruck annahmen. Zuweilen sprach sie mit geschlossenen Augen; schlug sie sie dann, auf irgend einen Anlaß hin, groß und voll auf, so war die Wirkung dieser leuchtenden Sterne berückend.

Wie Frau Harriet jetzt das erwachsene Mädchen nicht verstand, so hatte sie auch früher das Kind nicht verstanden. In ihren Augen war Christa von jeher trotzig, impertinent und boshaft gewesen, ohne Sinn für Wohlanständigkeit und gute Sitte. Und sie hatte [17] sich so viel Mühe gegeben, die Keuschheit in der jungen Seele zu pflegen. Nie durfte das Brüderchen mit den Schwestern, als sie noch alle drei Babys waren, in einem Zimmer schlafen. Umsonst. Eines Tages überraschte sie Christa, als sie mit kleinen Jungen Pferd spielte. Die Jungen hatten sich nackt ausziehen müssen, weil Pferde keine Kleider trügen. Und die Unanständigkeit solcher Nacktheit hatte sie nicht einmal begriffen.

Zu Frau Harriets Erziehungsprizipien gehörte das Prügeln eigentlich nicht. Christas Trotz aber schien ab und zu diese Strafart herauszufordern. Einmal war sie wegen ihrer Unordentlichkeit gescholten worden. »Aber Mama,« sagte das impertinente Kind, »der Lehrer in der Schule hat doch gesagt, die Kinder erben alles, auch alle Fehler, von den Eltern, oder auch von den Großeltern. Warum schimpfst Du mich denn so aus? Die Großmama wird sich im Grabe umdrehen, weil Du mich wegen ihrer Unordnung so heruntermachst.« Darauf die Prügel. Das Kind vergoß keine Thräne und gab keinen Laut von sich, sie sah die Mutter immer nur mit großen, drohenden Augen an, so daß – wie Frau Harriet sich später ausdrückte – einem die Lust zum Prügeln ganz verging. Und mit einem Male sagte sie zornsprühend: »Warum dürfen alte Leute so junge Kinder schlagen?« Frau Harriet war empört. Sie alt! eine Frau von kaum 30 Jahren.


[18] Es giebt Kinder, die immer Tragisches erleben, das heißt, alltägliche Dinge verwandeln sich für sie in tragische Ereignisse. Ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen und das sie tot finden, ein gruseliges Märchen, das sie von einer wirklichen Begebenheit nicht unterscheiden. Ein solches Kind war Christa, ein gesundes zwar, aber ein zart organisiertes, naiv und altbärtig zugleich, und über die Maßen sensibel. Sie begrüßte einmal eine Verwandte, die den Kindern Bonbons mitzubringen pflegte, mit den Worten: »Guten Morgen, Frau Bonbon,« schämte sich aber sogleich so sehr ihrer niedrigen Gefräßigkeit, daß sie in heftiges Weinen ausbrach.

Ein anderes Mal hatte sie sich die Erlaubnis erquält, aus einem Automaten Chokolade zu entnehmen. Sie dürfe aber die Chokolade nicht essen, sagte ihr Fräulein, weil es schlechtes Zeug wäre, an dem die Kinder sich den Magen verdürben; sie solle sie einem armen Kinde schenken.

Dem ersten ärmlich gekleideten Kinde, das ihnen begegnete, gab Christa die Chokolade. An der Straßenecke aber blieb sie stehen, und ehe ihr Fräulein es hindern konnte, lief sie zu dem Kinde zurück: es soll die Chokolade wieder hergeben. Das arme Kind hatte sie schon aufgegessen. Christa konnte sich garnicht beruhigen. Nun würde das arme Kind krank werden. Sie schlug auf ihr Fräulein los, die wäre schuld daran. Und aus der Küche holte sie ein paar giftig grüne Aepfel, die zum Kochen bestimmt waren, [19] und fraß sie mit der Schaale in sich hinein. Nun gerade wollte sie auch krank werden.

An ihren Geburtstagen versteckte sie sich. Sie hatte Furcht vor den Geschenken, das heißt, die Geschenke hatte sie gern, aber den umständlichen Apparat dabei, daß sie so feierlich ins Zimmer gerufen wurde, alles bewundern, den Eltern um den Hals fallen und sich schön bedanken mußte. Sie war immer froh, wenn die Ceremonie vorüber war. Und erst wenn sie im Zimmer wieder allein war, hatte sie die richtige, intensive Kinderfreude an den Geschenken.

Ueberhaupt interessierten die Menschen sie nicht. Alles andere in der Natur war ihr befreundeter, vor allem die Tierwelt, wenigstens so lange bis ihre Sensibilität dieser Liebe ein Ziel setzte. Im Sommer in einem Seebad hatte sie mit einer kleinen Freundin Marienwürmchen von den Blättern abgesucht. Sie nannte sie Mariechens. In einer Schachtel trug sie sie glückselig nach Hause. Sie bohrte Löcher in die Schachtel, damit die Mariechens Luft bekämen, und alle halbe Stunde öffnete sie die Schachtel, um zu sehen, ob sie noch lebten. Als sie aber eines Tages bemerkte, wie ganze Haufen dieser Tiere auf toten Fischen herumkrabbelten, und man ihr sagte, daß sie sich davon nährten, warf sie alle ihre Mariechens zum Fenster hinaus.

Eine Zeitlang hatte sie auch den Ameisen liebevoll nachgespürt, bis sie diese munteren Tierchen auf großen Käfern und Regenwürmern als Massenmörder betraf, die ihre Opfer grausam zu Tode [20] quälten. Selbst die hübschen kleinen Vögelchen fraßen ja lebendige Würmer. »Ich kann nicht leiden, was Andere auffrißt,« sagte sie.

Die Tierwelt war ihr verleidet, und sie wandte sich anderen Naturgebilden zu. Alles hielt sie für lebendig, auch die unorganischen Dinge. Sie glaubte Anne Marie nicht, daß das Wasser kein Leben hätte. Es lief doch und bewegte sich, und es murmelte, und manch mal am Meer brüllte es sogar.

Seitdem sie in der Märchenwelt heimisch geworden, wo es von Blumengeistern, von verzauberten und erlösten Dingen wimmelte, wollte sie auch erlösen. Sie blies bis zur Atemlosigkeit auf ein Eisstück. Das tote Wasser, das da hineingezaubert war, wollte sie wieder lebendig machen. »Warum machst Du denn solchen Unsinn?« fragte Anne Marie. »Ich mache mir Gedankenspiele,« sagte sie.

Sie hatte gesehen, wie jemand auf einen Kieselstein schlug, bis Funken daraus sprühten. Aha, da in den Stein hinein war also Feuer gezaubert. Sie sann, wie sie den Zauber lösen könne. Ja, wenn sie so stark wäre, wie der liebe Gott. Der bohrt sich ein Loch in himmelhohe Felsen, und da kommen Flammen heraus, und die nennt man Vulkan. Wäre das Feuer tot, so könnte es doch nicht Andere verbrennen und das Essen gar kochen.

Sie starrte oft stundenlang in den Kamin, auf das Knistern und Prasseln des Holzes lauschend. Sie wollte die Feuersprache lernen. Jemand sagte damals von ihr: »das ist ja ein ganz verseeltes Geschöpfchen.«

[21] Ihre Kinderfrau und später ihre Fräuleins konnte sie mit Fragen umbringen. Wie es im Paradiese aussähe, ob die Engel sich auch Sonntags putzten, und ob ihnen die Flügel angewachsen wären. Was denn aus den leeren Särgen würde, in denen die Gestorbenen gelegen? »Aber sie bleiben doch darin,« sagte die Kinderfrau. »Aber nein, Kinderfrau, sie werden doch Engel und kommen in den Himmel.«

Zum Weihnachtsfeste bekamen die Kinder gemeinschaftlich einen wundervollen Pfau geschenkt, der lief zu ihrem Entzücken durch den ganzen langen Speisesaal. Als Christa aber einmal sah, wie der Vater ihn in die Hand nahm, ihn umdrehte, und mit Geklirr eine Schraube in seinem Bauche aufzog, war der Zauber für sie gebrochen. Sie bekam sogar Angst, in ihrem Leibe könnte auch eine solche Schraube sein, und wenn sie im Bett einschlief, dann wäre eben die Schraube abgelaufen, und wenn nun der liebe Gott vergäße, sie am nächsten Morgen wieder aufzuziehen, so wäre sie gewiß tot.

Ihre Neugierde erstreckte sich auch auf ihre eigene kleine Person. Sie mochte zehn Jahre alt sein, als sie, an einem stürmischen Tage, im Seebad einen Fischer bat, sie in seinem Kahn mit aufs Wasser zu nehmen. Ob sie sich sehr ängstigen würde, das wollte sie erfahren. Und sie ängstigte sich fürchterlich, fand aber nachher, daß die Angst eigentlich wunderschön gewesen war.

Je älter Christa wurde, je mehr wuchs ihr grüblerischer Erkenntnisdrang, ihre Neigung, an Menschen,[22] Dingen, an sich selbst Kritik zu üben. Alles wollte sie verstehen, alles kennen lernen. Zum Entsetzen der Mutter bestand sie sogar darauf, bei der Entbindung der Schwester zugegen zu sein, eine Unkeuschheit, die – nach Frau Harriets Ansicht – mit der Idee des Aktzeichnens ihren Höhepunkt erreichte.


Christa hatte ihren Vater sehr lieb, ihre Schwester Anne Marie auch, aber ihre Mutter und ihren Bruder Dietrich, die hatte sie nicht lieb. Der Vater war ihr sehr interessant, die Mutter nicht im mindesten. Sie wußte genau, was Mama bei dieser oder jener Gelegenheit sagen würde. Sie achtete auf den Wechsel in ihren Zügen, auf das, was sie sprach, wie sie sich bewegte, und sie wunderte sich über ihre erkünstelte Lebhaftigkeit, wie glatt ihr die konventionellen Lügen über die Zunge gingen und wie sie ihre Gäste, je nach dem Wert, den sie ihnen beimaß, einfach oder splendid bewirtete.

Frau Harriet war eine typische Persönlichkeit. Ihre Mutter hatte den fossilen Einfall gehabt, sie Henriette taufen zu lassen, ein Name, der gelegentlich in Jette entartete. Sie korrigierte den mütterlichen Mißgriff, indem sie die Henriette in Harriet umwandelte, ebenso wie sie Christine (nach der Mutter ihres Gatten so genannt) in Christa veredelte.

Die Frau Justizrätin war ganz und gar ein [23] Kunstprodukt: Selbstmache, eine bescheidene nur, denn sie begnügte sich, eine Kopie der Modelle zu sein, die sie bewunderte. Nüchternen, praktischen Sinnes, war sie außer Stande, selbst etwas zu ersinnen, zu erfinden. Sie begeisterte sich immer nur für das Allermodernste, gleichviel ob Hüte, Dichter, Komponisten, Kleiderfaçons. Wäre entsagende Tugend und Rindfleisch Mode geworden, sie hätte auch das mitgemacht. Sie trug Haartrachten, die sie entstellten, weil sie Mode waren. Seitdem in der Modewelt das Croquetspiel dem Lawn-Tennis gewichen war, rührte sie keine Croquetkugel mehr an. Sie war der Gegensatz einer Unzeitgemäßen, allzu zeitgemäß.

Sie galt für schön, war es auch, wenn sie es sein wollte. Gelegentlich, im Geheimen, wenn niemand sie sah, konnte sie auch häßlich sein. Die Inscenierung war bei ihr Hauptsache. Die Mithilfe der Natur bestand in reichem, dunkelblondem Haar, einem klaren Teint, lebhaften braunen Augen und festen, weißen Zähnen. Sie sah prachtvoll gesund aus.

Ihre bedeutenden Charaktereigenschaften: Energie, Temperament, Konsequenz, verschwendete sie an einen unbezähmbaren, kleinlichen Ehrgeiz. Um eine glänzende Rolle in der Gesellschaft war es ihr zu thun. Ihr Salon, das war der Spiegel, der ihr den eigenen Wert zurückstrahlte. Ihr Haus sollte der Mittelpunkt einer erlesenen Gesellschaft sein, sie wollte einen Salon à la Rambouillet, oder wenigstens à la Rahel Varnhagen. Sie kaufte Bilder von berühmten[24] Malern, nicht um der Bilder, sondern um der Künstler willen, die ihren Salon schmücken sollten. Geniale junge Dichter durften ihre Erstlingswerke in ihrem Salon vorlesen; nicht selten verließen sie ihn mit Größenwahn geimpft. Sie verlor ihre Ziele nie aus den Augen, arbeitete ihre Pläne bis ins kleinste Detail aus, nichts war ihr Nebensache, und sie erreichte fast immer, was sie erreichen wollte.

Ihre Ehe war in den ersten Jahren kinderlos gewesen, trotz der jederzeit wohlausgerüsteten Kinderstube. Sie kriegte aber auch den renitenten Klapperstorch klein. Allmählich kamen die Kinder, in größeren Zwischenräumen, ein Sohn und zwei Töchter, und nach einer zwölfjährigen Pause wurde der jetzt achtjährige Heinz geboren.

Ihr Hauptziel aber, den Salon à la Rambouillet, erreichte sie nicht. Es fehlte ihr an Kritik und echtem Geist. Sie konnte Allzusterbliche von Unsterblichen nicht unterscheiden. Die Allüren der Genialität nahm sie für die Genialität selbst, eine Tagesberühmtheit für einen Klassiker der Zukunft. Eine langweilige Excellenz war ihr des Titels wegen erobernswert.

Christa sah, daß ihre Mutter immer Komödie spielte. Und es kam ihr so sonderbar, so unerklärlich vor, daß diese Frau ihre Mutter war. Sie grübelte darüber. Es konnte doch nicht wahr sein, daß die Kinder die Eigenschaften der Eltern erben. Sie fand in sich nichts ihnen Verwandtes. Und Anne Marie [25] und sie – was hatten sie Gemeinsames? Es mußte da wohl noch etwas anderes geben, wovon selbst die Allergelehrtesten nichts wissen.

Und der Vater – ja – da war doch etwas ihr Verwandtes, sie konnte es aber nicht definieren. Sie studierte ihn förmlich, geizte nach seinem Lob. Sie genoß seinen Geist wie eine Delikatesse. Freilich kam sie allmählich auch hinter seine Schwächen. Sie erkannte den starken Dualismus seiner Natur.

Gotthold Ruland schämte sich eigentlich – trotz Lessing – seines Vornamens, er hätte gern seinen zweiten Namen, Fritz, an die Stelle des Rufnamens gesetzt; ein heimlicher Aberglaube hielt ihn davon zurück, so, als könnte ihm Gott dann nicht mehr hold sein.

Er hatte Geist und Witz, viel Geist. Er war ein vollendeter Skeptiker, mit kleinen Intermezzos rückläufiger Sentimentalitäten. Er konnte Aeußerungen thun, die cynisch klangen, obwohl er allerwegen für eine Moral eintrat, die mitunter an die rigorosen Bestimmungen der Lex Heinze streifte. Er handelte aber auch danach – meistens wenigstens.

Als junger Mann hatte er sozialistische Gesinnungen und künstlerische Neigungen gehegt, und dabei einen brennenden Ehrgeiz, in die Höhe zu kommen, in die höchste Höhe. Allmählich aber erlahmte seine Flugkraft, und er bequemte sich zu einem Aufstieg auf breiter, ebener Chaussee, und je weiter er es in seiner Carriere brachte, je mehr dachte er sich [26] seine früheren radikalen Ansichten ab. Er wurde mit der Zeit ganz konservativ, indem er sich unbewußt der Denkweise seiner Klientel, die hauptsächlich aus der Aristokratie bestand, anpaßte. Er wollte vergessen, was er früher gedacht und geplant, und allmählich vergaß er es wirklich, mit der ganzen Hingebung des Renegaten.

Einen inneren Widerspruch ließ er nicht aufkommen, obwohl er zuviel Geist hatte, um sich nicht ab und zu zu ertappen. Ein feiner Lebenskünstler war er, der sein Gewissen in der Gewalt hatte und nie verlegen war, für sein Denken und Handeln ethische Motivierungen zu entdecken. Und belästigte ihn doch einmal eine innere Stimme, er hatte immer ein Schweigegeld bereit, das von seinem berechnenden Verstand bestritten wurde. Er war sein eigener, sehr geschickter Anwalt. Als Rechtsanwalt hatte er gelernt und lernen müssen, auch eine schlechte Sache mit scharfen Verstandesmitteln zu verteidigen. Das kam dem Lebenskünstler zu gut. Sein flacherer Geist bekämpfte unausgesetzt den tieferen, bis der letztere unterlag und es nur noch ab und zu aus der Tiefe emporklang wie von versunkenen Glocken.

Er schliff fortwährend an den scharfen Ecken seines Verstandes, damit sie ihn nicht selbst verletzten, hielt sich aber dadurch schadlos, daß er die Nebenmenschen, soweit ihn sein berechnender Verstand nicht warnte, mit der ganzen Wucht seiner Geisteswaffen anfiel, und zuckten die Getroffenen schmerzhaft zusammen, so war ihm der Anblick der Verletzten unbehaglich. [27] Entweder sorgte er sofort für ein Pflaster, oder er kehrte ihnen den Rücken.

Wie Cäsar keine hageren Leute, so wollte er keine Unglücklichen und Elenden um sich sehen. Er bemerkte einmal wie ein armer alter Mann auf der Straße ein Stückchen Brot aus dem Straßenschmutz nahm und es gierig aß. In wütender Rede ereiferte er sich gegen den Schmierfinken, beschleunigte aber unwillkürlich seine Schritte, und als er den »Schmierfinken« an der Straßenecke einholte, drückte er ihm ein Fünfmarkstück in die Hand.

Wer ihm imponierte, gewann schnell Einfluß auf ihn, es imponierten ihm aber nur Leute, die den Erfolg auf ihrer Seite, die der Welt Anerkennung abgezwungen hatten. Ein Genie ohne Erfolg hätte ihn kalt gelassen, obwohl er befähigt gewesen wäre, es zu erkennen. Er war ein Weltgläubiger.

Interessante Vorkommnisse gab es für ihn nur in den Kreisen, die er für maßgebende hielt. Er hatte ein eigentümliches, unschönes, sich überhebendes Lächeln, wenn man in seiner Gegenwart von den Angelegenheiten oder Schicksalen von Leuten sprach, die für ihn sans conséquence waren, ein Lächeln, das sagen sollte: wie kommt Ihr dazu, mich von Hinz und Kunz zu unterhalten. Hinz und Kunz existieren für mich nicht.

Er war willensstark innerhalb des Gebietes, wo er seiner Macht sicher war, oder wenn es galt, Unannehmlichkeiten oder lästige Ansprüche von sich fern zu halten. Seine Kraft erlahmte aber an jedem [28] energischen Widerstand, teils weil er trotz seiner tyrannischen Ader von Hause aus garnicht willenskräftig war, teils weil ihm die Sicherheit der eigenen Meinung fehlte. Er hatte ein heimliches Mißtrauen gegen sich selbst.

Karge Mittel im elterlichen Hause hatten ihm keine Muße für andere als die notwendigen Fachstudien gelassen. Als Student hatte er durch Privatstunden seine Existenz bestreiten müssen. Und er empfand den Mangel einer breiten wissenschaftlichen Ausbildung peinlich. Zwar war er, wie seine Gattin, ein Anbeter des Erfolges, er war ehrgeizig und eitel wie sie, bei ihm aber galt alles seiner Person. Harriet kämpfte wie eine Löwin für den Ruhm ihres Salons, er war bei ihr Selbstzweck. Hatte sie eine erlauchte Persönlichkeit – auf welchem Gebiet immer – für ihren Salon eingeheimst, so strahlte sie in Befriedigung, mochte die Erlauchtheit sich auch gar nicht um sie kümmern, mochte sie ihr unsympatisch sein.

Gotthold Ruland kam es immer nur auf den Genuß an, den er persönlich von einer Sache hatte, ihr auf den Schein für Andere. Sie machte sich z.B. nicht viel aus Luxus. Roter Plüsch und Oeldruckbilder hätten es auch gethan. Ausgewählte Speisen schmeichelten ihrem Gaumen nicht, sie hatte sogar eine ausgesprochene Neigung für Hausmannskost und genierte sich nur vor der perfekten Köchin, dieser Vorliebe freien Lauf zu lassen. Sie brauchte das Auserlesene für ihre Gesellschaften, ihr Gatte brauchte es für sich.

[29] Sie glaubte in ihrer Beschränktheit blindlings an sich, traute sich alles zu und erinnerte sich nie, woher sie ihren Geist, ihre Urteile und Ansichten bezog. Er hatte Stunden von feinster, peinlichster Selbstkenntnis.

Uebrigens imponierte ihm seine Gattin in ihrer Tüchtigkeit und Energie. Er nannte sie öfter im Scherz »Lady Macbeth«.

Frau Harriet hatte für die Geistreichigkeit ihres Mannes nicht viel übrig. Anne Marie auch nicht, trotzdem sie dem Vater geistesverwandter war als Christa. Sie hatte seine Selbstsucht, seinen skeptischen Esprit, nur mit mehr Grazie und – Falschheit. Sie war eine geistige Tänzerin, während seinem mit Reflexionen belasteten Geist ein gut Teil Erdenschwere anhaftete. Wenn sie vom Vater sprach, sagte Anne Marie immer: »der Epikuräer«. Gelegentlich machte sie sich sogar über ihn lustig, z.B. als er verlangte, daß man am Bußtag ernsten Betrachtungen nachhängen oder am Todtensonntag auf den Kirchhof gehen sollte. Sie schlug die Hände über den Kopf zusammen: »Kinder, Kinder! was soll das werden! Sogar für den lieben Gott hat Papachen neuerdings etwas übrig.«

Dietrich fand, der Vater hätte recht; was ihn beträfe, er würde am Sonntag auf den Kirchhof gehen, (hinterher ging er heimlich doch nicht hin) und er würde am Bußtag ... und überhaupt ... Er machte eine geringschätzig abwehrende Bewegung, [30] als wäre, was er noch zu sagen hätte, doch zu hoch für weibliche Fassungskraft.

Dietrich war ganz der Sohn seiner Mutter. Ohne weiße Schuhe Lawn-Tennis zu spielen, wäre ihm ebenso unmöglich gewesen, als im Ueberrock zu erscheinen, wo der smoking am Platz war, und daß jemand zu Austern Rotwein trinken könne, hielt er für Banausentum.

Anne Marie zog ihn am Ohr: »Brüderlein fein, Brüderlein fein, wie heißt doch der Vers in Eurem Kommersbuch? ›Ob ich auch Collegien schwänze, fehlt ich im Kommershaus nie. Brüder, ehrt das Burschenleben – Brüder, 's ist so eng begrenzt. Darum laßt die Lehr Euch geben: Pauket wacker, sauft und schwänzt.‹« Dietrich zog den Mund in die Breite, zischte durch die Zähne: »Mädels!« und wütend schoß er zur Thür hinaus.

»Himmelsstürmer! Titane!« spottete Anne Marie ihm nach. »Und so'n Brüderchen studiert nun Kunstgeschichte. Warum? wahrscheinlich als Vorwand um – natürlich in Luxuszügen – Kunstreisen zu unternehmen und Italien, Griechenland und Umgegend durch sein elegantes Reisekostüm und seine Codexigkeit aufzuregen.«

Christa fand, daß Dietrich eigentlich typisch sei für die modernen Jünglinge, die ja meistens Streber oder Sportsmen wären.

»Weißt Du, Anne Marie, es interessiert Dich zwar nicht, aber – es ist so: Wir Mädchen treten jetzt die Erbschaft der Jünglinge von ehemals an. [31] Wir sind jetzt die ideale Jugend, wir der Frühling. ....«

»Titanidchen, Dummchen! rege Dich nur nicht auf. Es kommt ja doch immer ganz anders.«

»Das hast Du vom Vater, immer Asche aufs Feuer. ...«

»Damit kein Schaden geschieht,« lachte Anne Marie.

Gotthold Ruland liebte seine jüngere Tochter mehr als die ältere, vielleicht weil er in ihr den feurigen Elan seiner Jugendjahre wieder erlebte, das fliegende Hinaufverlangen zu irgend welchen Idealen, die er jetzt freilich als Seelenentgleisungen verspottete. So oft aber diese Töne angeschlagen wurden, immer klang eine Harfensaite in ihm mit.

Schon einige Jahre vor ihrer Einsegnung stand eins bei Christa fest: sie wollte etwas werden, etwas Bedeutendes. Fast alle ihre Mitschülerinnen wollten auch etwas werden. Es lag in der Zeitströmung. In ihrem 14. Jahre hatte sie mit begeisterter Anteilnahme ein paar klassische Stücke im Theater gesehen und sich ganz mit der Vorstellung durchdrungen, daß die Bretter nicht nur die Welt, sondern alles Glück und allen Ruhm bedeuteten.

Ein Gedichtchen, das sie verfaßt, trug sie dem Vater zu seinem Geburtstag mit feierlichem Pathos vor. Er lobte Vortrag und Dichtung. Sie dürfe sich eine Gnade ausbitten. Umgehend forderte sie seinen Segen für ihre Theaterlaufbahn. Der Vater lachte.[32] Anne Marie habe ja sogar Tänzerin werden wollen. Derselbe Thatendrang, nur eine andere Couleur. Hie Tanzbein! hie Seelentänze!

Sie wollte schmollen.

Uebrigens – er habe garnichts dagegen. Es brauche doch aber nicht gleich heute zu sein. Vorläufig bei der schönen Winterzeit solle sie ihren mimischen Furor auf dem Eise entladen.

Er schenkte ihr zu diesem Zweck ein Paar der teuersten und modernsten Schlittschuhe. Vom Theater war nicht mehr die Rede.


Als Christa mit Anselma in ihr Zimmer trat, lag Fräulein Julia König auf dem Teppich, unter dem Kopf ein orientalisches Kissen. Sie sah dunkelrot aus und rollte die Augen, halb in Pose, halb in wirklichem Zorn.

Christa ging schnell auf sie zu: »Wie siehst Du denn aus? was ist geschehen?«

Julias Nasenflügel blähten sich, sie knirschte: »Die Gymnasialkurse – ich muß sie aufgeben, wie Du.«

»Auch wegen der Familiendiners?«

»Spotte nur noch. Nein, blos darum, eben darum, Mamachen will es. Ich soll nach Hause kommen. Was soll ich denn so früh in Dresden?«

Julia war kaum mittelgroß, weich von Gliedern,[33] knochenlos. Die blauen, ein wenig hervorquellenden Augen blickten herausfordernd, begehrlich, zupackend. Immer löste sich ein Geriesel von Locken aus ihren Flechten, und sie liebte es, mit ihren kleinen, vollen Händen in ihrer blonden Mähne zu wühlen. Den Mund hielt sie meist halb geöffnet. Und diese durstigen Lippen mit den leicht vorgeschobenen weißen Zähnen machten den Eindruck, als hätten sie immer Lust zu beißen oder zu küssen. Ihr Gang war breithüftig, wiegend, allzu weiblich. In ihrer ganzen Erscheinung lag etwas Weichwelliges, Vollblühendes, Ueppiges, beinah Feistes.

Sie war 24 Jahre alt und sehr hübsch. Sie trug ein weißes Kleid. In dem Kleid aber waren Flecke.

Sie hatte es im Hause ihrer Eltern, einer korrekten Beamtenfamilie, nicht ausgehalten: ein Haus, wo man nur Familienblätter las, wo man Abends um den runden Familientisch handarbeitete; und zum Abendessen gab's immer dünnen Thee und kalten Aufschnitt. Ein Familienleben, wie es im Buch steht.

Sie hatte so lange mit den Eltern gehadert, bis man ihr endlich, kampfesmüde, die Gymnasialkurse in Berlin gestattete. Eine möglichst billige Pension, wo sie sich nicht sattessen konnte, wurde für sie ausfindig gemacht.

Und nun rief man sie zurück, teils weil die Geldmittel knapp wären, teils weil sich glänzendere Aussichten – so schrieb die Mutter – für sie böten. Den Glanz kannte sie: ein älterer Witwer mit einer gutgehenden [34] Fabrik und einigen ungezogenen Rangen. Sie dächte garnicht daran, sich ins Bockshorn jagen zu lassen. In verschiedene Zeitungen hätte sie schon Annoncen rücken lassen. Die erste beste Stellung nähme sie an, selbst bei Familien, wo es Abends auch nur dünnen Thee und kalten Aufschnitt geben würde.

Julia aß sehr gern, möglichst viel Fleisch, und sie trank auch gern, aber nicht dünnen Thee, lieber Wein, und wenn sie ihn nicht haben konnte, allenfalls Bier, aber echtes.

Sie sprang auf, schüttelte die Mähne und reckte die Arme in die Höhe, im Gefühl ihrer Kraftfülle.

»Ich lasse mich nicht klein machen. Ich will mein eigenes Leben haben. Uns Jungen gehört die Zukunft. Entweder sind die Eltern unsere Alliierten, oder – wir werden ohne sie fertig. Meine Mutter ist eine entfernte Verwandte von mir. Mein Vater nicht einmal das. Er kennt mich nicht, ich kenne ihn nicht. Meine Mutter hat mir erzählt, daß ihr Mann – was mein Vater ist, – nach meiner Geburt sechs Wochen kein Wort mit ihr geredet habe, weil ich, das Aelteste, ein Mädchen, nicht ein Bub geworden war.«

Christa stimmte ihr zu, daß die halben und viertel Erlaubnisse der Eltern greulicher wären als ein resolutes Nein.

»Nicht wahr? Das Nein treibt uns unter Umständen zur Verzweiflung, und Verzweiflung gebiert kühne Entschlüsse, z.B. das Auskneifen. [35] Christa aber ist ein Feigling. Gott, wie sie mager ist,« lachte die üppige kleine Julia, »man weiß garnicht, wie das noch enden wird. Wachse nur nicht schief.«

»Was soll ich denn aber thun?«

»Los von Muttern!«

»Ich habe ja gar kein Geld.«

»Ich auch nicht. Geld haben wir Mädchen ja nie. Unsere Brüder sind dazu da, es zu kriegen. Wenn unsere Eltern für uns ein Uebriges thun, so schicken sie uns auf ein Jahr in eine Pension, in die Schweiz oder nach England for accomplishment. Die Brüderchen, wenn sie auf die Universität ziehen, kommen von jedem Zwang los, wir sollen erst recht gezähmt werden. Was von Natur und freiem Wesen uns noch anhaftet, soll abgeschliffen werden. Unter die Glasglocke mit uns! Und sind wir wieder zu Hause und – schauderhaftes Wort – mannbar, so fahndet das ganze Haus auf einen Mann für uns. Und dabei nimmt man den Mund so voll von unseren immensen Gefühlen – besonders wenn man uns den Verstand absprechen will – von unserer natürlichen, schönen Wildheit und Ursprünglichkeit, aber – alles unter der Glasglocke!«

Sie riß das Fenster auf, als brauche sie mehr Luft. »Ich habe sie, ich habe sie – die immensen Gefühle, die schöne ursprüngliche Wildheit – ich zerschlage sie – die Glasglocke.« Sie sah sich nach einer Glasglocke um; da keine vorhanden war, begnügte sie sich mit der symbolischen Handbewegung [36] Natürlich, das habe er garnicht anders erwartet, des Zerschlagens.

»Julia spielt wieder einmal die Rabiata,« sagte Anselma.

Sie war aber schon wieder nicht mehr rabiat, sank vielmehr faul auf den Teppich zurück. Kleine Locken ringelten sich wie Schlangen in ihre Stirn hinein.

»Ach ja, wir – Esel ist wohl zu hart, also Schafe – wir haben förmlich das Gefühl, Böses zu thun, wenn wir Abends allein über die Straße gehen, oder wenn wir in einer Conditorei eine Tasse Chokolade trinken und dabei den Blick eines Mannes – aushalten. Ich breche mit diesen Albernheiten, ich breche ...« Sie hielt inne, etwas geniert von der Art, wie Anselma sie anstarrte.

»Warum starrst Du Julia so an?« fragte Christa.

»Weil sie mein nächstes Modell sein wird.«

»Modell, wozu? zu einer Herodias? einer Hero? Wie ich Dich kenne, muß Tod und Liebe dabei sein. Der Tod ist übrigens jetzt furchtbar modern.«

»Was ich malen will, ist so kühn, so neu, Ihr würdet es nicht fassen.«

»Nehmen Sie doch Christa zum Modell. Ihr Kopf ist viel interessanter als der meine.«

Das ist er. Sie aber, Julia, sind eine ganze, ungebrochene Persönlichkeit. Ein Vollweib. Christa ist schon allzu sehr von des Gedankens Blässe angekränkelt, mir zu kompliziert. Sehen Sie sich doch [37] dieses unregelmäßige, widerspruchsvolle Gesicht an.«

»Bin ich wirklich so kompliziert?«

»Das bist Du. Etwas blaublumige Romantik, etwas Iphigenie mit den dazu gehörigen Tempelhallen, die phrygische Mütze stülpst Du Dir auch gelegentlich auf. Und für Mystik bist Du, und Häckels Welträtsel gefallen Dir auch, und an die Abstammung des Menschen vom Affen glaubst Du.«

»Da hätte ja Mama recht,« sagte Christa mit einem etwas erkünsteltem Lächeln, »wenn sie mich ein Chamäleon nennt.«

»Einiges spricht allerdings für das Chamäleon,« bekräftigte Julia. »Sie wissen es vielleicht nicht, Anselma: Erst will sie Schauspielerin werden. Ihre ganze Seele brennt dramatisch, sie deklamiert, daß die Wände wackeln. Sie decouvriert sich Papachen. Papachen erlaubt es nicht. Wahr oder nicht?«

»Ungefähr!«

»Sie kuscht. Dann will sie Krankenwärterin, Nonne oder so etwas Aehnliches werden. Papachen sagt wieder nein. Darauf entdeckt sie ihr künstlerisches Talent. Wie es zum Aktzeichnen kommen soll, schaudert Mamachens Innere auf. Es geht ihr dabei zu bloß zu, und kein Mann würde ein Mädchen heiraten wollen, das ... u.s.w. Sie hört auf, weißes Blatt zu sein, was ein Hauptvergnügen für den Mann scheint, manche sollen nur wegen der Weißblätterigkeit heiraten. Also diesmal hat's Mama nicht erlaubt. Sie merken schon, Anselma, daß Mama und Papa es immer abwechselnd nicht erlauben. Die [38] fromme Christa legt das Aktzeichnen zu dem Uebrigen.«

»Weißt Du, Julia,« unterbrach Christa sie nachdenklich, »ich glaube, ich hätte als Bildhauerin nichts Besonderes geleistet. Darum ließ ich mich erst garnicht in einen Kampf mit Mama ein.«

»Ach was, l'appétit vient en mangeant, und das Talent kommt beim Arbeiten. Darauf ein neuer Anfang: die Gymnasialkurse. Nach einem Jahr schnappt's schon wieder, Sie wissen schon, wegen der Dinerstunde.«

Anselma, die fürchtete, daß Christa sich verletzt fühlen könnte, fragte, um das Gespräch zu wechseln, ob Julia schon eine Stelle in Aussicht habe.

Mehr als eine. Sie nähme aber eine Stelle nur auf kurze Zeit an, um über die erste Geldlosigkeit fortzukommen.

»Und was dann, Julia?«

»Sehr einfach. Ich werde Schriftstellerin. Dazu gehört Gott sei Dank keine Erlaubnis. Im Notfalle wählt man ein Pseudonym.«

Sie war schon halb getröstet. Sie wollte gleich Papier kaufen und Notizbücher, die Schriftsteller immer bei sich haben, um alles zu notieren.

Christas Einwendungen begegnete sie damit, daß sie ihr Sofakissen an den Kopf warf. Sie hatte ab und zu einen Drang, sich irgendwie auszutoben. Sie schwang sich auf das Fensterbrett, baumelte mit den Beinen und verlangte eine Cigarette. Christa [39] hielt für sie immer Cigaretten bereit. Mit Behagen blies sie zierliche Rauchringe durch die Nase.

»Ja, Christa, wenn ich wie Du wäre, da hätte ich schon mein Billet nach Dresden – dritter Klasse natürlich – gelöst. – Weißt Du, mir zu Liebe werde doch auch Schriftstellerin. Aber – ach Gott nein, Du willst ja Volksrednerin werden.«

»Eine schöne Volksrednerin, die keine Gelegenheit hat, das Volk kennen zu lernen.«

»Borge Dir von Eurem Küchenmädchen ein Umschlagetuch, und hinaus ins feindliche Volk, in die Wärmehallen, ins Asyl für Obdachlose, in die Verbrecherkeller...«

»Ohne männliche Begleitung? Wir können ja nicht einmal allein reisen.«

Julia sprang vom Fensterbrett und warf die Cigarette fort. »Meinst Du, wir könnten das alles nicht? Gebt mir Insektenpulver und einen Revolver, und ich kanns. Nicht etwa wie Du aus verstiegenem Altruismus, – so ein allgemeiner Menschenfreund bin ich nun einmal nicht – man kann aber derartige Abenteuer auch für Novellen und Romane wundervoll verwerten. Die soziale Frage ist augenblicklich in den Romanen ebenso interessant wie – sie zog das Mündchen rund zusammen zu einem Pfiff – die Lübe.«

»Ja Du! Aber es hat nicht jeder Dein Temperament und...«

Julia rollte die Augen – den »schönen Wahnsinn« zu markieren, und sträubte ihr Haar auseinander.[40] »Kinder, wenn ich nun wirklich ein Genie wäre! dann brauchte ich all Euren Bildungskrimskrams nicht. Vor dem Genie heben sich die Dächer aller Menschenwohnungen ab, es ist hellsehend, fernsehend u.s.w. Das weiß ich bestimmt, in meinen tiefsten Seelengründen – was man so unter der Schwelle des Bewußtseins nennt – geht es unsterblich zu. Es fehlt nur noch, daß mir ein Gott giebt, zu sagen, was ich fühle, und das »Sagen« will ich lernen. So unaufgetaute Posthörner, so scheintote Genies giebt's gewiß viele, besonders unter den Frauen, es liegt nur so tief, das Geniale, tief wie in einem Sarge, und wir können den Deckel nicht heben. Ein Blitz muß kommen, ihn zu sprengen. Betet für mich, betet, daß mein Blitz komme! Ach, im Nietzschestil möchte ich reden. Warum ist der ein Genie? Er hat den Deckel gehoben, und all seine Seelenherrlichkeiten quellen in niegesehener Pracht aus dem Sarge.«

Sie hatte unwillkürlich die Aermel aufgestreift, verschränkte die runden, schönen Arme im Genick, und durch das Fenster flogen ihre Blicke zu dem Glasdach, auf dem die Sonne funkelte.

»O Königin, das Leben ist doch schön!« Sie ließ sich wieder auf den Teppich niedersinken und löste ihren Gürtel. Alles war ihr zu eng geworden.

»Ich möchte vor Vergnügen mit den Beinen strampeln, thue es aber nicht, weil Ihr so gräßlich wohlerzogen seid. Und da in Deiner Garderobe, Christa, doch kein Panterfell und kein Thyrsusstab ist, [41] also wohl aus einer richtigen Orgie nichts werden wird, so hätte ich gerne eine Tasse Thee, aber mit Zubehör.«

Christa klingelte nach dem Thee. Sie liebte diese quellende Seelenüppigkeit in Julia, dieses wallende Ueberschäumen des Temperaments. Anselma verschlang das liegende schöne Weib fast mit ihren Blicken.

»Wissen Sie, Julia, die schwarzen und grünen Lorbeeren würden Ihnen garnicht stehen. Einen roten Rosenkranz auf Ihrer blonden Mähne! Auch Aphrodite braucht Genies. Liebe ist die Quintessenz von allem. Füllt Bände damit! Füllt Bände!«

Julia blinzelte sie von der Seite an und sagte neckisch: »Die Quintessenz in Ihren Werken oder in Ihrem Leben?«

Anselma lächelte in sich hinein. »Vielleicht gehört beides zusammen.«

Der Diener brachte Thee und Kuchen und Früchte für die jungen Mädchen. Die Unterhaltung wurde friedlicher und harmloser.


Als die jungen Damen endlich gingen, war es Christa lieb. Sie hatte genug von ihnen. Und dann erschrak sie, daß sie genug von ihnen hatte, von ihren Freundinnen! Hatte die Mutter auch darin recht? war sie wirklich gemütlos, wankelmütig, ungeduldig, treulos? War sie im begriff, schief zu wachsen?

[42] Sie trat ans Fenster. Sie hätte sehr gern ein Zimmer mit einem schönen Ausblick gehabt, in Gärten etwa. Ihr Fenster aber ging in den Hofraum. Eine hohe Mauer war im Sommer dürftig mit Blattpflanzen berankt, im Winter kahl. Ueber die Mauer weg sah man die Dächer anderer Häuser, auch eine große Glaskugel auf einem Hause der Nachbarschaft, und in der Ferne die Conturen des schlanken Matthäikirchturms. In den Lüften zogen sich unzählige Telephondrähte von einem Dach zum andern. Die Kurbeln in den Drähten sahen wie verflogene Vögelchen aus. Fuhr der Wind in die Drähte, so klang es wie feine, ferne Harfentöne. Auch auf die Hinterfront einer Reitbahn sah sie. Im glatten Mauerwerk befand sich ein großes, atelierartiges Fenster, zur Seite zwei kleinere, eirunde. Abends wurde die Reitbahn mit elektrischem Bogenlicht erleuchtet. An Winterabenden erklang zuweilen von daher Musik. Damen und Herren ritten da unter Militärmusik Quadrillen. Mit der Zeit gewann sie Geschmack an dem Ausblick. Es ließ sich da allerlei hineinphantasieren.

Sie trat vom Fenster zurück. Ihre Blicke schweiften im Zimmer umher. Sie mußte lächeln, als ihr einfiel, was für Veränderungen sie im Laufe von zehn Jahren mit der Ausstattung dieses Zimmers vorgenommen hatte. Zu ihrem 12. Geburtstag hatte sie sich leidenschaftlich einen Kanarienvogel und einen Blumentopf mit lauter roten Rosen gewünscht. Alles sollte um sie her froh, warm, gemütvoll sein. Ein paar Jahre später wollte sie von dem Vogel und den [43] roten Rosen nichts mehr wissen. Sie schmückte ihr Zimmer mit Lithographieen von Heiligen, stellte ein Kruzifix auf den Tisch und erbat und erhielt die Erlaubnis, das Stübchen weiß tünchen zu lassen. Das war die Zeit der Vorbereitung zur Konfirmation. Sie las die Bibel und Heiligengeschichten und dachte es sich wunderschön, eine Märtyrin zu sein, womöglich gleich mit sieben Schwertern in der Brust, oder wenigstens Nonne, wogegen freilich der Umstand sprach, daß sie evangelisch war; vielleicht würde sie katholisch werden. Das wußte sie aber noch nicht.

Diese Stimmung hielt bis ungefähr ein Jahr nach ihrer Einsegnung an. Inzwischen hatte sie viel gelesen, gelernt, erfahren, ihre Anschauungen wandelten sich, ihre Gläubigkeit schwand dahin, und mit ihr die Heiligenbilder, das Kruzifix, die weißen Wände und die Märtyrersehnsucht. Das Zimmer wurde rot tapeziert, das Kruzifix durch die Venus von Milo ersetzt, die Heiligenbilder durch eine Radierung der Toteninsel und anderer Böcklins, die sich wunderschön von der roten Tapete abhoben. Ein Kupfergefäß mit blaßrosa Astern stand auf dem Tisch. Die Decke auf dem Tisch war von verschossenem, altrotem Sammet; ein seltsam schlangenartig sich windendes Muster in hellerem Rot, kabbalistischen Zeichen ähnlich, durchzog den Sammet. Auf dem Kaminsims eine Vase von irisierendem Metall in Form einer Blume. Eine Schlange wand sich vom Fuß der Vase hinauf zu einer kleinen Psyche, die sich [44] über den Rand des Kelches neigte. Das war ihre Aschenurne, da hinein that sie allerhand zum Andenken an Gestorbenes, oder auch an Lebendes, das für sie tot war. Sie besaß viele Bücher. Ihr ganzes Taschengeld gab sie für Bücher aus. Sie ging in alle Kunstsalons, sie sah alle Ibsenschen Stücke, und überall, wo sie eine Tiefe ahnte, tauchte sie hinab, oft ganz verzweifelt, wenn sie nicht alles verstand. Die allermodernsten Dichter waren ihr die liebsten: Stefan George, Hofmannsthal, Maeterlinck; Dichter, aus deren Schriften sie ein Geisterhauch streifte, in denen die Seelen ohne wesentliche Leibhaftigkeit sich berührten, wo aus azurnen Himmelshöhen Erzengel Miserere sangen, oder aus purpurnen Tiefen in tötlicher Schönheit Schatten stiegen, die unaussprechliche Geheimnisse wußten.

Und nun – war sie nicht schon wieder in einer Umwandlung begriffen?

Christa that sich selber Unrecht, wenn sie sich für eine treulose Kreatur hielt. Von Kindheit an war ein Hang in ihr, den Dingen auf den Grund zu kommen. Und glaubte sie ihn entdeckt zu haben, und bot er ihr nichts Außerordentliches, so verlor sie darüber die Freude am Ganzen. Sie verstand es nicht, die Schönheit einer Oberfläche oder liebenswürdige Einzelheiten im Charakterbild eines Menschen zu genießen. An Julia waren ihr die oft geschmacklosen, zu grellen Toiletten störend, überhaupt daß sie keinen Geschmack hatte, und daß zuweilen ein vulgärer Zug in ihrem Gesicht oder in ihrer [45] Redeweise sich bemerkbar machten. Und heut nun gar die Flecke in ihrem weißen Kleide.

Ja, entschieden, in den letzten Jahren war eine Veränderung in den beiden jungen Mädchen vorgegangen. War das noch dieselbe Anselma, die früher, ganz Begeisterung für die Kunst, nach nichts anderem in der Welt fragte? sicher, etwas war mit ihr geschehen, wovon Christa nichts wußte. Die Freundinnen hatten also doch wohl eine Mitschuld an ihrer Treulosigkeit, und sie war kein so arges Chamäleon.

Es giebt Menschen, die eigentlich für ein anderes geistiges und örtliches Klima als das ihnen vom Schicksal zugewiesene geboren wurden, und sie experimentieren nun und zerquälen und verrenken sich die Seele, um zu den Quellen zu gelangen, wo ihre Lebenswasser rinnen. Aus dem ungeeigneten Erdreich ziehen sie nicht Mark und Kraft genug, um auch widrigen Winden entgegen gerade emporzuwachsen; sie lassen sich vielmehr von ihnen da und dorthin treiben, bald steigen, bald fallen sie, oder sie halten sich schwebend wie verloren im leeren, unendlichen Raum.

Solch ein Mensch war Christa.

Wie sollte dieses junge Geschöpf einfach und gerade emporwachsen zwischen einem Vater und einer Mutter von so entgegengesetzter Artung, die beide mit ihrer ganzen Persönlichkeit auf sie drückten, dieser Mutter, deren Sinn ganz und gar auf extremste Weltlichkeit gerichtet war, und diesem skeptischen [46] Vater, der mit dem Gefühl allgemeiner Wurstigkeit auf das Gewimmel der Menschen herabsah.

Bei den Gesprächen und den kleinen Häkeleien zwischen den Eltern – er pflegte seine Gattin heiter zu verspotten – war Christa oft zugegen, immer beobachtend, staunend, alles im Gedächtnis behaltend, Schlüsse daraus ziehend.

Was sie bei Anselma neuerdings abstieß, war das stark ausgesprochene Erotische in ihrer Wesensart; das mochte Christa nicht. In den Romanen überschlug sie oft die Seiten, wo heiße Liebesszenen geschildert wurden. Ein Ereignis in ihrem Leben spielte da hinein. Sie dachte jetzt daran. Jede Einzelheit jener Begebenheit trat ihr vor die Seele.

Sie hatte von jeher, was ihr in die Hände fiel, gelesen, auch Bücher, die nur für reife und reifste Geister geschrieben waren. Sehr früh erregte das Verhältnis der Geschlechter zueinander ihren Erkenntnisdrang. Sie forschte, und es blieb ihr nichts verborgen. Dabei bewahrte sie zwar die Unschuld der Sinne, hätte aber doch sehr gern die Liebeswonnen, die ja in allen Romanen die Hauptrolle spielten, kennen gelernt.

Als Kind hatte sie einmal tiefe, tiefe Löcher in die Erde gegraben, tagelang immer gegraben, weil man ihr gesagt, im Innern der Erde wäre alles Feuer. Zu dem Feuer wollte sie gelangen. Nun wollte sie zu einem andern Feuer in sich selber gelangen. Und sie grub – grub.

Der Hauslehrer ihres Brüderchens, ein junger [47] Philologe, hatte sich in sie verliebt. Das stille Schmachten des jungen Mannes, das sie wohl bemerkte, schmeichelte ihr und erregte ihr neugieriges Wohlgefallen. Das war der erste, der das Weib in ihr sah. Sie beobachtete mit Spannung, wie allmählich sein stilles Glühen einen leidenschaftlichen Charakter annahm. Dabei redeten sie nie miteinander, mit schweigendem Gruß gingen sie aneinander vorüber. Ihre Haltung ihm gegenüber war nicht gerade ermutigend, aber noch weniger ablehnend.

Unmerklich wurden die gegenseitigen Grüße ausdrucksvoller. Als sie wieder einmal im Korridor Grüße austauschten, wandte sie sich in der Thür noch einmal nach ihm um, ihre Blicke trafen sich, er eilte auf sie zu mit einer flehenden Gebärde – sie entschlüpfte. Gott, dachte sie, wie bin ich kalt, und ich hielt mich doch für eine feurige Natur.

Rulands hatten bald darauf ein Diner gegeben, zur Feier von Anne-Maries Hochzeitstag, eine etwas drollige Feier, denn Anne-Maries Gatte war nicht dabei. Der lag an einem Gichtanfall zu Bett. Anne Marie war eine halbe Stunde vor dem Diner gekommen. Sie wollte noch mit Christa plaudern. Die Schwestern liebten sich, trotz der Grundverschiedenheit ihrer Naturen.

Frau Harriet irrte sich, wenn sie Anne Marie ganz für ihr Werk hielt. Scheinbar aus demselben Holz geschnitzt wie sie, wich sie doch wesentlich von ihr ab. Sie verhielt sich zur Mutter, wie ein fein ausgeführtes Kunstwerk zu einer Fabrikware. Bei [48] der Mutter war alles gröber, auf den Effekt berechnet. Der Tochter Intelligenz war höher, sie verband damit Witz, Findigkeit, Raffinement. Es war soviel ursprüngliche Natur in ihr, daß es selbst der Dressur der Mutter nicht gelungen war, sie auszutreiben. Anne Marie war reizend, mit dem kleinen, süßen Mund, durch den die Zähne ein wenig hindurchschimmerten. Die Augen, schwarze, leuchtende Perlen, fast liderlos; feines, schwarzes Gelock fiel ihr bis zu den Augen. Wie sich das zarte, weiche Kinn am Halse ansetzte, war berückend. Lebensfroh, klug, vornehm, weltlich der Ausdruck dieses Kopfes.

Ihre Toilette an dem Tage war wie immer reizvoll pikant. Ein lichtes Kleid von weicher changeant-Seide, die in Regenbogenfarben spielte: blau, grün, rot, gelb; aber nur wie das zarte Echo eines Regenbogens flossen die Farben ineinander, diskret, leise, ganz blaß getönt. Keine Blume, kein Schmuck, nur sehr dekolletiert war sie.

Christas hohes, gesticktes weißes Battistkleidchen fand sie für eine Sechzehnjährige zu sehr à la Baby. Und wenn schon – denn schon. Und sie entflocht ihr die Zöpfe, so daß ihr das Haar in natürlichem Gelock über die Schulter fiel, streifte ihre zu langen Aermel etwas auf, zupfte am Ausschnitt des Kleides, bis das zarte Hälschen ein wenig frei wurde, und mit kleinen Sträußen rosenroter Mandelblüten, die sie aus einer Vase nahm, putzte sie das Kleid auf.

»So, nun kannst Du den Frühling vorstellen, [49] mit der Verpflichtung, drauflos zu blühen und Dich zu verlieben.«

»In wen denn, Anne Marie?«

Anne Marie riß drollig weit die Augen auf, erhob den Zeigefinger über den Kopf und flüsterte geheimnisvoll: »Im Grund des Champagnerkelches (Kelch klingt besser als Glas) wirst Du sein Bild sehen.«

»Giebt's heut' Champagner?«

»Selbstverständlich. Also, frühlingshaft übermütig, unverfroren, naiv, besonders naiv. Das gefällt enorm.«

»Aber ich bin doch garnicht naiv. Ich bin doch ernst.«

»Ernst! Unsinn! Ernst ist schwer, eine Art milden Alpdrückens, ich muß dabei immer an den Erdball denken mit seinem Gesetz der Schwere, das mich ja eigentlich garnichts angeht. Leicht sein! es giebt nichts Rentableres. Denke Dir einmal eine dünne Eisdecke oder eine sumpfige Stelle, höchst gefährlich zu passieren. Du schreitest ganz langsam, bedächtig, zögernd, Schritt für Schritt darüber, – plumps, liegst Du im Graben, da fressen Dich die Raben. Ich aber, ich tanze darüber hin, kaum berühren die Füße den Boden. Im Handumdrehen bin ich drüben. Ach, und es wimmelt ja im menschlichen Leben von dünnen Eisdecken und sumpfigen Stellen.«

Während sie sprach, hatte sie sich auf die Fußspitzen [50] gestellt. Sie pfiff eine Melodie und tanzte um das »langweilige Einsegnungsbaby« herum.

»Wie schön Du bist!« sagte Christa, »daß Du aber Deinen kranken Mann am Hochzeitstage allein läßt, ist garnicht schön.«

»Ist erst recht schön.« Und immer noch tanzend, sang sie: »Mein Mann der hat das Zipperlein. Etsch! warum ist er so alt! Lieblos, daß ich ihn allein lasse? Er freut sich ja wie ein Kiebitz, wenn ich nach Hause komme, mich an seine verbundene Zehe setze, und ihm erzähle, wie es war. Ich schmücke alles herrlich aus, besonders meine Courmacher – er hat einen Bombenspaß, und ich übe mich dabei im Esprit. Immer alles praktisch ausnutzen – das habe ich von Mamachen geerbt.«

Die ersten Gäste kamen. Frau Harriet hatte ausnahmsweise den jungen Hauslehrer eingeladen, zum Teil als Belohnung, weil er an seinem Zögling mehr als seine Pflicht that, und dann paßte er der Hausfrau gerade als Tischherr für eine unerhebliche Nichte, die schwer unterzubringen war. Der Zufall wollte, daß er Christa zur Linken saß. Zur Rechten hatte sie einen ebenso berühmten wie schweigsamen Maler. Sie langweilte sich. Der Hauslehrer wurde von der unerheblichen Nichte im Gespräch festgehalten. Nur ab und zu, wie von einer inneren Macht gezwungen, wendete der junge Mann den Kopf zu Christa hin, und sie sah die verhaltene, zitternde Erregung in seinen Zügen.

Der Diener machte mit dem Champagner zum[51] zweiten Mal die Runde. Christa trank nicht. Ihr Blick schweifte über die Tafel. Wohin ihre Augen fielen, überall leuchtende Augen, rote Lippen und Wangen. Waren das dieselben jungen Damen, die vor dem Diner so ausdruckslos umherstanden, ab und zu wie auf Kommando ein paar konventionelle Worte wechselnd. Alles schien nun aus dem konventionellen Geleise herauszustreben, die Damen wurden augenscheinlich immer dekolletierter. Warum lachten sie nur so? Es war wie eine Tischmusik von Klarinetten und Trillern. Witzreden stiegen wie Leuchtkugeln auf, hier und da wurde auch mit Feuer über Kunst, Theater, Gefühlsprobleme debattiert. Vor allem aber war es ein Fluidum von Zärtlichkeit, das die heiße, parfümierte Luft durchzitterte, noch latent, gebunden, man hatte aber den Eindruck, ein Zugwind – und Flammen würden entlodern.

Der junge Philologe redete nicht mehr mit seiner Nachbarin. Er blickte Christa an, intensiv. Sie fühlte es wie das Ausstrahlen einer Wärme, die sie belästigte.

Ihre Augen suchten Anne Marie. Die hielt den Kopf ein wenig hintenüber, das Glas Champagner an den Lippen, mit einem Seitenblick, einem schmachtend listigen, streifte sie ihren Nachbar. Christa kannte ihn flüchtig. Ein ostpreußischer Aristokrat: Adrian von Lützow. Er gefiel ihr. Sie konnte nicht sagen, warum. Sie empfand ein leichtes Mißbehagen, daß er allzunah sich zur Schwester hinneigte. Er schien ihren Anblick in sich zu trinken.

[52] Und plötzlich wurde Christa von einer ungeduldigen Neugierde erfaßt. Wie? wenn sie nun auch Champagner tränke, ob sie sich dann aus dem langweiligen Einsegnungsbaby in – ja, in was verwandeln würde?

Und sie, die bis dahin den Wein gemieden, weil schon ein halbes Glas sie betäubte, sie trank schnell, in kleinen Pausen, drei bis vier Glas Champagner, von einem Glas zum andern die Wirkung erspähend. Und sie kam, sie kam – die Wirkung. Keine Langeweile, keine Abspannung mehr. Sei fühlte förmlich, wie das Thermometer in ihrem Blut stieg, wie ihre Lippen heiß, ihre Augen leuchtend wurden. Es kam ihr eine Lust zu reden, Kühnes, Begeistertes, – gleichgiltig was – zu lachen, gleichgiltig worüber. Ein starkes, köstliches, zärtliches Wohlgefühl durchströmte sie. Der verliebte Jüngling zu ihrer Linken empfand instinktiv die Veränderung, die mit ihr vorging. Und nun redete er, leise, stammelnd, er redete von seiner Liebe. Wie den Champagner, so sog sie seine Worte ein, und blickte in seine schönen, blauen, schwärmerischen Augen.

Als man vom Tisch aufstand, war ihr taumelig. Es wurde getanzt. Sie lag fest in seinen Armen, er tanzte mit ihr in ein Nebenzimmer hinein. Er flüsterte. Sie verstand die Worte nicht und wußte doch, was er sagte. Sein ganzes Wesen redete die Sprache einer unbezähmbaren Leidenschaft. Er umschlang sie inniger. Ihr Köpfchen sank zurück, und [53] sie verging in einem ohnmächtigen Gefühl von schaudernder Süße. Ihre Lippen neigten zu einander ...

Adrian von Lützow stand auf der Schwelle. Sein Blick traf das Paar mit einer kalten Verwunderung. Der Contretanz hatte begonnen, zu dem er mit Christa engagiert war. Sie verließ mit ihm das Zimmer. Bald darauf war das Fest zu Ende.

Christa war kaum imstande, sich auszukleiden; sie sank in die Kissen und schlief sofort fest ein. Am andern Morgen als sie wach geworden, lag sie noch eine Weile im Bett, dem Spiel der Sonnenstrahlen auf dem Fußboden, auf den Möbeln folgend. Dabei hatte sie die dumpfe Empfindung, daß etwas Besonderes, sehr Wichtiges geschehen sei. Was denn? Sie brauchte einige Zeit, ehe ihre Erinnerung ganz wach wurde. Mit einem Ruck saß sie aufrecht im Bett. Was da geschehen, das war ja fürchterlich, lächerlich, nicht zu glauben! Sie, Christa, eine betrunkene Jungfrau! Pfui! Sie schüttelte sich in heftigem Widerwillen. Wie sollte sie das wieder los werden!

Sie vermied seitdem jede Begegnung mit dem jungen Lehrer. Er schrieb ihr glühende Briefe. Die ersten beantwortete sie nicht. Als er aber nicht aufhörte zu schreiben, fühlte sie instinktmäßig, daß sie etwas Entscheidendes thun müsse, um ihn gründlich zu ernüchtern. Und in großen, groben, beinahe ungezogenen Buchstaben schrieb sie: »Vergessen Sie doch die Kleine, die hatte ja einen Schwips!«

Der junge Mann gab seine Stellung im Rulandschen [54] Hause auf. Sie sah ihn nicht wieder und hätte das Erlebnis wohl mit der Zeit vergessen, wenn ...

Das Schicksal sorgte dafür, daß es eine blutige, unaustilgbare Spur in ihrer Seele hinterlassen sollte.

Ungefähr vier Wochen nach jenem Diner machte Christa, wie es oft geschah, einen Spaziergang im Tiergarten. Die Jungfer ihrer Mutter begleitete sie. In der Natur eine fahle, graue Stimmung. Die Bäume schon ziemlich kahl, die braunen, eingetrockneten Blätter muffig feucht. Ein stumpfes, stagnierendes Wässerchen, von dürren Blättern zugedeckt. Ein paar späte Schwäne auf dem Wasser, die langen Hälse gesenkt. So gleichgiltig war alles, so müde. Die Farbe der Tannensträucher verdrossen und verstaubt. Und Christa ging auch so gleichgiltig hin, weiter und weiter. Ein Wimmern drang an ihr Ohr. Sie gingen den Lauten nach und kamen an den freien Platz, auf dem die Bildsäule der Flora steht, die auf der Schulter einen Korb mit Blumen und Früchten trägt. Es sah aus, als wollte sie die Rose in der ausgestreckten Hand dem Jammernden schenken, der da auf einer Bank sich unter Qualen krümmte. Er hörte die Schritte der Nahenden, das Aechzen wurde ein herzzerreißendes Schreien: »Ein Arzt! Gift! leben! nicht sterben! ich will nicht! leben!«

Er hob den Kopf ein wenig und starrte mit seinen herausgequollenen Augen Christa an. Mit namenlosem Entsetzen erkannte sie den jungen Lehrer. Die Jungfer stürzte auf ihren Wink fort, um Hilfe [55] zu holen. Christa ergriff seine Hände und versuchte etwas zu stammeln. Plötzlich sprang der Sterbende auf. Er riß sie an sich, wütend, rasend, und mit seinen vergifteten Lippen küßte er sie. Dann fiel er hintenüber und röchelte nur noch.

Eine halbe Stunde später wurde ein Toter fortgeschafft.

Unmittelbar darauf fühlte Christa, wie ihre brennenden Lippen anschwollen. Sie wurde krank, sehr krank, tagelang lag sie im Fieber. Als das Fieber gebrochen war, dachte und grübelte sie über das, was geschehen. Aus Liebe hat er sich das Leben genommen. Was ist denn das – diese Liebe, die in den Tod treibt? Er kannte sie doch kaum. Sie fand keine Erklärung. Später, wenn sie älter und klüger geworden, würde sie es wohl finden.

Sie wollte in keinen Spiegel sehen, sie glaubte bestimmt, ihre Lippen müßten blau sein – wie die seinen damals – entsetzlich anzusehen.

Und als sich später der Spiegel nicht vermeiden ließ, sah sie, was kein Anderer bemerkte: ihre Lippen waren unnatürlich rot, vielleicht wirkten sie auch nur so brennend in dem Gesichtchen, das so bleich geworden war.

Im Laufe der Jahre verblaßte zwar die Erinnerung allmählich, aber bei irgend einer Gelegenheit tauchte sie wieder auf.

Sie wurde bewußter, nachdenklicher, grüblerischer. Auch ihre Gesundheit wurde nicht wieder [56] so blühend, wie sie vordem gewesen. Sie war oft nervös.

Als sie genesen war, trug sie das Erlebnis schwermütig, wie ein Schuldbewußtsein, mit sich herum. Nach etwas Stillem, Frommem, Entsagungsvollem stand ihr Sinn, nach einem Thun, als läse sie eine Messe für den unseligen Selbstmörder, als müßte sie mit Gebeten ihre vergifteten Lippen entsühnen. Sie trug schwarze Kleider, von etwas phantastischem Schnitt allerdings, einen breiten, weißen Kragen, ein goldenes Kreuz auf der Brust, glattgescheiteltes Haar, ganz priesterliche Jungfrau.

Sie suchte den Vater in seinem Wohnzimmer auf. Es sah nicht wie der Arbeitsraum eines praktischen Juristen aus, wenn man von einem großen, massiven geschnitzten Eichentisch absah, der mit Schriften und Broschüren bedeckt war. Eher war es der Wohnraum eines Weltmannes, der Litteratur und Kunst liebt. Die Bücher in den großen offenen Schränken waren sämtlich elegant und in harmonischer Farbenstimmung eingebunden. Inmitten des größten der Schränke war eine Nische eingelassen, in der die Büste Bismarcks stand. Er verehrte ihn grenzenlos. Jedes einzelne Stück in dem Gemach (der Raum durfte das vornehme Wort für sich in Anspruch nehmen) war wertvoll.

Die Oelgemälde, darunter wieder ein Bismarck, (Lenbach'sches Original), die Broncen, alles war er sten Ranges. Seltsamerweise fanden sich aber zwischen den Werken bewährter Meister, eines Schönleber, [57] Lenbach u.s.w., einige Bilder allermodernsten Gepräges, gewissermaßen eingeschmuggelt: ein mystisches Waldleben von Lechter, eine Farbensymphonie von Hofmann und sogar ein kleines Bildchen von Heran lugte aus einem verstohlenen Winkel. Ein Symptom seines dualistischen Wesens. Neben leichter Pedanterie, die sich in der symmetrischen Anordnung der Möbel zeigte, war etwas Feminines in der Ausstattung des zu eleganten Zimmers.

Von Natur weichherzig, suchte er dieser Weichherzigkeit, die seinem Egoismus in die Quere kam, Herr zu werden. Er stand gewissermaßen immer hinter sich und hämmerte auf sein Herz: »Landgraf, werde hart.«

Christa wollte ihren Vater um die Erlaubnis bitten, Krankenwärterin zu werden. Sie fiel gleich mit der Thür ins Haus. Gotthold Ruland schien von dem Entschluß seines Töchterchens nicht sehr impressioniert. Er lehnte sich in den hochlehnigen altdeutschen Lederstuhl zurück und sagte freundlich: »Ausgeschlossen.«

»Es ist das einzig Richtige für mich, Vater, und wenn ich erkannt habe, was das Richtige ist, so muß ich doch darnach handeln.«

Der Vater nahm die Brille ab und sah sie mit dem starren, eigentümlich hypnotisierenden Blick an, der den Brillenträgern eigen ist. Er hatte merkwürdige Augen, von derselben lichten graugrünen Farbe, wie die Tochter. Sie schienen transparent, [58] und hatten lange aufgebogene Wimpern, berückende Frauenaugen.

»Hm! richtig erkannt, das heißt bei Euch komischen kleinen Frauenzimmern, unrichtig gelesen. Ihr erlest Euch ja Eure Ansichten aus Büchern und Zeitungen. Wie die Fliegen fallt Ihr auf jede Seelenanzapfung rein. Heut hypnotisiert Euch Tolstoi, morgen unterliegt Ihr Nietzschescher Suggestion.«

»Aber die habe ich ja garnicht gelesen, Vater!«

»Eine Infektion, die Dir also noch bevorsteht. Was ist es denn? Nachwehen der Konfirmation? Richtig. Zu Weihnachten hattest Du Dir ja einen Christus – aber einen von Elfenbein mit Gold, – und eine Bibel, aber mit altem Messingbeschlag gewünscht – war beides enorm teuer. Also: Psalmen, Bergpredigt, Altruismus – Jesus Christus. Da sitze ich und warte darauf, daß Deine Mutter sich dieser allerneuesten Mode bemächtigen soll, und da kommst Du daher. Es ist ja jetzt eine wahre Hausse in Christussen. Aus Kirche und Bibel wandert er in die Romane und Feuilletons. Kaum ein Buch, wo er nicht der Held ist oder wenigstens im Hintergrund die Drähte zieht. Ein Jesusrausch – notabene ohne Konsequenzen für die Lebensführung.«

Christa hielt den Kopf gesenkt und hörte zu. Sie wußte, der Vater liebte es nicht, unterbrochen zu werden. Er sprach gern, im Bewußtsein, daß er geistreich sprach; es machte ihm nichts aus, wenn seine Reden für den vorliegenden Fall nicht paßten, er redete um der Rede willen.

[59] Er hob ihr Köpfchen in die Höhe. »Du wirst ja alle Tage magerer, willst kein Fleisch essen, nach Himbeerwasser mit Milch schreit Deine Seele, werde Dir wohl diesmal zum Geburtstag eine Lilie – so eine millionäre doppelgefüllte Riesenlilie schenken müssen, und zu Mamas Geburtstag lasse ich Dich als präraphaelitische Madonna malen.«

Christa drückte das Kreuz an ihre Lippen. – »Ich will Krankenwärterin werden, Vater!« Die Thränen schossen ihr in die Augen.

»Du willst! So!« er besann sich einen Augenblick. »Gebiete Deinen Thränen, teures Kind. Im Grunde, ich habe ja garnichts gegen die Krankenwärterin. Nimm vorläufig einen Kursus in der Krankenpflege und sammle Kräfte für Deinen schwärmerischen Beruf. Vorläufig bist Du noch zu schwach, um etwa einen fetten Patienten im Bett umzudrehen oder bei einer schweren Operation, wo das Blut in Strömen fließt, das Waschbecken zu halten.«

Christa wurde totenblaß, er gab sich den Anschein, es nicht zu bemerken.

»Also – um Kräfte zu sammeln, wirst Du Reitstunde nehmen.« Er legte seine Hand auf ihren glatten Scheitel: »Nun, Madamchen Abseits, bin ich ein moderner Vater? nicht immer den Herzenswünschen meiner Kinder willfährig und gehorsam?«

Christa verließ den Vater in etwas deprimierter Stimmung. Anne Marie hatte recht. Der Vater, hatte sie gesagt, verdünne und entzaubere mit seinen [60] starren Porzellanaugen immer alles, sie hüte sich daher, ihm zu zeigen, was sie für sich behalten wolle.

Christa ertappte sich plötzlich darauf, daß sie sich auf die Reitstunde freute.

Es war eine kluge, wohlüberlegte Taktik Rulands, seinen erwachsenen Kindern nie auf seine Autorität hin etwas zu untersagen. Er begnügte sich damit, Asche auf ihr Feuer zu streuen.

Am nächsten Tage schon begann die Reitstunde. Nach vier Wochen war Christa eine gute und anmutige Reiterin. Es machte ihr sehr viel Vergnügen – das Reiten. Wenn das Wetter günstig war, unternahm der Vater mit ihr lange Spazierritte in den Grunewald.

Sie nahm aber auch einen Kursus in der Krankenpflege. Gotthold Ruland dachte: Doppelt angespannt reißt nicht, und er spann eine kleine Intrigue mit einem ihm befreundeten Arzt. Der bot Christa an, da sie doch Krankenwärterin werden wolle – sich die Sache in seiner Klinik einmal anzusehen und ihm dabei leichte Handreichungen zu leisten. Freudig willigte Christa ein. Sie wurde ohnmächtig von der Wahlstatt getragen. Zu einem zweiten Versuch entschloß sie sich nicht.

Was nun? Sie hatte in der Schule zu den besten Zeichnerinnen gehört. Warum sollte sie nicht Malerin werden? Aber nein, nicht Malerin – etwas Kühneres, Packenderes, noch nicht Abgeleiertes – also Bildhauerin. Da es dem Modeanstand nicht widersprach,[61] erlaubte man ihr, in den Ateliers hervorragender Künstler ihre Studien zu machen.

Hier lernte Christa Anselma Sartorius kennen. Sie sahen sich täglich in den Ateliers, bis das Verbot des Aktzeichnens die ganze künstlerische Laufbahn Christas wieder in Frage stellte.

Es kam die Zeit, wo sie mit wahrer Inbrunst las. Am liebsten Tolstoi und Nietzsche. Sie begriff selber kaum, wie sie zu gleicher Zeit diese Beiden mit ihrer gegensätzlichen Weltanschauung in sich aufnehmen konnte; Nietzsche, den absolutesten Individualisten, und Tolstoi, den absolutesten Altruisten. Aber es war so. Sie dachte darüber, ob es keine Versöhnung zwischen diesen beiden Menschheitsidealen geben könnte. Wer ein Apostel dieser Versöhnung sein könnte! er wäre ein Messias der Zukunft.

Um in diesem Gedankenkreis heimisch zu werden, mußte sie noch viel lernen, viel studieren. Die Gymnasialkurse sollten die erste Stufe sein. Und von da zur Universität. Und auch dieser Plan, den sie so fest im Auge gehabt, war am Widerstand ihrer Mutter gescheitert, die für alles und jedes, was ihre Töchter thaten, nur einen einzigen Gesichtspunkt hatte: Wird es ihrer Verheiratung nutzen?

Während Christa ihren Erinnerungen nachhing, war es dämmerig geworden. Ihre Blicke flogen durch das Fenster über die Telephondrähte hinweg, die vom Reflex der untergegangenen Sonne noch warm erglühten, hinauf zu dem rosig überhauchten Himmel. [62] Sie versank in Träumerei. Im Zimmer, auf dem Bild der Toteninsel waren nur noch die dunklen Cypressen und die weiße Priestergestalt erkennbar. Sie träumte sich dahin, wo die schwarzen Cypressen stehen und die weißen Priester gehen.

Allmählich verblaßte das Rosenlicht. Es dunkelte. Drüben in der Reitbahn wurden die elektrischen Bogenlampen entzündet. Sie raffte sich empor. »Du hast keine Zeit zum Träumen. Albernes Geschmachte, dieses Weben mondscheiniger Gefühlsfäden. Ich kenne Dich. Das Bogenlicht da im Reitstall – nur weil es ein Stall ist – spinnst Du zusammen mit dem Stern, der über dem Stall zu Bethlehem aufging, den Königen ein Leitstern. Du bist kein König, kaum mehr als eine höhere Tochter, und da drüben in der Krippe liegt gemeiner Hafer. Auf, Wurm! Zielbewußt werden! Etwas sein! Vorher aber – Arbeit – Arbeit!«

Sie machte Licht und schleppte sechs bis sieben Bücher herbei. Welches zuerst? Sie sann – –

Musik in der Reitbahn. Leichte Schneeflocken wirbelten nieder, als bewegten sie sich rhythmisch nach den melodischen Klängen, und die großen elektrischen Flammen tauchten den weißen Schnee in Silbertöne. Der Winternachtstraum einer schönen Impressionisten-Seele.

Sie schaltete das Licht wieder aus. Das war zu schön.

In dem jungen Mädchen kämpfte andauernd ihr künstlerisches Schauen der Dinge mit ihrem Erkenntnisdrang. [63] Es fehlte ihr an Stätigkeit und Orientierungstalent, an fester, starker Wurzelung.

Etwas kam hereingehuscht, geräuschlos wie der Wind ein Rosenblatt ins Zimmer weht. Das Etwas drückte auf den elektrischen Knopf. Und da stand Anne Marie, ganz glitzernd und knisternd von dem Schmelzbesatz ihrer originellen Toilette. Sie wäre schon lange drüben bei Mama gewesen, hätte nur auf das Fortgehen der Freundinnen gewartet. Ob Papa ihr schon Raison von wegen der Heirat beigebracht?

»Gott sei Dank, nein!«

Na, dann käme sie als Ouverture zu dem Bravourstück, das der Epikuräer loslassen würde.

Sie warf sich in den Schaukelstuhl. Sie brauchte immer Bewegung, und wenn sie nicht aktiv sein konnte, wenigstens eine passive.

»Willst Du mir wirklich zureden, jemanden zu heiraten, von dem ich nicht viel mehr weiß, als daß er ein netter Mensch ist mit einigen gehörigen Schmissen auf der Wange und zu großen, knochigen Händen?«

»Vergiß seine Hauptzierde nicht: Reserveleutnant in der Garde.«

»Und wäre er ein richtiger Leutnant, es bliebe ein gefährliches Hazardspiel, das eigentlich, wie das am grünen Tisch, verboten sein sollte.«

»Na ja, es ist ja sehr zu bedauern, daß es für die Ehe keine Versuchskaninchen zum Experimentieren giebt. Ich rate Dir, nimm ihn – vorläufig – den netten Assessor.«

»Vorläufig?«

[64] »Das Uebrige findet sich – später. Möglicherweise sogar die Liebe für ihn. Nämlich: die meisten Frauen sind ihren Männern gut, was Unbeteiligte in Betreff einzelner Exemplare oft garnicht begreifen. Und es muß schon – darf ich mich roh ausdrücken? – ein Patentekel sein, oder er muß sie mißhandeln, wenn sie ihn nicht mögen soll, das bringt die Ehe so mit sich. Siehst Du, als ich Theodor nehmen sollte, habe ich drei Nächte nicht schlafen können im Kampf mit meiner Liebe – die hieß, wenn ich mich recht erinnere, Willi – der hatte nichts und war nichts, und da siegte Mama und mein Verstand, und jetzt ...«

»Liebst Du Deinen Mann?«

»Nein, ich bin in einen Andern verliebt. Und dieser gesegnete Theodor schenkt mir zu Weihnachten rosaseidene Hemden – berauschend, – die förmlich nach einem Abenteuer schreien.«

Sie rückte den Schaukelstuhl so, daß sie in den Spiegel sehen konnte.

Christa wurde in der Schwester Seele hinein rot. »Ich bin nicht Deine Richterin, aber – wie kannst Du nur – kannst Du –«

Anne Marie lachte. »Wenn mich jemand fragte, wie stehts mit Deiner Moral? so würde ich antworten: mein Bruder bläst die Flöte, mit welchem Bruder ich Dich meine. Ach Schwesterseele, mir schwant, daß ich noch einmal als büßende Magdalene ...«

Sie zog das Haar über die Stirn, schnitt eine [65] fromme Grimasse und blickte dabei in den Spiegel. »Greulich steht mir die Zerknirschung.« Und ihr Spiegelbild apostrophierend: »Fürchten Sie nichts, Madamchen, vorläufig noch lange nicht.«

Ein Unwille stieg in Christa auf. Unwillkürlich griff sie nach dem Album mit den Klingerschen Radierungen.

Anne Marie strich das Haar wieder zurück, schlang ihre Arme rückwärts um die Stuhllehne und streckte tief aufatmend die Brust heraus.

»Siehst Du, Christa, ich habe meine köstlichen Weibinstinkte bewahrt – Gott, sind die jetzt Mode, besonders in den Schriften gegen die Frauenemanzipation. Dein Nietzsche schwärmt ja auch vom Instinktweib. Ich bin stark und gesund wie ein junger Eichbaum, dem thun ein paar Schmarotzerchen – damit meine ich natürlich meine Faibles für das Ewig-Männliche – nichts. So ein Baum schüttelt sich, und immer in gleicher Pracht steht er da. Ist er hoch gewachsen, weiß seine Krone garnichts von dem bischen Gekrabbele um seinen Stamm herum.«

Sie nickte zum Spiegel: »Habe ich recht, Madamchen? Du freilich, mit Deinem pauvren Blut ... nimm Eisen, das hilft zwar nichts ... Du, ich habe neulich in der Schrift eines berühmten Mediziners gelesen: Das Weib wäre tierähnlich, und der liebe Gott habe es in seiner Weisheit zum Nutzen und Frommen der Menschheit also geschaffen, und die Schrift schließt mit den Worten: »Fort mit dem [66] Intellektualismus des Weibes.« Ich schließe mich dem Vorredner an: Fort mit dem Intellektualismus!«

Sie blinzelte die Schwester von der Seite an, machte ein süßes Kindergesicht und sagte: »Aber ein so arges Tier bin ich doch garnicht!«

Sie konnte nicht anders, als kokett sein, selbst mit der Schwester war sie's. Sie reckte den Hals, um in Christas Album zu sehen. »Was beguckst Du denn da? Ach die Bilder des Todes! Gott, wohl als Gegengift gegen meine lebendige Verworfenheit? Totenklänge!«

Sie lehnte sich hintenüber in den Schaukelstuhl und ließ ihre Schuhchen auf den Zehenspitzen balancieren. »Du weißt, ich bin tanzwütig. Spielt kein höheres Instrument auf, tanze ich auch nach einem Leierkasten; und mir schwant – zum zweiten Mal, seitdem ich hier sitze, schwant mir etwas – selbst mit dem Tod mache ich noch ein Tänzchen.«

»Würdest Du auch tanzen, wenn ich einen Choral spielte?«

»Das weiß ich nicht. Siehst Du, als ich noch nicht ganz erwachsen war, da wollte ich immer gerade das, was ich nicht durfte. Heut ist meine Devise – wenn auch Devisen nur noch auf alten Wappen vorkommen –: Ich darf, was ich will.«

Christa wollte etwas sagen.

Anne Marie sprang vom Stuhl und hielt ihr den Mund zu: »Tugendprotz! Still! Weißt Du, Christel, ich glaube, Du wärst so recht etwas für den [67] Gaumen eines Psychologen; man liebt jetzt das Rätselaufgeben; sie zu lösen, versucht man gar nicht, dann wären es ja keine Rätsel mehr und hätten weiter keinen Reiz. Du willst eine Ausnahme sein?«

»Ich will nichts sein.«

»Na gut, Du bist eine Ausnahme. Du denkst und denkst! Du liebe Güte, es giebt schon so viele ewige Ideen und tiefe Gedanken in der Welt, ob Du noch einige hinzufügst ist dem Weltall – ich sage ja nicht schnuppe, sondern einfach egal. Und wer weiß auch, ob sie so besonders sind, Deine Ideen? so unzeitgemäß, so übermenschenhaft, wie Du sie möchtest.«

»Mit den Wölfen heulen, das sollte ich – nicht?«

»Als ob es immer Geheul und Wölfe sein müßten! Im Gegenteil. Es geht meistens dabei ganz sanft und melodisch zu. Du verstehst nur nicht, zwischen den Zeilen zu lesen. Weißt Du, Christel, Du mit Deinem Allesdurchbohrenwollenden und im Grunde Nichts durchbohrenden Gefühlen bist eine Plebejerin, unvornehm bis in die Knochen. Immer nörgelst Du an Dir herum, horchst in Dich hinein und giebst Dir eine Zensur.«

Sie sah nach der Uhr. »Ich gehe und hinterlasse Dir drei Sinnsprüche – bitte zu bemerken, nicht Devisen – Erstens: Abwarten, es kommt ja doch immer ganz anders. Zweitens: Lies zwischen den Zeilen. Drittens: Das Dritte habe ich im Augenblick vergessen, wird mir schon wieder einfallen. [68] Findest Du nicht, ich spreche ja förmlich in Glühlichtern. Eigentlich eine recht komische Art, um Dir Raison in Betreff des netten Assessors beizubringen. Schluß: Nimm ihn! Nimm ihn!«

Die Wiederholung des »Nimm ihn« sprach sie mit feierlichem Accent. Und langsam, mit pathetischer Gebärde, die Hand gegen Christa ausstreckend, schritt sie langsam, mit auf burleske Wirkung abzielenden Schritten zur Thür hinaus. Von draußen erklang ihr silbernes Lachen.

Christas Blick hing noch an der Radierung in ihrer Hand. »Zeit und Ruhm.« Ueberwältigend die symbolische Gestalt der Zeit, das Antlitz wie von Blitzen gemeißelt, das Auge weit hinausschweifend, abgrundtief, wie gesättigt von des Weltalls Jammer, und von grandioser Fühllosigkeit der eherne Fuß, der zertritt.

Christa fühlte sich mit kräftig zärtlichem Griff von hinten umfaßt. Es war Anne Marie. Kätzchenhaft war sie wieder hereingeschlichen. »Mir ist der dritte Sinnspruch eingefallen: Die Erde stürzt ja doch einmal in die Sonne. Christa, wenn ich Dich nicht so gräßlich lieb hätte! Ich möchte Dich zerbrechen – zerbrechen, Du Spiegel, in dem ich meine Häßlichkeit sehe.« Und fort war sie.


[69] Der Auseinandersetzung mit ihrem Vater sah Christa mit Ruhe entgegen. Sie wußte ja: alle seine Reden – wenn sie etwas von ihm wollte, – fingen immer an mit den Worten: »Ausgeschlossen«, und endigten mit dem Satz: »Uebrigens habe ich nichts dagegen.« Sie kannte ihren Vater gut, auch in seinen Schwächen.

Gotthold Ruland benutzte mit Vorliebe sowohl zu seinen gemütlichen Plaudereien, wie zu seinen ernsteren Auseinandersetzungen mit Christa, ihre gemeinschaftlichen Spazierritte. Daher kam es, daß sie im Sommer intimer zueinander standen als im Winter. Man konnte beim Reiten beliebige wünschenswerte Pausen eintreten lassen, jenachdem die Gangart von Wotan und Brunhild – so hießen die Pferde – wechselte.

Es war an einem Morgen des Vorfrühlings, als sie durch die Alleen des Tiergartens trabten, schweigend, bis sie den Grunewald erreichten. Da draußen war alles ganz wach und morgenfrisch. Die kleinen Wasser, an denen sie vorüberkamen, von krystallener Durchsichtigkeit. Auf dem Gras noch der weißsilbrige Glanz des Morgennebels. Von den Bäumen leises, melodisches Tröpfeln. In langen Zügen atmeten sie die ozonreiche Luft.

»Der Morgen ist eigentlich zu schön,« sagte der Vater, »um Dir, – Mama hat es mir eingeschärft – Raison beizubringen.«

Ein Vogel hob sich trillernd in die Lüfte.

»Und sieh, Vater, da hätten wir auch schon die [70] Lerche im Aetherblau. Behelfen wir uns auch mit Jubilieren.«

»Erst das Geschäft, und dann das Vergnügen.«

Gotthold Ruland nahm augenscheinlich die Sache nicht mit dem gehörigen väterlichen Ernst.

»Na, Christelchen, heiraten wir, oder heiraten wir nicht?«

»Wir heiraten nicht.«

»Hast Du Dir überlegt, daß Du den Korb möglicherweise einem künftigen Finanzminister giebst?«

»Hat er das Zeug dazu?«

»Das hat er.«

»Gräßlich, Vater. Da käme ich am Ende zu Hofe und würde mich benehmen wie das Lorle in Dorf und Stadt, wofür die heutige Menschheit keinen Geschmack hat.«

Der Vater machte seiner Mißbilligung durch einen scharfen Trab Luft und nahm dann das Gespräch mit der Miene des überlegenen, wohlwollenden und weisen Weltmannes wieder auf.

»Man wartet wohl auf die große Liebe?«

»Vielleicht.«

»Ich will ihr ja ihren momentanen Seelenzauber nicht absprechen. Schillers: »O, daß sie ewig grünen bliebe« u.s.w., hat uns allen einmal in den Gliedern gesteckt, aber – ich bin ein Mann der Realitäten. Du bist ein starker Geist, Christel, so was man strong minded nennt. Du weißt Bescheid, und ich kann mit Dir reden, wie mit meinesgleichen. Siehst Du, Kind, Liebe oder Verliebtheit – es [71] kommt auf eins heraus – hat – weil Du es bist, will ich mich poetisch ausdrücken – eine kurze Blüte. Hat einmal Amor – um bei der Poesie zu bleiben – Hymen die Fackel gereicht, so – nun so –« Er konnte nun doch nicht mit der Tochter wie mit seinesgleichen reden und suchte nach subtilen Worten, um ihr die Derbheit seiner Meinung zu insuinieren.

»Nun, so magert Psyche, der man vorher alles in die Schuhe geschoben, zusehends ab, und die Sache nimmt mehr – – u.s.w.«

Er wurde wieder verlegen. »Mit einem Worte – wen Du liebst, kannst Du vor der Ehe garnicht wissen. Es kommt nachher meist ganz anders u.s.w.«

Er gab dem Pferde einen leichten Gertenschlag: »Pegasus hop!«

»Na, lieb Väterchen, weiter. Die Liebe also –«

»Die verhält sich zu den sonstigen Gemüts- und Geistesbethätigungen wie der Gesang zu dem gesprochenen Wort. Gesang kann ja wunderschön sein, aber immer Tristan und Isolde? und meistens ist es auch nur Operettengesang. Ihr Kindsköpfe haltet nun diese blühenden Seelenschauer für das Essentielle. Man heiratet aber nicht auf Wochen und Monate, sondern fürs Leben. Für das Eheglück spielt die Liebe eine unbeträchtliche Nebenrolle, die Hauptrolle: der Charakter des Erwählten. In jüngeren Jahren war ich als Richter im Departement der Scheidungen beschäftigt. Es steht mir also umfassendstes Material zu Gebote. Dreiviertel aller Scheidungen kamen unter solchen vor, die sich aus Liebe geheiratet, ja [72] es waren unter diesen Scheidungskandidatinnen zwei, die sich ihre Gatten erst durch Selbstmordversuche erobert hatten.«

»Möglich, daß Du recht hast, Vater. Ich heirate aber doch lieber nicht. In der Ehe ist man immer wie Obst am Spalier, ich aber ...«

»Du möchtest Dich ausleben. Ich kenne das Stichwort.«

»Ja – ausleben, auswachsen, hochwachsen, so hoch es immer geht, bis in den Aether hinein – Aufstieg zum Mars.«

»Und möchtest etwas Bedeutendes werden?«

»Natürlich.«

»Was denn? eine Kassandra, Pythia, oder mindestens – Aerztin?«

»Fehlgeschossen, da noch eher eine Hypatia.« Sie bog sich soweit vom Sattel ab, zu ihm hin, daß sie beinah vom Pferd fiel, und flüsterte ihm ins Ohr: »Eine priesterliche Jungfrau will ich werden.«

Sie trabte darnach eine kurze Strecke voraus. Während er ihr langsam folgte, dachte er: wunderlich, wie sich diese kleinen unbeträchtlichen Dinger jetzt herausmachen mit Lebensanschauungen und Weltauffassungen.

Als sie wieder nebeneinander ritten, betonte er etwas ironisch: »Priesterliche Jungfrau! Du hast »Frederique« von Marcel Prevost gelesen.«

Christa rümpfte geringschätzig das Näschen: »Du wirst nicht glauben, Vater, daß dieses Buch mich beeinflußt hat. Nein, höheren Orts habe ich mich [73] mit den Ideen inficiert, nach denen ich leben will. Du fragtest mich einmal, ob ich Nietzsche gelesen. Ich sagte nein. Jetzt, Vater, habe ich ihn gelesen. Vorher war ich, wie wir Mädchen fast alle: eine Art Spieluhr, die nur die bekannten Stücke ableiert.«

»Ich denke: Obst am Spalier?«

»Ist dasselbe. Da erbrausten über mich seine Schriften wie Orgelton und Glockenklang, und die Glocken läuteten zu dem Gebet: Herr, erlöse mich von dem Spieluhr-Gebimmle und Gewimmre. Ich lebte bis dahin im Dunstkreis derer, die da waren, seitdem leben wir Jungen in der Morgenröte der Kommenden. Schopenhauer war der Erzieher Nietzsches, Nietzsche ist unser aller Erzieher, er hat uns ein geistiges Neuland entdeckt. Ich liebe ihn – ich liebe ihn!«

Und in der Vorahnung eines fürchterlichen rhetorischen Ausbruchs von Seiten des Vaters gab sie dem Pferde einen starken Schlag: »Fliege, Wotan, fliege!« Und im Galopp sauste sie davon.

Als der Vater sie einholte, befand er sich in der That in hochgradiger Erregung. »Dein Nietzsche! Euer Nietzsche! Ein geistiger Obergigerl. Er zieht sich eine grüne Hose an, eine rote Weste und einen blauen Rock und dekretiert: Das ist die Zukunftsmode. Und Ihr Abseitigen, Querköpfigen, Ihr sperrt Augen und Ohren auf und ruft: Heil dem Obergigerl der Zukunft! Gift ist er! Gift! Auf die Teufelsinsel mit ihm und allen seinen Jüngern und Aposteln! Moderne Geister wollt Ihr sein? Eure [74] Modernität besteht darin, daß Ihr eine Gänsehaut kriegt, wenn von Glauben, Kirche, Autorität die Rede ist. Geflügelte Hanswürste seid Ihr, Unterweltsaspiranten, Sumpftaucher, Hefensammler!« Im Eifer schlug er auf Christas Pferd los, daß es einen Seitensprung machte.

»Aber ich liebe doch auch Tolstoi, Vater, der ist der reinste Gegensatz von Nietzsche, nehmen wir den mit auf die Teufelsinsel?«

»Ja, samt allen Altruisten à la Tolstoi. Kranke sind es. Weil sie nur noch Wassersuppen vertragen können, würzen sie sie mit Menschenliebe, Hyper-Edelsinn, sterilen Allgemeinheiten. Mich entnerven schon die Worte: moderner Geist, moderne Richtung. Erlösung, Auferstehung – auch Schlagwörter. Komet sein, neblige Dunsthülle, nur kein Kern.«

Christa gab Brunhild eins mit der Reitpeitsche.

»Was erlaubst Du Dir?«

»Schlägst Du meinen Wotan, schlage ich Deine Brunhild.«

»Und besonders Ihr Frauenzimmer mit dem Vogelgehirn, Ihr panscht ein bischen Christus, Budha, Sozialismus zusammen, eine Dosis Mystik, einen Gran Morphium, ein paar heilige Parsivalklänge, aber dazu ein Kleid für 800 Mark und Gesichtsmassage, die Sitzung à 7 Mark!«

»Wenn Du so schimpfst, Vater, kommst Du nicht in den Himmel.«

»Wenn ich Petrus vorstelle, daß ich weder die Kreuzersonate gelesen, noch die »Weber« gesehen, noch [75] mich für Zarathustra begeistert habe, schließt er schon auf.«

Christa war es lieb, daß das Gespräch eine humoristische Wendung nahm.

»Es fehlte Dir wirklich nur noch, Christel, daß Du »Genossin« würdest.«

»Ist schon im Anzuge. Bin eben dabei, Marx, Engels und Lassalle zu studieren und zu finden, daß Du zu viel verdienst, Vater.«

Das war für den gefeierten Rechtsanwalt zu viel Er zog so heftig die Kandare an, daß das Pferd sich bäumte und er Mühe hatte, es zu beruhigen. Er schäumte wie Brunhild.

»Bleibt mir vom Hals mit Eurem Sozialismus. Willst Du wissen, was der sozialistische Arbeiter ist? Der Proletarier, der stolz darauf ist, daß seine Stiefel Löcher haben und nicht geputzt sind, der sich seine Pauverté für eine Tugend anrechnet und innerlich darüber erbost ist. Sozialistische Einrichtungen! Natürlich in jeder Werkstatt eine Chaiselongue und Kaminfeuer, und jeder Arbeiter nicht nur Sonntags sein Huhn im Topf, nein auch seinen Aal in Aspik und seine Gänseleberpastete ...«

»Und vergiß das Trüffelmus nicht,« ergänzte Christel seine Rede. »Aber Vater, Du sprichst ja wie der satte Bourgeois, und glaubst doch selber nicht an die Gänseleberpastete.«

Sie wußte, der Vater wurde um so heftiger und lauter bei solchen Anlässen, je nötiger er es hatte, eine innere Stimme, die sich wider ihn erhob, zu betäuben. [76] Sie hatte die Empfindung, er litt in solchen Augenblicken. Sie drängte liebevoll ihr Pferd an das seine, zog ein Stückchen Zucker aus der Tasche und gab es Brunhild. Wehmütig und schelmisch zugleich sah sie dem Vater dabei in die Augen. Es war, als habe er selbst den Zucker erhalten, er wurde ruhiger.

»Du bist und bleibst eine kleine Libelle.«

»Wieso Libelle?«

»Die besteht eigentlich nur aus Flügeln, großen, glitzernden, transparenten Flügeln. Das Körperchen dünn, ganz dünn, ein Fädchen nur. Um aber auf unser Gespräch zurückzukommen, ist es nicht wirklich traurig, daß diese Leute, die Proletarier, immer nur an Besitz, an Geld denken? Das Gemüts- und Geistesleben ist doch von ganz anderen Faktoren abhängig als von der materiellen Grundlage, nämlich von der inneren Zufriedenheit, die die Ursache der wahren Harmonie und des Glückes der Menschheit ist.«

Christa lachte auf. »Aber Vater, ein Plagiat. Das hat ja neulich ein hoher Beamter – ich glaube der Postdirektor – seinen Untergebenen gesagt, als sie eine Zulage verlangten.«

Gotthold Ruland wurde etwas verlegen. »Mag sein, es ist deshalb nicht weniger wahr. Ich sage Dir, Kind, es giebt nur zweierlei wahre Werte im menschlichen Dasein: Der Glaube, vor dem ich mich in Ehrfurcht beuge, und die Wissenschaft, für die ich die höchste Schätzung habe. Alles andere – entweder [77] suchen die Menschen dabei ihren Vorteil – es sind Geschäftsmachenschaften, oder – Puschel. Ob Anarchist, Sozialist, ob Menschheitsbruder, von Gutzeit und Dieffenbach bis zu Tolstoi – Poseure sind's, Gift. Ihr Alle, die Ihr für das Abseitige, Verstiegene, Genialisch-mystisch-ephebische Euch ins Zeug legt – Ihr wollt mit dem Kopf durch die Wand. Die Wand ist aber festgemauert. Die Löcher kriegt Euer Kopf. Und nun gar Ihr Weibchen, Ihr habt Euch aufscheuchen lassen aus Euren hübschen, bequemen Nestern und flattert nun umher und sucht den Weg zu den Gipfeln und Adlerhorsten. Sperlinge Ihr! Schwarmgeister!«

Brunhild schien beleidigt und legte zu einem eigenmächtigen Galopp aus. Wotan folgte. Sie galoppierten eine Weile schweigend. Dann aus der wohligen Wärme und einem Kraftgefühl heraus sagte Gotthold Ruland: »Uebrigens im Grunde, ich habe nichts gegen die priesterliche Jungfrau. Ich warne Dich aber. Von Deinem 25. Jahre ab nenne ich Dich, anstatt Madame Abseits, Altjüngferchen Abseits!«

»Einverstanden, Vater.«

Versöhnt und vergnügt langten sie zu Hause an, Frau Harriet bei dem Glauben lassend, daß der Vater der Tochter Raison beigebracht habe.


[78] Christa war kein starker Charakter, der Ueberredung anderer nicht unzugänglich. Aber mehr noch wurde ihr der Eigenwille durch die Unzufriedenheit der Anderen vergällt. Selbst Dietrich fiel dabei ins Gewicht. Die vergrollte Stimmung ihrer Umgebung ertrug sie schwer. Der junge Mann gefiel ihr ja auch ganz gut. Eine große Liebe wollte sie garnicht. Seitdem – seitdem verband sie damit immer die Vorstellung von Selbstmord und Betrunkenheit.

Christa neigte zum Jawort. Da hörte sie – die Mutter erzählte es ihr in der Voraussetzung, daß es ihr Interesse steigern würde – daß der junge Mann ein sehr ernstes Duell gehabt und den Gegner schwer verwundet habe.

»Warum?« fragte Christa kalt.

Das wisse sie nicht. Jedenfalls hätte ihn der Ehrenkodex dazu gezwungen, weil er Reserveleutnant sei – bei der Garde.

Als er am andern Tage im Hause erschien, fragte sie gleich: »Sie haben sich duelliert?« Er verneigte sich schweigend. »Haben Sie Ihren Gegner zur Strecke gebracht?«

»Nicht ganz,« sagte er und lächelte dabei selbstgefällig. Dieses Lächeln – wahrscheinlich ein Lächeln der Verlegenheit – empörte Christa. Sie sah mit Widerwillen auf seine großen, knochigen Hände. »Ich kondoliere Ihnen, Herr Reserveleutnant.«

»Wozu?«

»Daß Sie bei dem Totschlag nicht geschickter verfahren sind.«

[79] »Christa!« rief die Mutter entsetzt.

Der junge Mann war totenblaß geworden. Grußlos verließ er das Zimmer.


Frau Harriet trug der Tochter das Geschehene nach. Ihr Verhältnis zu ihr wurde seitdem schroffer, liebloser.

War sie wirklich feig? Sie wollte sich aufraffen, um nicht schief zu werden, wie Julia es voraus sah. Auch ohne Gymnasialkurse würde sie Mittel und Wege finden, die Universität zu besuchen. Sie ergriff die erste günstige Gelegenheit, der Mutter ihren Plan auseinanderzusetzen.

Frau Harriet wollte in einem Warenhause Einkäufe machen. Christa erbot sich – was sie sonst nicht that – sie zu begleiten. Sie wußte, die Mutter war nie zugänglicher, als wenn sie hübsche und preiswerte Anschaffungen in Aussicht hatte. Auch würde sie selbst im Gewühl der Straßen unbefangener, mutiger mit der Mutter reden können, als im tete à tête im Salon.

Die Mutter nahm die Sache nicht ernst. Sie glaubte nicht daran, daß es einem jungen Mädchen aus distinguierter Familie »Spaß« machen könne, sich mit Hunderten von männlichen Kretis und Pletis stundenlang in schlechter Luft zusammenzupferchen.

[80] Was die Mama denn fürchte, etwa daß sie mit einem dieser Kretis oder Pletis davonlaufen würde?

Sie fürchte nichts, halte aber die Sache für indiskutabel. Wer ihr denn die verschrobenen Ideen eingeblasen habe?

Christa zwang sich zu einem schelmischen Ton. Ob sie etwa wieder mit der erblichen Belastung von der Großmutter her kommen solle? (Die spukte in der Familientradition als eine psychologische Abnormität.) In der Theosophie nenne man solche ererbte Sündenschuld »Karma«. Ob Mamachen einen Vortrag über »Karma« hören wolle?

Mamachen dankte für Karma. Karma wäre Blödsinn. Anne Marie, die doch soviel Esprit habe, würde nie auf die Universität verfallen sein.

»Es thut mir ja leid, Mama, daß ich nicht Anne Marie bin. Was wolltest Du denn auch mit zwei Anne Marieen?«

»Heirate doch, dann kannst Du thun, was Du willst.«

Christa zuckte nervös zusammen. Ein böses Wort, das ihr auf die Lippen kam, drängte sie zurück. Sie lief der Mutter davon.

Laufe nur, dachte Frau Harriet. Sie fühlte sich ihrer Sache sicher. Vor dem Herbst konnte von einem ernsthaften Studium Christas nicht die Rede sein. Zwischen Frühjahr und Herbst lag die lange Sommerreise. Auf diese Reise baute die so eifrig auf ihre Schwiegermutterschaft bedachte Dame ihren Plan. Des kleinen blutarmen Heinz wegen mußte [81] man sich auf ein Ostseebad beschränken. Dahin würde dann auch Anne Marie mit ihrem kränkelnden Mann kommen. Die Justizrätin hatte eben wieder etwas in petto.


In den Frühjahrsmonaten kam Christa oft mit ihren Freundinnen zusammen. Nur Anselma war wie verschollen. Die arbeitete rastlos. Julia saß ihr. Beide beobachteten unverbrüchliches Schweigen.

Zu dem Freundinnenkreis gehörten auch Klarissa Wendler und Maria Hill. Maria war eine ungemein sympathische Erscheinung. Ein liebes Kindergesicht mit rosigen Wangen und lockigem, dunkelblonden Haar. Von der klaren, runden Stirn konnte man die guten Gedanken ablesen. Seit zwei Jahren hatte sie ihre Studien in Zürich – Mathematik und Chemie – beendet. Lange hatte sie vergebens nach einer Stellung gesucht, die sie für ihre Existenz brauchte. Endlich fand sie, auf die Fürsprache eines Freundes der Familie hin, einen bescheidenen Platz in einem Privat-Laboratorium. Sie war dort täglich 7 bis 8 Stunden beschäftigt, vorwiegend mit mechanischen Arbeiten. Sie hatte auszuführen, was der Chef ihr auftrug.

Bei denen, die sie kannten, galt sie für einen reinen und vollen Typus der »Neuen Frau«. Christa [82] hatte sie lieb. Sie war klug wie der Tag, heiteren Temperaments, energisch, klar, vielseitig. Kunst, Litteratur, soziale Fragen, alles interessierte sie lebhaft. Ihr Gemüt war so reich wie ihr Verstand. Sie unterstützte einen Bruder auf der Universität.

Ein ganz leichter Flaum von Studentinnentum lag auf ihrem Wesen, die Art, wie sie die Beine übereinanderschlug, wie sie eintrat, keck und etwas schüchtern zugleich, wohl in dem Bewußtsein, als ein Fräulein Doktor noch immer als eine Rarität auffällig zu sein. Offenbar hielt ihre äußere Sicherheit nicht Schritt mit der inneren. Wenn sie denkend etwas auseinandersetzte, hatte sie einen eigentümlichen Blick: das Köpfchen seitwärts geneigt, ein wenig schielend nach oben blickend, als richte sie ihre Worte an ein imaginäres Oberwesen in der Höhe. Das gab ihr etwas verlegen Schelmisches. Es war aber nur eine Angewohnheit, die ihr gut stand. Ihre Kleidung war einfach, geschmackvoll, äußerst sorgfältig. Phantastisches oder Auffallendes vermied sie.

Ganz anders Klarissa, ein stilles, sonderbares Mädchen, das auf Christa eine starke Anziehung ausübte. Ihr Denken und Empfinden gehörte einer mystischen Welt. Die Sensitivität lag in ihrer Familie. Ihre Seele schien wie schwebend in einem Körper, von dem sie am liebsten garnichts gewußt hätte. Merkwürdigerweise war dieser Körper von vollendetem Ebenmaß. Nur der Ausdruck der blauen Augen, die bald starrten, bald wie aufgeschreckt umherirrten, verrieten eine ungewöhnliche Seelenverfassung. [83] Christa sah wohl, daß Klarissa nicht normal war, wahrscheinlich krank. Aber diese Sensitive mit ihren übersinnlichen Wahrnehmungen gab ihrem Nachdenken einen weiten Spielraum. Ihre rätselhaften physischen Abnormitäten erschienen ihr wie Wegweiser zu Ländern, die noch nicht entdeckt sind.


Julia hatte inzwischen mit Feuereifer die Schriftstellerei in Angriff genommen. Ein paar kleine Novellen waren zurückgewiesen worden. Sie war wütend. Die Novellen wären spannend, großartig. Und sie erzählte ihren Freundinnen den Inhalt. Sie verlor den Mut nicht. Man sagte ihr, sie müsse selbst in die Redaktionen gehen, durch ihre Persönlichkeit wirken. Und sie ging in die Redaktionen, und die Wirkungen, sowohl litterarische wie persönliche, blieben nicht aus. Freilich, einer der Redakteure schlug ihr vor, mit ihm zu soupieren. Dabei ließen sich litterarische Geschäfte gemütlicher abwickeln. Ein anderer suchte sie in ihrem Zimmer auf.

Seitdem sie schriftstellerte, war sie von einer glühenden Unrast, ein wahrer kleiner Vesuv, der ab und zu seinen Ausbruch haben mußte. Abenteuer brauchte sie wie das liebe Brot, und sie flossen ihr nur so zu. Sie hatte etwas von einer kleinbürgerlichen Bacchantin. Statt des Pantherfells nahm sie [84] auch mit einem Hasenfell fürlieb. Eine geborene Vagabundin, aber sie vagabundierte lieber durch die Restaurants, Theater (der Wintergarten hatte einen besonderen Charme für sie) als durch die Natur, durch die Gedanken- und Geisterwelt. Trotzdem schwärmte sie auch für Nietzsche, das heißt, sie blätterte nur in seinen Schriften und schrieb sich Stellen für ihren Gebrauch aus.

Sie liebte es, schwungvoll zu sein und hinterher Würste mit Mostrich zu essen. Neben all ihren Seelenbränden und ihrem Temperament bewahrte sie viel nüchterne Berechnung.

Sie erhielt einen bösen Brief von zu Hause. Sie solle sofort heimkehren. Ihr zweiter Bruder habe sich entschlossen Offizier zu werden. Eine Schwester, die sich in der Welt herumtreibe, sei geeignet seiner Carriere zu schaden. Entweder habe sie zu gehorchen, oder – – –

Die Gedankenstriche, die auf das »oder« folgten, waren so dick unterstrichen, daß Julia den Leutnant in spe im Verdacht dieser Tintenverschwendung hatte.

Sie war außer sich, redete sich in einen förmlichen Haß gegen ihre Familie hinein. Alles wuchs bei ihr gleich ins Maßlose: Zorn, Haß, Liebe. Immer war sie bis zu den Zähnen gewappnet, um sich zu wehren, zu rächen. Es war ein Glück für ihre Feinde, daß Blutrache höchstens noch in Korsika und Sardinien vorkommt. Die wäre ihr Fall gewesen. Sie bäumte [85] sich auf im Trotz gegen diese Familie, und die unmittelbare Folge war, daß sie zum ersten Male die Einladung eines Redakteurs zu einem Souper annahm.

Dietrich Ruland hatte es von einem Kommilitonen, der Julia in dem Restaurant gesehen, erfahren. Er hinterbrachte es seiner Schwester.

Julia war mit dem Familienbrief zu Christa gelaufen. Sie traf dort Klarissa Wendler. Ihre Anwesenheit hinderte sie nicht, ihren Grimm gegen die Familienbande auszutoben.

Familie! Familie! Um das Familienglück zu fördern, solle sie einen älteren fremden Witwer heiraten. Und dieser ältere fremde Witwer brauche sie ebenfalls zur Förderung des Familienglücks, nämlich um seine Kinder zu erziehen. Der Elende! Einfach verliebt war er in sie. Warum heiratete er denn nicht die Kousine, die jetzt bei den Kindern war, die ihn liebte und die das Zeug zu einer Mustermutter hatte.

»Ach Gott, ach Gott, Christa,« schloß sie ihre Jeremiade, »Du sollst sehen, die Geschichte endet mit einem regelrechten, wenn auch gänzlich aus der Zeit fallenden Familienfluch.«

Christa brachte die Sache mit dem Souper im Restaurant zur Sprache, in der Meinung, daß möglicherweise eine Verwechslung vorliege. Julia sah sie mit erkünsteltem Hochmut an.

»Natürlich. Es ist wahr. Unsittlich – nicht? [86] unfein? Wer findet das? Die Gesellschaft. Welche Gesellschaft? Dieselbe, die nicht wie ich, bei offener Scene ein Glas Bier mit einem Kameraden trinkt – das ich notabene selbst bezahlt habe, o nein, die in einem chambre séparée champagnert. Wo liegt denn die Unsittlichkeit? Sind die Stühle in einem Restaurant vom Teufel besessen, ist das Bier in der Hölle gebraut? ...«

»Ich sage ja nicht unsittlich, Julia,« beschwichtigte Christa- »aber es ist so geschmacklos. Du hattest neulich ein weißes Kleid an, ein paar Flecke waren darin, die waren vielleicht von gutem Himbeersaft, und doch Flecke.«

»Mit Euren Bildern! Bilder! ein Hilferuf an die Phantasie, wenn der Verstand nicht langt. Und Geschmack! Geschmack! Ein Mauseloch, in das feige Unnatur kriecht. Wenn man aber ...«

»Ein Löwe ist,« unterbrach Christa sie lächelnd.

»Wenn man kein Esel ist, braucht man noch kein Löwe zu sein. Ich gehöre doch nun einmal zu den Kommenden, Du aber – wenn ich offen sein soll – zu den Hinkenden – ja – Du hinkst, wahrscheinlich auch blos in Mäuselöcher.«

Sie warf mit einer schwungvollen Gebärde das Haar von der Stirn zurück. »Du und Deinesgleichen, Ihr lichtet nie die Anker, um hinauszuschiffen in offene Meere – ins unermeßlich Uferlose, in meerleuchtende Pracht, umhimmelt, umflogen – – giebt es Seeadler? ja? also von Seeadlern umflogen ...«

[87] Da war wieder der plötzliche Umschlag ihrer Stimmung, aus dem schnoddrigen Berlinertum ins Nietzschehafte hinein, Stimmungswechsel, die die Redakteure und auch andere so pikant an ihr fanden.

Derbe Schritte auf dem Korridor wurden hörbar. Anna Rötter trat ein, eine Kleinstädterin, die schon seit Wochen bei ihrer Kousine Klarissa als Logierbesuch hauste.

Anna Rötter war eine Sportsdame, das heißt, mehr Sportsmädel, denn sie radelte in Pumphosen, die die feinere Gesellschaft längst von der Tagesordnung gestrichen hatte. Sie radelte übrigens nicht ganz zum Vergnügen, das Rad war ihr Beruf. Gelernt hatte sie nichts, anregenden Umgang fand sie in dem kleinen Nest nicht, aber – Hysterie hatte sich eingestellt. Das Rad war für sie Rettung aus körperlicher und geistiger Versumpfung geworden. Sie trotzte in ihren Pumphosen allen öffentlichen und privaten Verunglimpfungen, und stolz zu Rad durchquerte sie Deutschland und schnupperte selbst ins Ausland hinein. Sie trat in den Radlerbund und gehörte damit einer Gemeinschaft an. An den verwegensten Wettfahrten nahm sie Teil. Sie hatte eine großartige Auffassung vom Rade. Es war ihr Geliebter. Als in einer Versammlung einem Redner beleidigende Worte gegen Radlerinnen entschlüpften, zwang sie ihn zur Abbitte. Arbeiter, die sich ihr höhnend in den Weg stellten, bedrohte sie mit der Peitsche.

[88] Julia nannte sie die Lola Montez von Kyritz-Pyritz. Sie konnte sie nicht leiden und überließ ihr das Feld bei Christa.


Mehrere Monate hatte Christa von Julia nichts gehört, Karten, die sie ihr schrieb, waren unbeantwortet geblieben. Dann kam sie plötzlich, kurz vor der Abreise der Familie Ruland ins Seebad. Sie kam hereingerauscht, sehr elegant, mit einem leichten Parfümduft. Anfangs blieb sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, wortkarg. Dann brach sie unvermittelt los: Der Familienfluch wäre pünktlich eingetroffen, zu pünktlich, zu einer Zeit, wo außer dem harmlosen Glas Bier mit dem Redakteur noch garnichts geschehen war. Da – also – man hatte ihr den Stuhl vor die Thür gesetzt. Nun wäre es ihnen recht, ganz recht....

Sie blieb vor der Toteninsel stehen: »Weiße Priester, schwarze Cypressen!« Die zusammengefalteten Hände gegen den Mund erhebend, mit dem Ausdruck einer etwas verunglückten büßenden Magdalena, starrte sie auf den Böcklin. Dann besann sie sich aber eines besseren, riß die Hände, als wären sie eine Fessel, auseinander und streckte die freigewordenen Arme fast jauchzend empor.

»Fort mit Gespenstern! Den Tod poetisieren! Wieder so ein Mauseloch, in dem Furcht und Grauen [89] sich verstecken. Der Tod ist ja gerade der böse Bube, der uns lockt, das Leben so gierig zu umklammern. Ueber allen schwarzen, toten welschen Cypressen hoch die deutsche Linde, (unter Deutsch verstehe sie um Gotteswillen nicht alldeutsch). Nachtigallen in den Zweigen, in seinem Schatten eine Bank (braucht nicht weißer Marmor zu sein), und auf der Bank – mit Lehne – er und sie. Er aber kein priesterlicher weißer Sargtransporteur, nein – ein lebensroter Jüngling – am liebsten »die blonde Bestie«.

Sie ließ sich vor Christa auf ein orientalisches Kissen nieder. »Zu Deinen Füßen laß mich sitzen. Dich liebe ich. Erinnerst Du Dich, Christa, wie ich einmal, Deiner Meinung entgegen, behauptete, wir könnten alles, auch ohne den Mann? Ich habe renommiert. Wir können nichts ohne ihn. Und diese Männer, sie thun nichts umsonst, nicht einmal die Redakteure. Wenn man spröde ist, nehmen sie es so gräßlich übel. Und so kommt es denn, ganz allmählich – sachte – sachtchen – –. Und man hat doch Blut, und wir sind doch nicht alle Emilia Galotti's, die einen Vater mit dem Dolch im Gewande besitzen, der sich erbitten läßt, selbigen in unseren entbrannten Busen zu stoßen, um die Flamme zu löschen. Wozu denn löschen?!«

Sie war aufgesprungen und lief im Zimmer umher, wie ein Tiger im Käfig. »Was, ich wäre unmoralisch? Aber unmoralisch sein, heißt sich auf seine Menschlichkeit besinnen. Und Ihr seid die Moralischen? Ihr? O, Ihr intakten, unberührten [90] Jungfrauen, warum seid Ihr denn so rein, so keusch? Aus Reinheit, aus Keuschheit? Oho! Ihr schmachtet ja darnach – wenn Ihr Temperament habt – Euch in die Arme eines süßen Knaben – klingt minniglich, nicht? – zu schmiegen und Euch von ihm mit Haut und Haaren verspeisen zu lassen? Aber eine innere Stimme – eine rostige – raunt: Thu's nicht! Deine Existenz steht auf dem Spiel. Der Geliebte selbst würde Dich mißachten. Die Moralischen, das sind die Vorsichtigen, die Berechnenden oder die Kalten. Aus Reinheit und Keuschheit? Und vom Tag des Ringwechsels an nicht mehr? Was ist denn seitdem in Eurem Seelenzustand geändert?! O, Ihr – Ihr – –«

Sie brach plötzlich in Thränen aus. »Daß ich auch vor Dir lüge, Christa! Ich hätte ja gern – vorher – geheiratet, aber – sie – sie wollen doch immer nicht. Und dann – Du kannst es nicht beurteilen, Christa, aber glaube mir, es ist für eine Schriftstellerin absolut notwendig, daß sie Welt und Menschen und die Liebe gründlich kennen lernt. Das Ergründen von – nicht blos Seelenzuständen ist gewissermaßen das Handwerkszeug unseres Metiers. In des Lebens Tiefen müssen wir hinab und hinauf in seine Höhen.«

Und sie citierte Nietzsche: »Den größten Genuß vom Dasein einzuernten, heißt: Gefährlich leben. Baut Eure Städte an den Vesuv.«

Die arme Julia. Für die Tiefen fand sie Führer. Für die Höhen – vorläufig – nicht.

[91] Beim Abschied umarmte sie Christa stürmisch. »Bleib Du mir treu, Du zartlieber Veilchenduft in meinem Bouquet von Orangenblüten. Ein bischen treu? ja?«

»Ja. Aber parfümiere Dich nicht mehr.«

Julia ließ Christa traurig zurück. Da war ein Mensch mit heißem Temperament und großer Begabung. Und er wird möglicherweise zu Grunde gehen. Woran? Sie konnte es nicht definieren, sie war nicht erfahren genug. Es fiel ihr nicht ein, Julia zu verdammen. Hatte sie ein Recht dazu? War sie nicht auch zuweilen aus Träumen erwacht, die ihr das Blut ins Gesicht trieben? Und immer war es derselbe junge Mann gewesen – sie kannte ihn kaum – dem die Zärtlichkeit ihrer Träume galt.


Vor ihrer Abreise ins Seebad sah Christa doch noch einmal Anselma. Man feierte den Geburtstag der Malerin im Atelier, wie es seit einigen Jahren üblich war.

Maria Hill hatte eine Freundin, eine junge Aerztin, mitgebracht, die sich auf der Durchreise flüchtig in Berlin aufhielt. Sie war Psychiaterin und kam von England, wo sie in den Hospitälern Studien gemacht hatte. Christa bewunderte die freie, elastische Kraft ihrer Bewegungen. Der Blick kühn, durchdringend,[92] als erspähe er überall den Kern der Dinge. Zielbewußte Sicherheit war der Ausdruck ihres Wesens.

Christa lauschte jedem ihrer Worte. Sie sprach in kurzen Sätzen, scharf pointiert, ganz Nerv. Man hätte denken sollen, sie müsse abstoßend auf Männer wirken. In der That aber verliebten sich die Männer über Hals und Kopf in sie, was nur zum Teil auf Conto ihrer äußeren Erscheinung kam. Ein sympathisches Gesicht, eine schöne, ebenmäßige Gestalt, die Kleidung von flotter Grazie. Die Verliebtheit der Männer freilich war kurzlebig. Die souveräne Haltung, die süperbe Sicherheit und scharfe Logik der jungen Aerztin wurde ihnen bald unbequem. Dieser Weibtypus war ihnen noch zu fremd.

Anselmas Atelier war klein. Die angefangenen, jetzt verhängten, großen Bilder nahmen seine ganze Breitseite ein. Ein paar vertrocknete Palmen, halbwelke Blumensträuße in pompejanisch getünchten Kübeln, und allerhand schönfarbiges Gelump, teilweise von Anselma selbst mit dämonisch sezessionistischen Arabesken bemalt; Kissen, Teppiche, alles mehr oder weniger verschlissen und zerrissen, gaben dem Atelier den nötigen, etwas herausgequälten, phantastisch-poetischen Charme.

An der Wand hing die Kreidezeichnung und das Oelbild eines jungen Mannes. Ein häßlicher, aber geistvoller Kopf. Ein riesiger Haarbusch fiel in eine breite, vorspringende Stirn, die die Augen überwölbte, so daß sie dahinter wie aus einer Höhle [93] herausglühten. Er war Dichter – ein Sataniker. Alle wußten von seinen intimen Beziehungen zu Anselma.

Ehe man ins Atelier kam, mußte man die übrigen Räume der Wohnung passieren. Es schien schier unglaublich, daß sich so viel Sachen und Sächelchen in 4–5 kleine Löcher stopfen ließen: Möbelchen, Gypsfüße und Hände, Figürchen, meist defekte, Farbentiegel, alte verschmierte Paletten, bunte Papierfetzen, vertrocknete Guirlanden, dazwischen ein frischer Apfelblütenzweig, zerbrochenes Geschirr, ein rotes Atlasmieder, ein japanisches Gewand, zu irgend einem Kostümfest von ihr selbst bemalt. Auf einer alten Truhe hockte eine schwarze Katze mit funkelnden, lichtgrünen Augen. Sie hieß Alberich und bewachte, wie Anselma sagte, ihren Nibelungenschatz, der in der Truhe lag.

Und mitten durch diesen unentwirrbaren Krimskrams – ein Chaos für entartete Proletarierpuppen nannte Julia die Räumchen – schritt Anselma in einem langen, fließenden Gewand von lichtrosa Cachemir, in der Taille mit einem Band leicht zusammengehalten. Auf der Schulter eine weiße Taube, die gehörte ein für allemal zu ihr, wie der Adler zum Apostel Johannes, wie der Löwe und die Schlange zu Zarathustra.

»Gott, Gott!« rief Julia, »wo hat denn Dein Dämon hier Platz?« Anselmas Dämon war ein geflügeltes Wort.

Die junge Aerztin fragte, wo sie denn schlafe,[94] koche, esse und was sie äße? Sie blickte etwas mißtrauisch auf die überschlanke Gestalt.

Anselma schob irgendwo einen löcherigen Vorhang zurück, da sah man einen Kochherd und ein paar Kochgeräte; in einem schmorte noch ein Restchen von etwas Undefinierbarem. Ihre Schlafstelle sei auf der Truhe oder auf der Chaiselongue im Atelier, je nach dem.

»Warum werfen Sie den ganzen Krempel nicht in den Kehricht? Ihre Wohnung ist ja ein Laboratorium für Bazillenzüchtung.«

Man war inzwischen ins Atelier gelangt, wo Maria anfing, die Chokolade zu kochen. Anselma meinte, die Chemikerin müßte das am besten verstehen.

Anselma klagte, sie habe ja keine Zeit, zu sondern und zu ordnen, aber wenn erst eine Gallerie ihre Bilder gekauft haben würde – dann – ja dann – Aber ließe man sie denn aufkommen? sie müßte längst berühmt sein. Man arbeite gegen sie. Als sie im vorigen Jahr in Wien ausstellte, habe man sie in eine Linie mit den ersten Malern gestellt. In Deutschland aber müsse es Nacht sein, ehe ihre Sterne strahlten. Nacht, das hieße natürlich, wenn sie tot wäre.

Die Freundinnen schwiegen. Das Schweigen irritierte die Malerin.

»Natürlich, ich sehe Euch ja an, was Euch auf den Lippen schwebt: Arme Anselma Sartorius! Größenwahn!«

[95] »Aber doch nicht heut an Deinem Geburtstage,« beschwichtigte Christa, »und wenn auch, im Größenwahn liegt Vornehmheit. Er setzt ein hohes Ziel, ein Ideal voraus, mit dem wir uns einfach identifizieren.«

»Ja, ganz einfach,« warf die Aerztin ein, »nur täuscht sich der Größenwahn über die Distance, die ihn von seinem Idealbild trennt. Uebrigens zuweilen ist eine Einspritzung von etwas Größenwahnserum für Dünnknochige und Muskelschwache – in Romanen heißen sie müde Seelen, – ein gutes Heilmittel.«

Maria war der Ansicht, daß Größenwahn sich so ziemlich mit der allseitig gebilligten Lebenslüge decke, die vor Ibsen schon Nietzsche als eine Art Lebenselexir entdeckt habe. Und sie schlug vor, einen gehäuften Löffel Schlagsahne auf das Wohl des Zwillingspaares Größenwahn und Lebenslüge in die Chokolade zu thun, wogegen Anselma protestierte, da die Schlagsahne dann zur zweiten Tasse Chokolade nicht reichen würde, was wiederum Julia sehr kalt ließ, da es nicht darauf ankäme, lange, sondern tüchtig drauflos zu leben, und sie zöge eine Tasse Chokolade mit zwei Löffel Schlagsahne zwei Tassen mit je einem halben Löffel Sahne vor.

Klarissa Wendler, über deren Ausbleiben man sich schon gewundert hatte, trat ein, hastig, mit flackernden Augen. Es war ihr etwas Unheimliches passiert. Sie war durch die Leipzigerstraße gegangen. Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen, als wenn ein Nebeldunst es allmählich einhüllte. Und [96] wie bei einer Wandeldekoration tauchte ein anderes Bild auf, eine Landschaft, die sie kennt, eine Allee von Edeltannen, die zu einem epheuumrankten Wohnhaus führt – ihre Heimat. Und die Glocken der Dorfkirche läuten. Und ebenso allmählich, wie das Bild aufgetaucht, verschwindet es wieder, und sie steht im hellen Sonnenlicht in der Leipzigerstraße, vom schnurrenden Kreischen der elektrischen Wagen umtost. Einem der Ihrigen drohe eine Gefahr, ganz sicher. Sie habe gleich eine Depesche geschickt.

Man suchte sie zu beruhigen. Wahrscheinlich wäre daheim Kuchen gebacken, und der Duft wäre ihr in die Nase gestiegen. Sie blieb aber verstört. Man besann sich auf ein heiteres Gesprächsthema, teils wegen des Geburtstages, teils um Klarissa zu erheitern.

»Sprechen wir doch vom »Neuen Weibe« oder von der alten Liebe, das ist immer hübsch,« rief Julia. Apropos, Liebe: Wie Christa mit dem Assessor stände, wollte man wissen.

Sie erzählte das Vorgefallene. Wahrscheinlich würde sie garnicht heiraten.

Die unentwegt radikale Julia legte sich sofort gegen die Ehe ins Zeug und fand es merkwürdig, daß die junge Generation, die mit allen möglichen Vorurteilen aufräumen möchte, mit Duell, Krieg, Kapital, Monarchie, ja sogar mit den Krankheiten, denn je älter jetzt die Greise würden, je länger lebten sie noch, der Ehe aber ginge man um den Bart. Ueberall [97] Umsturz, Neubildung, die Ehescheidungen erschwere man noch.

Sie wandte sich zu Maria: »Na, und Sie Chemikerin, die Sie ja so recht eigentlich die »Neue Frau« repräsentieren, wie stehen Sie zu diesem grauen, beim Volk meistenteils ein blau und grünes Elend?«

Maria gab zu, daß allerdings die meisten Ehen entweder im Venusberg oder im Bureau eines Rechtsanwalts geschlossen würden, das heißt, aus Verliebtheit oder um materieller Vorteile willen.

Julia nickte leidenschaftlich. »O, wie wahr!«

»Und deshalb gerade,« fuhr Maria fort, »braucht man das Standesamt, als Deckmantel für unlautere Mogelei, und das Religiöse, um das Allerprofanste zu verheiligen. Eine echte Ehe, die ist ja ganz von selbst Ehe, auch ohne amtliche Treuschwüre. Aber man traut unserm herzigen, ehrlich gemeinten »ich will!« nicht, und pfropft ein schmiedeeisernes »Du mußt« darauf.«

»Also auch Sie, kluge Maria,« triumphierte Julia, »Sie pfeifen wie ich auf die Ehe?«

»Doch nicht,« antwortete Maria kühl. »Im Gegenteil, ich sehe keinen Grund, um einer Form willen die Welt vor den Kopf zu stoßen und meine Angehörigen tötlich zu kränken. Ich bin doch Chemikerin und nicht Reformatorin, und nicht leichtfüßig genug, um in Weltrisse zu springen.«

Julia in ihrer Enttäuschung schlang ein so großes Stück Kuchen herunter, daß sie sich daran verschluckte, [98] und würgend gluckste sie den christlichen Wunsch hervor: Maria möchte in ganz gemeiner Wald- und Wiesenverliebtheit mit einem Fatzke hereinfallen, und sich dann in einer Radauehe wie ein Frosch im Trocknen verzappeln. Und beim Aussprechen dieses Wunsches sah sie so schadenfroh aus, als wäre sie bereits Zeugin von Marias Verzappelung.

Die Chemikerin hielt ein solches Hereinfallen ihrerseits für unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, fintemalen der Mensch sich im Lauf des Lebens mehr als einmal häute und ein liebenswerter Jüngling sich zu einem Rauhbein oder einem unangenehmen Philister auswachsen könne. In einer dürren, schlechten Ehe würde sie nicht einen Tag bleiben, wenigstens – nicht ein Jahr. Solche Ehen möchten für einen Mann möglich sein, für die Frau mit den subtileren Nerven – nicht. Es käme ihr kindisch, degoutant, unsittlich vor, einen verzeihlichen Jugendirrtum mit seinem ganzen Leben bezahlen zu wollen: eine narrenhäuslerische Selbstkreuzigung.

»Ha! Selbstkreuzigung!« rief Julia. »Bleistift her, damit ich's niederschreibe. (Sie trug den Bleistift immer bei sich.) Es soll der Titel meines ersten Romans sein, oder soll ich ihn »Die Märtyrer der Sitte« nennen?«

Man lachte und mißbilligte, daß sie auf einen Titel hin einen Roman fabrizieren wollte.

»Ich sehe schon,« sagte sie schmollend, »ich bin hier die einzige Larve unter fühlenden Brüsten.«

[99] »Klarissa scheint auch keine fühlende Brust,« bemerkte Maria.

Klarissa hatte nur ab und zu den Kopf geschüttelt, sonst keinen Anteil an der Unterhaltung genommen. Was sollte denn das alles? Liebe – Ehe – das ging sie nichts an.

Die junge Aerztin faßte Klarissa scharf ins Auge. Das schwarze Kätzchen mit den grünen Augen kam ins Atelier geschlichen, und mit einem Sprung saß es auf Klarissas Schoß. Sie streichelte das schnurrende Tier, freute sich an den Funken, die aus dem Fell sprühten, und wurde ganz böse, als die Anderen die Funken nicht sehen wollten.

Als man die Aerztin fragte, ob sie nicht doch, trotz ihres anstrengenden Berufes, einmal heiraten würde, zuckte sie hochmütig die Achseln. Eine höchst unwichtige Angelegenheit für sie. Vielleicht habe sie, wie Julia König, die Ehe für sich abgeschafft.

»Ach,« murrte Julia, »wenn man das nur ungestraft könnte. Sie richten einen ja immer gleich hin. Knurre nicht, Pudel!« fuhr sie die miauende Katze an. »Ja, wenn man berühmt wäre! Wer fragt eine große Künstlerin nach ihrem Ehering? Fast alle berühmten Liebespaare sind unverheiratet geblieben. Sie, Maria, brauchten in Ihrer Chemie z.B. nur künstliche Herstellung von Lebensmitteln – etwa aus Holzfasern – zu erfinden....«

»Und mir läge dann ob,« fiel die Aerztin spöttisch ein, »die menschlichen Verdauungsorgane für die Holzpillenernährung zurecht zu operieren.«

[100] »Lächerlich kann man alles machen. Fassen wir eine Resolution: Wir alle, die wir hier im Namen der Kunst und Wissenschaft – Christa, Du kannst Dich weinend aus unserem Bunde stehlen – versammelt sind: Unsere Losung sei fortan der Lorbeer.....«

»Und wir pfeifen auf die Myrte,« ergänzte Maria lachend.

»Beeile Dich nur recht mit Deiner Berühmtheit, Julia,« sagte Anselma, »daß Du nicht zu alt für die Geliebte in einem berühmten Liebespaar wirst.«

»Du weißt ja aus Erfahrung,« gab Julia boshaft zurück, »wie schwer es einem weiblichen Genie wird, durchzudringen.«

Sie verstand den strafenden Blick Christas und lenkte ein. Uebrigens habe sie neulich in der Schrift einer berühmten Frau gelesen, warum das Weib es so selten zur Genialität bringe. Sie wisse die Stelle auswendig. »Hört!« Und sie zitierte: »Wenn der geniale Mann dazu getrieben wird, die Höhen und Tiefen des Lebens zu messen, geschieht es ihm nicht selten, daß er auch jene Sphären tangiert, welche in der Strophe geschildert werden: Hier liege ich im Rinnstein und betrachte meine alten Schuh. Die weiblichen Genies werden selten in einer ähnlichen Situation getroffen.« Und dann sagt die Dame noch, daß nie einer groß geworden wäre als Religionsstifter oder Denker, als Dichter und Prophet ohne seine Verwandtschaft mit Luzifer und Prometheus, [101] ohne Abhängigkeit vom Teufel und seinem eigenen Fleisch.

»Da habt Ihr's! bändigen wir also unsere Ethik, damit die Hölle zu ihrem Recht kommt. Ueberhaupt immer ethisch sein! das geht ja garnicht.«

Die jungen Damen wollten von der Höllenintimität nichts wissen. Uebrigens stimme die Sache nicht, meinte Maria; auf dem deutschen Parnaß wenigstens behelfen sich die Genies meist ohne Rinnstein. Die Rausch- und Haschischdichter, die Alkoholisten seien Ausnahmen.

Sie hielt inne mit einem Blick auf Anselma. Der Sataniker, dessen Bild da hing, war ein solcher Haschischdichter.

Anselma schnäbelte lächelnd mit der weißen Taube. Sie ließ das Tierchen erst um ihren Kopf flattern, dann steckte sie ihm eine Rose in den Schnabel, und langsam schwebte die Taube, als wäre sie sich einer inhaltschweren Mission bewußt, zu dem Bilde des Satanikers und ließ die Rose auf den Rahmen fallen.

Man klatschte Beifall.

»Ich weiß schon,« sagte Christa, »Du heiratest doch noch Deinen Dichter.«

Klarissa aber rief plötzlich: »Die Taube blutet!« Sie blutete aber nicht. Wahrscheinlich hatte der Reflex eines roten Lampenschirms sie getroffen. Julia, die hinter dem Vorhang verschwunden war, trat mit einer Mandoline im Arm heraus: »Die Harfenjule[102] wünscht ein Lied zu singen.« Und sie krähte lustig eine flotte Ueberbrettl-Tollheit.

Beim Abschied teilte Anselma den Freundinnen mit, daß ihre Bilder Anfang Winters vollendet sein würden. Und sie lud sie jetzt schon zur Vorbesichtigung ein.

Im Hinausgehen flüsterte Klarissa der Aerztin zu: »Und die Taube hat doch geblutet.«


Anfang Juli begab sich die Familie Ruland ins Seebad. Theodor Stern saß den Tag über in der Sonne im Rollstuhl und befand sich besser als in der Stadt. Der kleine Heinz war glückselig am Strand. Er machte aus Sand kleine Kähne und verkaufte sie für Bonbons an andere Kinder.

Ungefähr 14 Tage später erschien Adrian von Lützow, von Frau Harriet und Anne Marie freudig empfangen. Theodor verfiel seitdem sichtlich. Sie machten zu Dreien weite Spaziergänge: Anne Marie, Christa und Adrian. Frau Harriet blieb lieber im Strandkorb und beaufsichtigte Heinz und Theodors Rollstuhl.

Adrian von Lützow gefiel Christa. Es schien ihr, als ginge eine angenehme, erfrischende Kühle von ihm aus. In ihrem Geschmack, ihren Eindrücken von Natur und Menschen stimmten sie überein, in ihren[103] sozialen Anschauungen, in ihren politischen und litterarischen Urteilen nicht. Die diskrete und anmutige Art seiner Ausdrucksweise aber überbrückte die Gegensätze.

War Adrian um Anne Maries willen gekommen? Liebte er sie? Der Gedanke beschäftigte Christa. So gut paßten die Beiden zusammen. Anne Marie mit ihrer frisch-frohen Natürlichkeit, ihrem originellen Uebermut taute, was frostig in ihm war, auf. Sie entband ihn von einer Ungeschmeidigkeit, einer Gemessenheit, die mitunter an Steifheit grenzte.

Christa lernte ihn von seinen liebenswürdigsten Seiten kennen.

Anne Marie verspottete ihn mit seiner unausstehlichen, langweiligen, angeadelten Vornehmheit und nannte ihn »mein hoher Herr«. Ein Mann müsse auch den Mut haben, sich einmal lächerlich oder unangenehm zu machen, und er würde ihr sympathischer sein mit einem Loch im Strumpf und einem Purzelbaum, den er im Sande schösse, als mit seiner Graz-i-e. Sie legte den Accent auf i und e. Und wenn er nicht ab und zu die »blonde Bestie« herauskehre, (Blondheit allein thäte es nicht) so glaube sie nicht an seine Raubritterabkunft und zähle ihn zum Train in den Heerscharen der Aristokratie.

Er kehrte aber die blonde Bestie nicht heraus, was sich für einen Assessor im Auswärtigen Amt wohl auch nicht schickte. Er hatte eigentlich Naturwissenschaft [104] studieren wollen, ließ sich dann aber von seiner Familie zur diplomatischen Carriere überreden.

Anne Marie trieb allerhand Tollheiten und Schelmereien mit ihm. Anfangs wehrte er sich gegen ihre Ausfälle, unterlag aber bald ihrem Zauber, nur die Purzelbäume schoß er nicht, und auch das Kneippsche Barfußgehen lehnte er ein- für allemal ab. Im Schweiße seines Angesichts aber und in Hemdärmeln mußte er graben, dem kleinen Heinz an seiner Sandburg bauen helfen. Einmal zwang sie ihn sogar, Blaubeeren, nicht nur zu sammeln, sondern sie auch zu essen. Auf die blauen Lippen war es abgesehen. Er bekam aber keine blauen Lippen, was sie für Taschenspielerei erklärte. Er saß im Strandkorb, und schwaps, stürzte sie von hinten den Strandkorb über ihn; daß er auf allen Vieren darunter hervorkriechen mußte, war der Spaß dabei. Sie tanzte, wenn der Mond schien, am Strande: »die Birchpfeiffersche Grille rediviva!« sagte sie.

Theodor durfte in seinem Rollstuhl zusehen, und sie zeigte sich ängstlich besorgt um ihr Theochen, wickelte ihn in ihren Shawl, damit er sich nicht erkälten sollte, steckte ihm Chokoladen-Katzenzungen, die sie immer bei sich trug, in den Mund. »Theo ist mein Kind,« sagte sie, »das muß ich pflegen.«

Das alte Kind wurde fahl, sah aber doch mit Entzücken auf seine Gattin, die wie ein leuchtender Nachtschmetterling in ihrem weißen Kleide in der Mondglut über den Strand huschte.

Christa kam sich so schwerfällig neben dieser Fee[105] vor. Wie natürlich, wenn Adrian sie liebte. Sie würde sich wahrscheinlich von Theochen scheiden lassen und dann den Herrn von Lützow heiraten.


Ein Wetterumschlag. Es regnete und regnete. Tagelang. Theodor Stern konnte Regenwetter nicht vertragen. Er lag mit heftigen Schmerzen krank im Rollstuhl und jammerte: »Wäre ich tot.«

Anne Marie rückte ihm die Kissen zurecht und that ihm dabei weh. Er sah sie böse an. Sie wollte die Mutter rufen, die es besser verstände. Das wollte er nicht. Er wurde sanft und flehend: »Habe nur noch eine kleine Weile Geduld mit mir. Siehst Du denn nicht – es ist der Anfang vom Ende. Ich sterbe.«

Sie wandte sich blitzschnell ihm zu. In den aufgerissenen Augen hatten sich die Pupillen erweitert mit dem Ausdruck atemloser Spannung.

»Anne Marie! Anne Marie!« Es war ein so schneidender Weheruf, daß ihr das Herz davor stille stand.

Zu ihrem Entsetzen war er aufgesprungen. Einen Augenblick stand er aufrecht, er, der seit Monaten an den Beinen gelähmt war. Drohend hob sich seine Hand: »Du – Du!« Hilflos brach er zusammen. Er weinte.

[106] Sie kniete vor ihm, legte ihren Kopf an seine Brust. »Theo, mein lieber armer Theo! denke nur das nicht, nur das nicht!« Sie weinte mit ihm. »Ich verlasse Dich nicht – nie, ich liebe Dich.« Sie trocknete seine Augen und küßte ihn auf den Mund. Eine stille, inbrünstige Freude breitete sich über seine Züge. Er schlummerte ein.

Der arme Theodor liebte seine Frau leidenschaftlich. Der Todkranke begehrte das reizende Weib. Er rüttelte verzweifelt an der Kette, an die seine Krankheit ihn schmiedete, und sie schnitt nur um so tiefer in sein Fleisch. Tantalusqualen! sie zerstörten ihn.

Als später der Arzt kam, hatte Anne Marie eine lange Unterredung mit ihm. Das Resultat war: Bei Vermeidung aller Aufregungen und bei sorgfältiger Pflege könne Theodor Stern noch viele Jahre leben.


Am nächsten Tage, als das Wetter sich aufgehellt, machte Anne Marie einen langen, einsamen Spaziergang mit Adrian. Am Abend sagte sie zur Schwester: »Wunderst Du Dich über meine Intimität mit Adrian? Es ist nicht, was Du denkst. Ich habe nur ein Geheimnis mit ihm. Aber – sie lächelte – ein wehes Lächeln – es ist nichts so fein gesponnen, es [107] kommt endlich an die Sonnen, oder auch an den Mond.«

Die Pflege Theodors gab ihr den Vorwand, es einzurichten, daß Christa jetzt oft allein mit Adrian Strand- und Waldspaziergänge unternahm. Sie sprachen wenig, die Beiden. Sie empfand ein warmes Behagen, an seiner Seite zu gehen. Das gemeinsame innige Genießen der Natur schuf eine Intimität zwischen ihnen. Einmal verirrten sie sich im Walde. Er ging, um den Weg zu suchen. Sie setzte sich auf einen abgeholzten Baumstamm. Es war so still, lautlos. Nur das leise Summen der Wespen, der Duft des Haidekrauts und des Nadelholzes. Die Kiefern ragten an dieser Stelle hoch und schlank in den Aether, beinah cypressenartig.

Er blieb lange aus. Mit sehnsüchtiger Angst spähte sie nach ihm. Da plötzlich stand er hinter ihr. Er war auf einem andern Weg zurückgekommen. Sie jauchzte auf, und erschrak gleich darauf über dieses Jauchzen. Liebte sie ihn? Sie nahm seinen Arm nicht und blieb an dem Tage unruhig und in sich gekehrt.

Einige Tage später gingen sie durch den Wald, über hügliges Terrain, bis sie zu einem kleinen freien Platz gelangten, von dem aus man weit über das Meer hinaus sah. Er breitete seinen Plaid aus, und Christa setzte sich auf den Boden. Er lehnte an einem Baum. In seidiger Schönheit rann das Meer. Lichtfunken glitzerten in spielerischem Gekräusel darüber hin. Rosige Schleier am Himmel, am Saum des [108] Horizonts duftiges Violet. Und wie die Sonne tiefer sank, wurde das Meer ein einziges golden bläulich seliges Schimmern von unaussprechlicher Zartheit. Ein Ausklingen der Farbe wie Geisterhauch, wie ein weiches Fächeln mit Palmen, ein Singen des Meeres – sein Schwanenlied. Und die Sonne sank tiefer noch. Ein kleines Schiff, vom letzten Sonnenstrahl getroffen, glitt – ein leuchtender Rubin – über den bläulichen Atlas des Wassers. Vom schlanken Mast wehte weithin ein schwarzer Rauchschleier.

Eine wunderbare Stimmung kam über die Beiden. Unwillkürlich schlangen sich ihre Hände ineinander. Und dann war der Schleier verweht. Rubin und Gold erloschen, und immer leiser und zarter verklang die Farbe – ein Kindeslächeln, ehe der Schlaf es umfängt – süßestes Piano – ade! ade!

Er kniete neben ihr, umschlang sie mit dem Arm und küßte sie mit einer so leisen Berührung seiner Lippen, wie das Abendlicht das Meer küßte. Eine tiefe, ihm ganz hingegebene Innigkeit durchdrang sie. Aneinandergeschmiegt gingen sie durch die Walddämmerung langsam nach Hause.

Im Gärtchen vor der Villa stand Anne Marie. Ihr Blick streifte Adrian. Er nickte unmerklich.

Der Vater sei angekommen, verkündete sie, etwas Außerordentliches sei ihm passiert, das heißt eigentlich mehr der Mama, bei Tisch würde es sich enthüllen. Christa müsse sich aber der Feststimmung zuliebe in Wichs werfen, mindestens ein weißes Gewand. Christa ging sich umzukleiden.

[109] Als sie eine halbe Stunde später in das Speisezimmer trat, sah sie nur strahlende Gesichter. Der Vater umarmte sie, gegen seine Gewohnheit, zärtlich. Theodor Stern hatte sich im Rollstuhl an den Tisch fahren lassen und drückte ihr die Hand mit einer Kraft, daß sie fast erschrak. Auf dem Tisch stand Champagner. Sie schauderte. Seit jenem tragischen Ereignis hatte sie einen Widerwillen gegen Champagner. Nun erfuhr sie es gleich: Der Vater war Geheimrat geworden. Die Mutter sah so schön aus, wie sie sie außerhalb des Salons noch nicht gesehen hatte.

Gegen Ende des Mahls erhob sich Frau Harriet, hielt eine anmutige kleine Rede und brachte einen Toast aus auf den lieben funkelnagelneuen Geheimrat und – auf das Brautpaar.

Christa sah sich unwillkürlich um. Welches Brautpaar? »Adrian und Christa!«

Ein Zittern überlief Christa. Wie einer Traumwandelnden war ihr, die man zu laut anruft. Eine Blüte war entknospt, die zum Aufblühen noch nicht reif war.

»Aber,« stammelte sie. Sie sah hilflos, geängstigt aus, blickte von einem zum andern – lauter glückliche Gesichter. Sie stand wie unter einem Bann, sagte nichts. Alle umarmten sie. Adrian küßte ihr die Hände.

Sie sah ihm gerade in die Augen. Ja – ein liebenswerter Mensch.

Anne Marie war sprühend, fast zu sprühend. [110] Sie trank viel Champagner und behauptete, sie hätte sich Adrian glühend zum Schwager gewünscht.

Als Christa ihr Zimmer betrat, stieg der Mond in halber Sichel rot aus dem Meere auf. Als er höher kam, floß sein Licht in dunklem, matten Silber am Rand des Meeres hin. Das Meer rauschte – ein Choral, und dazwischen ein leises Getön wie von fernen Flöten, oder war es ein Echo des Rauschens? oder nur ein Vibrieren der Nacht?

Sie blieb mitten im Zimmer stehen, in einer Flut von Mondlicht. Die Veranda vor dem Zimmer war durch eine Säule gestützt. Immer höher stieg der Mond. Durch den Vorhang der Veranda blickte sie auf seine breite Silberbahn im Wasser.

Könnte es am Meer in Venedig schöner, magisch berückender sein? Die Säule erglänzte wie von weißem Marmor. Ihr war, als stünde sie in einem Palazzo an den Lagunen, und sie wäre eine Renaissance-Fürstin, die auf die Ruderschläge der Gondel lauscht, die den Geliebten zu ihr tragen.

Unter dem Balkon stand eine dunkle Gestalt und blickte empor, ob zu ihr, ob in den Sternenhimmel? Es war Adrian. Ihre Seele rief ihn: Komm!

Ein Süden, eine Glut durchzitterte die Nacht. Sie streckte die Arme hinaus. Er sieht sie nicht. Er geht weiter – weiter. Er entschwindet.

Langsam beginnt sie das Haar aufzulösen, die Kleider abzulegen. Eine unwiderstehliche Lust kommt ihr, in der reinen, wehenden Nachtluft nackt ihre [111] Glieder zu baden. Kleider kommen ihr unnatürlich vor, dürftig, unfürstlich zu diesem Vermählungsfest von Nacht, Schönheit und Liebe. Aber – sie scheut sich vor dem Mond, vor dem großen, silberstrahlenden Auge. Sie schlingt ihre Arme um die Säule, und an den weißleuchtenden, kalten Stein schmiegt sie die feinen, zarten Glieder.

»Adrian!«


Als Christa am andern Morgen unter einem grauen, bewölkten Himmel erwachte, fühlte sie sich beklommen, ernüchtert, verdrossen. Warum war sie verdrossen? Sie liebte doch Adrian, oder – –

Und plötzlich ging es wie ein elektrischer Schlag durch ihr Gehirn: Wie? wenn all das Gestrige auch nur eine Trunkenheit gewesen wäre wie damals – damals mit dem Champagner – nur eine andere Trunkenheit, eine intensivere, feinere. Wenn die zärtlich holde Schönheit der Natur sie berauscht hätte! Schönheit und Liebe sind verwandt und spinnen Fäden hinüber und herüber. Man kann sich auch in Nektar berauschen. Die Sonne gestern im Untergehen sang einen Psalm der Liebe. Sie hatte eingestimmt. Und da war er da – Adrian. Was sie jetzt fühlt, sie weiß es nicht recht, sicher aber nichts von dem jauchzenden Glück einer eben verlobten Braut.

[112] Als sie dann zum Frühstück hinunterging und alle so froh waren, die Sonne durch das Gewölk brach und auf ihrem Platz die schönsten Rosen lagen, da kam eine Weichheit über sie, etwas Stilles, Sanftes, Ergebenes. Und als sie dann später an Adrians Arm, am Strand entlang wandernd, in vollen Zügen die Seeluft einatmete, dachte sie: ob sanfte Hingebung, Unterordnung doch vielleicht des Weibes Glück sind?


Anne Marie war der Meinung, die Hochzeit müsse in kürzester Zeit stattfinden, etwa in vier Wochen, und zwar in der kleinen Dorfkirche des Ortes. Ein paar Stunden später Beginn der Hochzeitsreise – Dampferabfahrt nord- oder südwärts.

Sie insuinierte Christa: Wenn man der Mutter Zeit ließe, würde sie einen riesigen Hochzeitsspektakel in Szene setzen, mit zwölf Gängen, unzähligen Toasten und den weitläufigsten Tanten und Onkels, eine Vorstellung, die Christa erschreckte.

Anne Marie setzte ihren Plan bei der Mutter durch. Die Aussicht, während der Hochzeitsreise des jungen Paares Ausstattung und Wohnungseinrichtung ohne jeden Einspruch besorgen zu können und dabei der Welt zu zeigen, daß sie in sechs Wochen zu leisten im stande war, wozu andere viele Monate [113] brauchten, trug zur Willfährigkeit Frau Harriets bei.

Zwei Tage nach der Verlobung reiste Adrian ab, um das Aufgebot und die nötigen Papiere zu besorgen.

Als er fort war, geriet Christa in einen inneren Zwiespalt mit sich. Sie hatte doch nicht heiraten wollen. Die Schwester hatte recht: es kommt doch immer alles ganz anders als man denkt.

Anne Marie wich in diesen Wochen kaum von Christas Seite. Theodor war fast immer dabei. Er war von rührender Weichheit und plante großartige Hochzeitsgeschenke für seine Schwägerin. Anne Marie war zwar heiter – ja lustig wie sonst, es war aber eine falsche Note in ihrer Heiterkeit.


Das Wetter war wieder unfreundlich geworden. Ein feiner, rieselnder Regen. Seit drei Tagen hatte Adrian keine Zeile geschrieben. Und Christa brauchte das Gefühl, daß sie ihn beglücke. War seine Neigung so lau, wozu dann das Ganze? Für die Fortsetzung ihrer Studien sah sie ohnedies Berge von Schwierigkeiten voraus. Von Studien, die sich auf das Volksleben bezogen, von ihrer Bethätigung als Volksrednerin konnte kaum noch die Rede sein, für sie, die Gattin des Freiherrn von Lützow! In der Ehe bilden Mann und Frau ja eine einzige Persönlichkeit.

[114] Während sie trübe in die verregnete Landschaft hinausblickte, trat Frau Harriet mit einem Brief in der Hand in die Veranda.

»Von Adrian?« fragte Christa schnell.

Nein, vom Vater. Es handle sich um das Geld für die Ausstattung. Mit einem Mal wolle der Vater weniger herausrücken, als abgemacht worden sei. Unter diesen Umständen müßten die echten Spitzen an den Hemden wegfallen, es sei denn, daß Anne Marie, die ja immer eine offene Hand habe, einspränge.

Ein heftiger Unwille stieg in Christa auf. »Wenn die Sache so viel Umstände und Aerger macht, lösen wir doch die Verlobung wieder auf. Adrian ist gewiß einverstanden damit, und ich auch.«

Frau Harriet war empört; auf's gröbste ließ sie ihren Grimm an der Tochter aus. Ein Mädchen von 23 Jahren, (rachsüchtig machte sie Christa um ein Jahr älter) die grundlos, aus Unvernunft und böser Laune eine Verlobung zurückgehen läßt, würde keinen Zweiten finden, der das zweifelhafte Glück, sie heimzuführen, erstreben dürfte. Und eine Verlobung mit dem Baron Lützow! die weit über die Ansprüche hinausginge, die ein Mädchen, das kaum hübsch und nicht einmal liebenswürdig wäre, zu machen berechtigt sei. Geradezu gottlos sei ein solcher Treubruch.

»Du glaubst ja garnicht an Gott,« sagte Christa mit eisiger Kälte. »Was Dir nicht paßt, hast Du abgeschafft.«

[115] »Wenigstens halte ich das vierte Gebot.«

»Und die andern Gebote?«

Zu ihrem Erstaunen sah Christa, daß die Mutter rot und blaß wurde. Sie standen sich einen Augenblick schweigend, voll inneren Zornes gegenüber. Plötzlich verstand Christa, was in der Mutter vorging. Einiges von dem Gerede gelegentlich der Verheiratung Anne Maries war zu ihren Ohren gekommen.

Wie? Die Mutter hielt es für möglich, daß sie, die Tochter, sich in so brutaler Weise als ihre Richterin aufspielen könne?

Eine dunkle Flamme rötete ihre Stirn. Gesenkten Hauptes verließ sie das Zimmer. Sie dachte nicht mehr an eine Entlobung. Nur nicht länger im Hause bleiben, nicht bei der Mutter.


Einige Tage vor der Hochzeit – Adrian war eben angekommen – reisten Sterns ab. Der Arzt hatte Theodor jede Aufregung auf's strengste untersagt. Sie wollten erst einige Wochen auf seinem Gut in Tirol zu bringen und dann nach dem Süden gehen.

Bei dem Abschied war Anne Marie ergriffen, wie Christa sie nie vorher gesehen, und zwischen Thränen und Lachen stammelte sie Drolliges und [116] Trauriges durcheinander. Und Christa mußte ihr immer wieder versichern, daß sie Adrian liebe, sehr liebe. Schließlich fand sie einen schwachen Trost darin, daß die Erde ja doch einmal in die Sonne stürze.


Christa an Anne Marie.

»Liebe, liebe Anne Marie, bitte, bitte, nicht böse sein, daß ich Dir nicht aus den Flitterwochen heraus (dummes, leichtfertiges Wort) ausführlich, wie Du mich batest, geschrieben habe. Ich wußte ja, was Du lesen wolltest: »Adrian macht mich unaussprechlich glücklich.« Gewiß, ich liebe ihn. Warum hätte ich ihn sonst geheiratet? obwohl man mitunter heiratet, weil man keinen Mut hat, nicht zu heiraten, oder weil es sich eben so macht. Und Du, hinterlistiges Schwesterchen, hast Dein Händchen ja hübsch dabei im Spiel gehabt.

Wie beschreibe ich Dir nur mein Glück? Es ist wohl unbeschreiblich, nicht weil es so groß ist, aber – es ist so vieles Komplizierte dabei. Du weißt ja, ich finde Adrian schön. Sein weiches, dunkelblondes Haar, seine zarten Mädchenlippen, seine schlanke Jünglingsgestalt. Und vor allem seine romantischen Augen, die blaublumenhaften, die wie aus der Ferne blicken.

[117] Auf der Hochzeitsreise hatte ich ein so eigentümliches Gefühl, als wäre, was ich da erlebte, nur eine erdichtete Geschichte, die mich in – ja – in großer, herzbeklemmender Spannung erhielt, und wenn ich wieder nach Hause käme, würde das eigentliche Leben seinen Fortgang nehmen, und alles würde natürlicher und gemütlicher verlaufen.

Er war während der Reise von zartester Aufmerksamkeit, vielleicht etwas zu kavaliermäßig. Er ersparte mir auch die kleinste Anstrengung. Ich hatte aber ab und zu das Bedürfnis mich anzustrengen. Verweichlichung macht nervös.

Und als ich nun wieder daheim war – so ganz daheim war ich doch nicht. Mama hatte die Einrichtung durchaus im Rulandstil besorgt, nur weniger kostspielig, keine Gobelins und Kunstwerke, aber sehr hübsch alles, persische Teppiche, Blumen, allerliebste Sächelchen. Im Ganzen eine poetisch zugestutzte, harmonische Wohlhabenheit. Der Vater hatte als spezielles Hochzeitsgeschenk ein Harmonium geliefert, um, wie er sagte, nach etwaigen Zankduetts ein purifizierendes Seelensolo anzustimmen. Ein Harmonium hatte ich mir vor Jahren einmal gewünscht, den Wunsch seitdem aber vergessen. Die Wohnung sieht sehr nach etwas aus. Ob nach mir? Am besten gefällt mir Adrians Zimmer. Er hat seine Junggesellen-Möbel behalten, altmodisch und kunstreich geschnitztes rötliches Mahagoni. Schön passen dazu ein paar feine Kupferstiche und alte Porträts mit dem Parfüm von Ahnensälen. Distinguierte Einfachheit.

[118] Denke Dir, ich kann mich immer noch nicht entschließen, meine eleganten Ausstattungskleider zu tragen. Alle meine alten Sachen habe ich mitgenommen, und die trage ich am liebsten; ich komme mir dann weniger verheiratet vor, noch nicht so für alle Zeit an einen bestimmten Ort eingepflanzt, und als könnte ich noch frei durch den Garten des Lebens streifen. Unsinn! Als ob ich bei Mama frei gewesen wäre! Und doch hat die vage Vorstellung von einer großen, neuen Freiheit zu meiner Ehebereitwilligkeit beigetragen.

So – nun hast Du wohl schon zwischen den Zeilen gelesen, daß ich mich noch ein wenig fremd mit Adrian fühle, so ein bischen wie verzaubert in eine Gegend, wo man Weg und Steg noch nicht kennt. Aber sie wird schon kommen, die Vertrautheit, die anheimelnde Herzlichkeit. Vielleicht sind es gerade die flacheren, die konventionellen Menschen, die sich leicht in eine so neue, vertrauteste Vertrautheit finden. Am Tag vor der Hochzeit noch eine große Distance zwischen uns, eine Vorsicht in Wort und Gebärde, eine Scheu vor liebkosender Berührung. Und nun plötzlich – – dieses engste Beieinandersein, Tag und Nacht. Es fehlen da Uebergänge. Zuweilen läßt mich die Vorstellung, daß er mich im Schlafe sieht, nicht einschlafen. Ich weiß nicht, wie ich im Schlaf aussehe, vielleicht unangenehm. Es ist, als gehörte mir mein Schlaf nicht mehr. Du weißt, ich schlief sonst nicht gern im Dunkeln. Jetzt muß es ganz, ganz dunkel sein.

[119] Alles, was ich da schreibe, ist geschraubt, ich weiß es. Das kommt, weil es ein Flitterwochenbrief sein soll. Wenn unsere Wahrhaftigkeit in die Tinte gerät, so kommt sie etwas verdunkelt wieder heraus. Ich suche aus der Tinte zu retten, was zu retten ist. Ja, ja, ich liebe ihn, meine Gefühle aber haben so etwas Glimmendes, Anfachungsbedürftiges. Kein Zugwind. Die Luft ist lau.

O, Anne Marie! Anne Marie! es ist oft eine so zornige Scham in mir – ich kann es nicht sagen – Du mußt es erraten. Und ich trage es ihm nach, daß ich mich schäme.

Siehst Du, meine liebe, liebe Schwester, an jenem Verlobungsabend, als der Mond so wunderbar erschien – ich stand auf der Veranda – und er mir sein schönes Gesicht zuwandte, da überkam mich ein rasendes Verlangen, mich an seine Brust zu werfen, mich ihm ganz und gar zu vermählen. Aber das zwingend Natürliche geht ja immer nicht, es geht nicht. Und er kam ja auch nicht, er kam nicht. Aber warte nur, warte, es wird alles schon werden, denn eine große und ehrliche Lust ihn zu lieben, hat

Deine Christel.«


[120] Und zwei Monate später schrieb sie:

»Anne Marie! Anne Marie! sie sind vorbei, die Flitterwochen. Gott sei Dank! schon drei Monate verheiratet! Nun brauche ich kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen, um so weniger, da Du mich doch so dringend ersuchst, aus meinem Herzen keine Mördergrube zu machen. Also heraus! all ihr antiadrianischen Gefühle. Erschrick nicht! ich liebe ihn. Ich fasse meine Klagen gegen ihn in einen Satz zusammen: Er ist zu fein für mich, zu fein. Es ist da etwas in seiner Art und Weise – ich kann es nicht genau definieren, das – ja, es schüchtert mich ein. Etwa seine angeborene Vornehmheit, der gegenüber ich mir so rasselos vorkomme? Wir können es nicht leugnen, Anne Marie, unsere Eltern sind doch eigentlich Parvenüs. Mama hat die guten, anmutigen Formen erst erlernt. Sie fühlt sie als Besitz und ist stolz darauf. Und der liebe Vater – zu einem Reserveleutnant reicht's bei ihm nicht.

Ich bleibe immer in einer gewissen Distance von Adrian, was bei manchen häuslichen Angelegenheiten unbequem ist. Zuweilen komme ich mit dem Wirtschaftsgeld nicht aus und bringe es doch nicht über die Lippen, mehr zu fordern. Und ich kann ihm doch nicht statt Seezunge oder Steinbut einen Schellfisch vorsetzen. Er würde es gleich merken und mit einer berückenden Liebenswürdigkeit sagen: »Ah – Schellfisch!«

[121] Ach Anne Marie, so lange das Geld eine so große Rolle in der Welt spielt, gerät man mit seiner Adelsmenschlichkeit in unangenehme Klemmen.

Bringt die Köchin – es geschieht selten – etwas Mißratenes auf den Tisch, so sieht er mich an, gleichgültig, vielleicht eine ganz kleine Nüance zu gleichgültig, und – ich verkrieche mich förmlich vor seinem Blick. Ich bin so leicht verzagt. Unser Epikuräer hätte gesagt: »Aber Christelchen, Christelchen, was für ein Fraß.« Und ich hätte ihm schnell einen hübschen, braunen Eierkuchen backen lassen, den er so gern mit Citronensaft ißt. Der Adrian, der ist überhaupt zu vornehm für Eierkuchen.

Neulich holte mich Maria Hill zu einer Volksversammlung ab. Als ich nach Hause kam, wußte ich gleich, was das Zittern seiner Nasenflügel bedeutete, und warum er – unmerklich zwar – von mir abrückte.

Ich komme von der Vorstellung nicht los, daß er mich mit seiner gelassenen Vornehmheit angreift, und ich müßte mich dagegen zur Wehr setzen. Und er thut doch eigentlich garnichts. Nur können seine stummen Lippen so beredt sein, wenn sie ein klein wenig zu geschlossen sind oder leise zucken. Mißbilligt er etwas, so ist es eine kaum wahrnehmbare Nüance in der Stimme, vielleicht ein zu leiser, oder ein zu nachlässiger Ton – und ich bin gekränkt.

Ich habe den Eindruck, daß er mir weit überlegen ist, und er sagt doch nichts, was meine Bescheidenheit rechtfertigt. Sein Wille beherrscht mich, ein [122] stiller, zäher, passiver Wille, der mir immer, auch wenn er kein Wort sagt, fühlbar ist, wie die Prinzessin unter 12 Unterbetten die Erbse fühlte.

Wenn er ausgeht und mit dem Cylinder in der Hand in mein Zimmer tritt, habe ich im ersten Augenblick immer den Eindruck: da kommt jemand, Dich zu besuchen. Und oft wenn ich an ihn denke, hat er in meiner Vorstellung den chapeau claque unter dem Arm.

Er ist kein Errater von Stimmungen. Wenn meine Sinne wie in Harmoniumtönen vibrieren, intoniert er ein Scherzo, das zu leicht, oder eine Bachsche Fuge, die zu schwer für mich ist. Er kommt nicht darauf, daß in mir etwas vorgehen könnte, was in mir nicht vorgehen sollte. Sage ich etwas, was er in keiner seiner Denkrubriken unterbringen kann, so lächelt er fein und schickt mich auf den Mars.

Anne Marie, wenn ich die Hand auf's Herz lege, – nein, ich bin bis jetzt »im Garten der Ehe nicht hinaufgewachsen«. Im Gegenteil, ich erwerbe sogar einige schlechte Eigenschaften, die ich früher nicht hatte. Ich werde trotzig, rachsüchtig, hinterlistig, boshaft. Ich thue aus Trotz und Bosheit manches als Reaktion gegen seine ostentative Noblesse. Und hinterher thut mir dann meine Ordinärheit so leid. So recht mit Absicht brauche ich zuweilen ein vulgäres Wort wie: Fatzke, Mumpitz, Puschel (hörst Du Vaterchen reden?). Neulich fehlte nicht viel, und ich hätte »Schweinerei« gesagt, brachte es aber dann doch nicht fertig.

[123] Der Vater hat uns ja an drastische Ausdrucksweise und Kraftworte gewöhnt. Adrians subtile Art, sich auszudrücken, gefällt mir eigentlich, aber manchmal auch nicht. Als der Vater neulich kam – der böse Epikuräer kommt so selten – da hörte ich gern, was früher meinen zarten Ohren mißfiel.

Er traf Julia bei mir, und als sie fort war, ließ er wieder seinem Haß gegen Schriftstellerinnen freien Lauf.

Er mißbilligt meine Intimität mit ihr, nur weil sie Schriftstellerin ist. (Habe ich Dir denn schon geschrieben, daß Mama sie jetzt – auf Konto ihrer möglichen späteren Berühmtheit – in ihrem Salon empfängt?) Die Schriftstellerinnen samt und sonders wären Gift und nichts anderes als Wegelagerinnen, die einem bis in die geheimsten Winkel hinein auflauern, um Honorar aus einem zu schinden. Da wären ihm die Schwiegermütter noch lieber. (Er hat gar keine.) Kein Weib, das sich mit Druckerschwärze verunreinige, könne je wieder rein werden. Ein Schriftsteller studiere gründlich, was er schreiben wolle. Zola habe sich wochenlang in Fabriken aufgehalten, ehe er über Industrielles schrieb. So arbeiteten Männer. Frauen, die schlügen im Konversationslexikon nach. Könnten sie durchaus ihren Thatendrängen nicht widerstehen, so sollten sie Stuhlbeine drechseln, Wände tünchen u.s.w. Vaterchen meint es natürlich nicht so ernst, er ist nur geistreich.

In Bezug auf Julia hat er nicht so ganz unrecht. Sie könnte recht gut die Lücken ihrer Bildung noch [124] ausfüllen. Sie mag nicht. Immer noch lernen, lernen, jetzt, da alles in ihr zur Produktion dränge. Inzwischen entschwände ihr ja das Leben.

Zuweilen stürmt sie wie ein Wirbelwind in unser lärmloses, auf leise Töne gestimmtes Haus. Adrian behandelt sie mit einer konzentrierten, ich möchte beinah sagen, giftigen Höflichkeit. Er verbeugt sich vor ihr eine kleine Linie zu tief. Die arme, sonst so redebeflissene Julia wird ganz kleinlaut und verschüchtert in seiner Gegenwart.

Maria Hill dagegen ist ihm sympathisch, hauptsächlich wohl wegen ihrer Chemie, ein Zweig der Naturwissenschaften, den er selbst gern kultiviert hätte.

Mich amüsieren Julias Tollheiten. Ich suche sie aber zu dämpfen, aus Furcht, Adrian könnte etwas davon hören. Und richtig, neulich, als sie gar zu arg tollte, schickte er den Diener: »Ob etwas geschehen sei?« Ich wurde rot vor dem Diener. Das heischte Rache. Als er wie gewöhnlich vor seinem Gang ins Ministerium in mein Zimmer trat, überraschte ich ihn durch eine Cigarette, die ich so recht in flotter Halbweltsmanier rauchte, in einen Fauteuil geflegelt, den Kopf hintenüber, die Beine übereinander geschlagen, den kokett chaussierten Fuß von mir gestreckt.

Er sah mich ironisch an und wollte das Zimmer verlassen.

»Bitte, schlage die Thür nicht hinter Dir zu,« sagte ich, obwohl ich wußte, daß er nie dergleichen [125] that. Da kam er schnell zurück, riß mir die Cigarette fort, und – ich finde kein feineres Wort – küßte mich ab, so ganz wild und toll drauflos, wie im Lied der wilde Knabe sein Mädchen küßt, und – er sagte »Mädel« zu mir, nicht einmal süßes Mädel. Ich war empört, aber nicht so sehr, wie ich hätte denken sollen.

Beim Abendessen blinzelte ich ihn von der Seite an, ob er anders sein würde als sonst, aber nein, vielleicht war er ein klein wenig liebenswürdiger, als hätte er ein Unrecht gut zu machen. Behalte mich lieb.

Christa.«


»Du, Anne Marie, ich fange jetzt an, ernsthaft zu studieren. Adrian ist nicht so geschmacklos, mir das Hören auf der Universität zu verbieten. Wenn ich aber im Fortgehen die Thür zu seinem Zimmer aufmache und ihm zunicke: »Adieu, lieber Adrian,« so ruft er mir mit übertriebenem Ernst nach: »Lerne nur brav.« Und ich ziehe mit dem Gefühl eines gescholtenen Schulmädchens ab.

Neulich hatte die Vorlesung eine halbe Stunde länger als gewöhnlich gedauert. Ich kam zum Mittagessen zu spät nach Hause. Er saß im Speisezimmer und las die Zeitung. »Gnädige Frau haben auswärts gespeist?« Er sagte es sehr freundlich. »Nein, [126] ich habe einen Wolfshunger.« »Du bist vielleicht gegen gemeinsame Mahlzeiten?« »Beinah. Wenigstens halte ich sie nicht für eine sittliche Notwendigkeit. Du schickst mich ja mit Vorliebe – wenn wir verschiedener Meinung sind – auf den Mars, als auf einen höheren Stern. Und siehst Du, auf dem Mars – es steht in dem wunderhübschen Buch »Zwischen zwei Welten« – da gilt gemeinschaftliches Essen für unanständig.«

»Ah – darum frühstückst Du seit einiger Zeit allein?« »Nicht darum. Du stehst ja viel später auf als ich. Bis vor kurzem habe ich mich 1 – 2 Stunden mit der Sehnsucht nach dem Frühstück beholfen, nun eben nicht mehr.«

»Du fürchtest, daß eine Plauderei am Morgen der Wichtigkeit Deines Tagewerks die Weihe nehmen könnte?«

Ich mochte nicht mehr essen. Kalten Spott kann ich nicht vertragen.

Seine Korrektheit macht mich zuweilen ungeduldig, und doch – sonderbar, ich habe mich an seine äußerste Soigniertheit so gewöhnt, daß die leiseste Abweichung davon mich stört. Einmal waren in seinem blonden Bart ein paar Krümchen, oder was es sonst war, hängen geblieben; garstig kam es mir vor. Es widerstrebte mir sogar, ihn darauf aufmerksam zu machen. Dem lieben Epikuräer hätte ich die Eindringlinge gleich herausgezupft.

Ich meinte, ich könnte vertrauter mit ihm werden, wenn er – wenigstens im Hause – sich etwas [127] legerer trüge. Da habe ich ihm zu Weihnachten einen Sammetrock geschenkt. Er belächelte den hübschen Braunen, zog ihn aber doch ab und zu aus Kourtoisie an. Er stand ihm nicht. Und als er ihn bald wieder bei Seite legte, war es mir recht.

Uebrigens, seit einiger Zeit leben wir ziemlich gesellig, auf Wunsch Adrians, der es seiner Stellung schuldig zu sein glaubt, und dann machte es sich auch so von selbst. Gesellschaften kosten so viel Zeit. Und mir bringen sie weder Anregung noch Amüsement, noch Heiterkeit, nicht einmal Befriedigung der Eitelkeit, denn eitel bin ich nicht und ich gefalle auch den Leuten nicht besonders, schweigsam wie ich bin. Mir fehlt das Talent zu reden, wenn ich nichts zu sagen habe. Es interessiert mich auch garnicht, wie mein Tischherr zur Rechten die Chinawirren lösen würde, und die Neugierde meines Nachbars zur Linken, wie der neue König von England sich machen wird, teile ich auch nicht.

Gewiß trifft man in den Gesellschaften auch hervorragende Menschen. Aber sie schreiben ihre Bücher und malen ihre Bilder zu Hause, und bei Gänseleberpastete und Fasanen in Schlagsahne erzählen sie Anekdoten und sagen Nichtigkeiten. Es ist immer, als sähe man in diesen Menschenansammlungen den Wald vor Bäumen nicht. (Das Bild paßt garnicht.) Der Einzelne wird von der Masse aufgesogen. Meine ungesellige Natur habe ich von Vaterchen geerbt, der sich ja selbst den Beinamen »Meidegast« zugelegt hat.

Alle Welt raisonniert auf unsere Art der Geselligkeit [128] mit ihrem umständlichen Apparat, und alle Welt hört nicht auf, Gesellschaften zu geben und zu besuchen, zu welcher »Allewelt« ich auch gehöre.

Freilich, das Bild, das solche Gesellschaften bieten mit ihrer Lichtfülle, mit seltenen und schönen Blumen, den funkelnden Krystallen und Silbergeräten, ist reizvoll. Die wunderschönen modernen Damentoiletten tragen dazu bei, diese flittrigen, schillernden, schlangenhäutigen, glitzernden, duftigen, phantastisch zerfahrenen Gewänder, leuchtend wie Sonne, Mond und Sterne. Sphinxhaft, als wollte das Weib noch zu guterletzt, ehe die realisierte Emanzipation sie als Vollmenschen in das große Arbeitsfeld der Menschheit eingliedert, sich auf ihr intimes Nurweibtum konzentrieren.

Viele dieser schlanken Gestalten – Unterkleider sind ja ziemlich abgeschafft – sehen wie Blumen aus, die aus schlanken Stengeln emporgewachsen sind, und man hat die Wahl zwischen weißen Lilien, roten Mohnblumen, seltsam verschnörkelten Orchideen oder wild tollen Chrysanthemen. Ich hatte mich auch einmal entzückend phantastisch blumenhaft angethan. Als aber Adrian fragte, ob ich mich für einen wohlthätigen Zweck verkleidet hätte, rüstete ich wieder ab.

Mama hält mich natürlich für namenlos glücklich im Besitz des Barons von Lützow, um so mehr, da er Aussicht hat, nächstens Legationsrat zu werden. Der Vater aber, der schlaue Seelenspäher, der feine, feine Gedankenleser, der findet, daß ich mehr melancholisch als glücklich aussehe, was wahrscheinlich daher[129] käme, daß ich noch immer auf Madamchen Abseits posiere, anstatt mich einzureihen. Er gebrauchte ein Bild: Da ist irgend ein Fest. Lange Wagenreihen nähern sich dem Festhaus. Einige ungeduldige Rosselenker fahren aus der Reihe heraus, in der Meinung, daß sie dann schneller ans Ziel gelangen. Aber das Auge des Polizisten wacht. Die Vorwitzigen müssen bis zuletzt warten.

So ein Lämmchen, (was ich sein soll), das Löwengedanken haben möchte und nur »Bäh« machen könne! Die Löwengedanken wären dem Wolf ganz egal; so lange das Lamm nicht brüllen lerne und nur bäh mache, fräße er es doch.

Adrian ist ja nun zwar kein Wolf, aber er frißt mich doch – nicht ganz.

Neulich im Theater sahen wir das erschütternde Drama eines Norwegers. Nach jedem Aktschluß frenetisches Händeklatschen, und als die Begeisterung ihren Höhepunkt erreicht hatte: Getrampel. Ich zuckte unter dem Lärm zusammen.

»Was ist Dir?« fragte Adrian.

Hast Du nicht, Anne Marie, bei tiefer Ergriffenheit im Theater ein Gefühl, als müßtest Du Dich von Deinem Sitz erheben, schweigend, als ginge eine Majestät vorüber, oder wie bei einer kirchlichen Handlung? Das sagte ich ihm ungefähr. Und seine Antwort:

»Wie nannte Dich doch Dein Vater?«

Ach unser lieber Epikuräer! Er nennt mich wohl Madame Abseits, aber er versteht mein Abseitiges [130] so gut. Adrian versteht überhaupt nichts Abseitiges. Der wertet nie etwas um. Für ihn hat Nietzsche vergebens gelebt und geschrieben.

So, nun habe ich mich ausgeklagt – vorläufig – bis er wieder etwas ausfrißt – ja – ich sage absichtlich ausfrißt. Zu meiner Erholung sage ich's, nun gerade. Sei nicht böse.

Dein Christelchen.«


»Liebe Anne Marie, eigentlich – ich knüpfe an die letzten Worte meines vorigen Briefes an – frißt er alle Tage etwas aus. Er zehrt an mir, damit, daß er mich im großen und ganzen verneint. Ich habe nicht zu sein, wie ich bin – nein – ganz anders, nicht die alleinige, nur einmal in der Welt daseiende Christa, sondern die Frau Baronin Adrian von Lützow – eine Begleiterscheinung des Herrn Barons. Und trotzdem – trotzdem, ich liebe ihn, und ich finde sein Herz nicht! Weil es auch immer in Toilette ist, wie er selbst? Es giebt Menschen, die kann man sich so gut in all ihrer Schönheit nackt vorstellen, andere dagegen nur wohlgekleidet, ihre Nacktheit käme einem unanständig vor. Zu den letzteren gehört Adrian, der immer aus-und inwendig Wohlgekleidete, der glatte Assessor im Auswärtigen Amt. Ich gleite förmlich an seiner Glätte ab.

[131] Wie der Vater, so hält er auch alle, die anders denken wie er, für Kranke, mindestens für Sonderlinge. Der Vater freilich dachte oft garnicht, wie er zu den ken glaubte. Adrian aber, der denkt allemal mit unbeirrbarer unerschütterlicher Sicherheit das, was er denkt; seine Ahnen helfen ihm dabei.

Apropos Ahnen: Eine Großtante von ihm, die Gräfin Oertzen, hält sich für einige Monate in Berlin auf, sie ist in Ostpreußen begütert. Eine kokette Urahne: silberweißes, zierliches Gelock, Hörrohr unter rosenrotem Federfächer, schleppende Sammet- oder Atlasgewänder. Ganz Anmut und Lächeln. Liebliche Worte auf der Zunge. Eine liebreizende Greisin. Ihr Kammerdiener hat eine Art Tonsur, sieht wie ein Abbé aus und trägt ein Sammetkäppchen. Die Kammerjungfer spricht nur französisch.

Sie schüchtert mich ein, die liebreizende Greisin. Sie ist hauptsächlich ihrer Nichte wegen nach Berlin gekommen, der Geheimen Legationsrätin von Bracht, die nach dem Tode ihres Mannes – er starb vor einigen Monaten – hierher gezogen ist.

Sehr fromm ist Justine von Bracht. Sie hält alle für böswillig, die keinen Glauben haben. Sie wollen nicht glauben, die Schufte! Sie lechzt nach einem himmlischen Jerusalem und liebt englisch gebratenes, blutiges Beefsteak mit englischem Senf, und starke Weine liebt sie auch, besonders Yquem und Burgunder. Und boshaft ist sie auch, hat aber nicht den Mut ihrer Bosheit. Nur was dieser oder jener über diese oder jene gesagt hat, [132] bringt sie zur Kenntnis des Nebenmenschen, teils um die Schlechtigkeit der Gesellschaft damit zu illustrieren, teils um ihre sittliche Entrüstung daran auszulassen. Und dabei kann sie ihre schmunzelnde Lust an den Geschichten – besonders an den erotischen – nicht verbergen. Und gewöhnlich schließt sie ihre lüsternen Geschichten, indem sie die Hände faltet und ausruft: »Gott, Gott! was für Zustände!«

Ich amüsiere mich über sie. Sie hat Geist. Von einer etwas frech dekolletierten Dame sagte sie: »Sie hat Blößenwahn.« Neulich, in einer Gesellschaft, sei dieser Dame eine Ohnmachtsanwandlung zugestoßen. Glücklicherweise war ein Arzt in der Gesellschaft. Er riet der Gnädigen, schnell nach Hause zu fahren, sich anzuziehen und zu Bett zu gehen.

Man spricht von der Dame A. Frau von Bracht weiß aus authentischer Quelle: B., der angetraute Gatte von A., findet seine Gattin mit C. in einer Situation, in der er sie nie hätte finden sollen. (Frommer Augenaufschlag der Berichterstatterin.) B. ersucht C., das Lokal zu verlassen, und als er fort ist, sagt er zu A.: »Und Dir sage ich, C. wird nie mehr zu kleinen Diners eingeladen, nur zu den großen Abfütterungen.« »Gott! Gott! was für Zustände!«

Dieses Haus würde sie natürlich nie mehr betreten, um so weniger, da die Menüs dort nicht auf der Höhe ihrer Ansprüche ständen: Hecht, Kalbsbraten, Plinsen. Einmal wäre sogar Mayonnaise von Büchsen-Hummer vorgekommen.

[133] Von den Diners pflegt sie kleine Blumensträußchen mit nach Hause zu nehmen, für ihre leeren Vasen; sie sagt aber, weil sie weißen Flieder und gelbe Tulpen so sehr liebe. Sie liebt aber auch goldbraune Chrysanthemen und rosenrote Anemonen.

Auch nachmittags, zu meiner Theestunde, komme ich mit den zufälligen Gästen auf keinen grünen Zweig. Man ist dabei so durchaus in Gottes Hand, daß man nie weiß, wen einem die Theestunde bescheren wird. Man fährt zusammen, wenn es klingelt. Gestern z.B. ließ ich mich in einer Anwandlung von Menschenhaß und in Erwartung einiger Lästigen verleugnen. Die Reue folgte dem Menschenhaß auf dem Fuße, denn nun kamen gerade sehr nette Leute.

Wie soll man es einrichten? Dem Geschmack des Dieners kann ich es doch nicht anheim geben, wen ich empfangen soll, da bleibt nur – entweder – oder, in welchem Fall ich mich immer lieber für das »oder« entscheide.

Unter den netten Leuten, um die ich neulich kam, war Jutta Engelhart. Erinnerst Du Dich ihrer? In der Schule waren wir befreundet, später kam sie mir aus dem Gesicht, ich hörte nur, sie sei ein arges Weltkind geworden. Nun habe ich sie einige Male in Gesellschaft getroffen, und wir haben uns wieder angefreundet. Den alten Adam aber – die Mondaine – hat sie gänzlich ausgezogen und ist in eine neue Haut geschlüpft, eine der [134] alten diametral entgegengesetzte. Sie scheint sich immer nach einer Säule umzusehen, an die sie sich lehnen, nach einem Grabmal, auf das sie sich setzen kann. Sie sucht nach einer Erlöseridee, aber einer ganz neuen. Da sie bis jetzt keine gefunden, hält sie Umschau nach einem Meister, dem sie Jünger sein kann. Ob es Nietzsche oder Buddha sein wird – sie ist noch unschlüssig. Einen Sataniker à la Huysmans zöge sie vielleicht vor, die aber gedeihen auf deutschem Boden noch nicht. Anselmas Sataniker, der einzige, den ich kenne, ist auch kein gelernter, nur ein improvisierter. Und so in Zweifel versunken, hat sie sich vorläufig zu Stephan George entschlossen und ist Ephebin geworden. Du bist ungebildet genug, um nicht zu wissen, was das ist. Siehst Du, Anne Marie, alle feineren und freieren Geister haben heutzutage ein fieberhaftes Verlangen, sich aus der Menge herauszuheben, aus den Thälern des Schattens hinauf zu den sonnenbeglänzten (lieber noch mondscheinverklärten) Gipfeln. Und da sie als einzelne meist zu schwach für ein solches Unternehmen sind, so schließen sie sich in Gruppen oder Gemeinschaften zusammen, eine Art Stangenscher Expeditionen, ins Geistige übertragen.

Die Epheben nun, die stehen im Zeichen der Seele, exclusive aller gröberen, materiellen Momente. Das heißt, Seele ist noch ein zu bestimmt umrissener Begriff, ihre Seelen lösen in Farbe, Duft und Ton sich auf wie eine Perle – aber eine echte – in Wein – aber feinste Marke. Stimmung ist Seele, Seele [135] ist Stimmung. Sie dressieren sich auf Körperlosigkeit, um ihrem Astralleib näher zu kommen.

Ich habe Landschaften von Jutta gesehen – sie ist nämlich Malerin. Ihre Bäume, Berge, Wasser, Wolkenmassen, nichts als in süßen Farbenharmonieen zerfließender Aether. Auf der Astralebene denke ich mir die Gegenstände so. Die Farben gleichen Tönen, goldgedämpfte Lichter spielen hinein, nichts ist fest, greifbar, mit einem Wort: furchtbar apart.

Jutta ist so stolz darauf, daß sie Nachts nicht schlafen kann, weil die Gestalten ihrer schöpferischen Einbildungskraft in wildem Reigen nächtlings ihr Lager umkreisen, bald Dämonen, bald Seraphisches.

Ihre Erscheinung deckt sich ungefähr mit ihrer Wesensart. Das kleine Gesichtchen, nett aber unbeträchtlich – Nebensache. Aber der Rahmen! eine aschblonde Mähne von phänomenaler Fülle. Hals, Arme, Hände lilienweiß, die Haut so dünn, man sieht das Blut hindurchrinnen. Und schlank, schlank ist sie, und knochenlos auch. Das ist eigentlich selbstverständlich bei den Epheben. Nahrhaft dürfen sie nicht leben. Noblesse oblige.

Vor bestimmten Bildern, bestimmten Dichtungen halten sie Andachten ab. Ueber alle andersgearteten Kunstleistungen lächeln sie hinweg.

Neulich, als Jutta nicht wußte, was sie lesen sollte, wollte ich ihr mit Bismarcks Memoiren aushelfen. Nein – nicht diese Memoiren, die läse ja jetzt alle Welt, Epheben lesen nur, was nicht alle Welt liest.

[136] Man erzählt, wenn sie sich irgendwo im Namen ihres Meisters versammeln, so stände vor jedem Platz in einem Kelchglas – einem Lechterschen natürlich – eine weiße Lilie, aber einen langen Stengel muß sie haben. Einmal fand eine solche Versammlung bei Jutta statt. Stephan George selbst oder einer seiner Jünger las in tiefem Kirchenglockenton seine Verse.

Als sich aber herausstellte, daß Juttas bläuliches Kleid um einen Soupçon zu blau war, wurde die Vorlesung unterbrochen und erst wieder aufgenommen, nachdem sie durch einen Kleiderwechsel sich der Umgebung angestimmt hatte.

Ein andermal waren in diesen Kreis profane Elemente geraten, die die Stimmung verdarben. Nach ihrer Entfernung versuchte man durch eine poetische Vermummung die verlorene Stimmung wieder einzufangen. Requisiten: Ausgedrehtes elektrisches Licht, schwarze Schleier, mit Kerzen – von Wachs – in den Händen, vom bleichen Mondlicht umflossen, ein Umzug durch die Gemächer. Epheben haben nur Gemächer, keine Zimmer, wie sie auch nur Gewänder, aber keine Kleider tragen.

Uebrigens fehlt es dieser Gruppe nicht an Genie und Tiefe, nur etwas Pose und viel Bewußtheit ist dabei. Sie hat Geist, aber eigentlich mehr Geister, oder eigentlich nur die Schatten von Geistern. In ihren Farben ist Glut und Zartheit, die Glut aber wie durch Milchglas schimmernd, die Zartheit florschleierhaft. Ihre Musik: Aeolsharfen, womöglich in alten [137] Burgen über Ruinen gespannt, oder Glockenläuten, aber wie aus weiten Fernen, oder von versunkenen Glocken, oder Orgelklänge von geweihter Jenseitigkeit. Daß Bälge dabei getreten werden, ist nicht angenehm. Sie kleiden sich entzückend. Auch eine Reform der männlichen Trachten streben sie an.

Du müßtest den Vater über diese Richtung toben hören. Was? mit der Klangfarbe der Worte wolle man Stimmung, wolle man Hohes, Tiefes, Unermeßliches ausdrücken? Wäre ja Rückkehr zum Urstand, zur Tierheit, wo der Löwe durch Brüllen schreckt, die Grille Sehnsucht zirpt, u.s.w. Er wundere sich nur, daß diese Leute im gemeinen Sonnenlicht spazieren gehen anstatt Mitternachtssonnen abzuwarten.

Alle Extreme würden von Poseurs oder Einfältigen vertreten. Wenn ihm z.B. jemand sagte, er dürfe keinen Tropfen Alkohol mehr trinken, der flöge zur Thür hinaus. Dietrichs Augen – er war bei Vaters Philippika zugegen – glänzten vor Entzücken und er schenkte sich das dritte Glas schweren Rotweins ein.

Nachdem Epikuräerchen sich aber weidlich ausgetobt, ließ er sich aus der Buchhandlung Stephan Georges Gedichte holen. Und fürder habe ich ihn nie mehr schimpfen hören. Ich habe den Lieben im Verdacht, daß ihm die Gedichte ausnehmend gut gefallen haben. Ich weiß es ja, er hat das feinste Verständnis für seelische Subtilitäten, er will es nur nicht Wort haben, der Trotzkopf. Adrian ist auch dieser Poesierichtung [138] abgeneigt, er läßt sich aber Georges Gedichte nicht aus der Buchhandlung holen.

Wie ich dazu stehe? Mir sind die Epheben sympathisch, sehr sogar. Sie ziehen mich unwiderstehlich an mit ihrer konzentrierten Psychenhaftigkeit. Ich möchte aus Herzensgrunde gern Ephebin sein. Aber – ich kann nicht. Mir fehlt wieder einmal der Glaube. Es ist so reiner, gedämpfter Glanz bei ihnen, so holde Dämmerung, so feierliche Stille; in die Niederungen vulgären Gesellschaftstreibens steigen sie niemals hinab, und niemals fahren sie zweiter Klasse mit der Eisenbahn, immer nur erster, auch wenn sie gar kein Geld haben. Aber auch in dieser Gemeinschaft wird man auf bestimmte Ideen und Anschauungen eingeschworen. Immer Massenpsyche, wenn die Masse auch nur aus hundert Menschen besteht. Und ich bin für absolute Freiheit.

Ach Adrian und Freiheit! Dabei fällt mir Julia ein. Ich kriege immer einen Schreck, wenn die liebreizende Ahne bei mir ist und Julia in meinen Salon platzt, denn platzen, prasseln, zischen oder rauschen, anders thut es dieser Feuerbrand nicht.

Die Gräfin, die gehört hat, daß sie Schriftstellerin ist, fragt natürlich, was sie augenblicklich dichte? »Mich selbst,« antwortet sie; Sie müsse sich wenigstens ausschreiben, da das Ausleben, – was der Schriftsteller doch eigentlich wie das liebe Brot brauche – leider immer noch auf Schwierigkeiten stoße. Bei der unbeträchtlichsten Flottigkeit hieße es gleich: unmoralisch, womöglich lüderlich. »Das heißt, [139] wenn wir uns im lebendigen Zustand ausleben wollen. Thun wir es als Romanheldinnen – ja Bauer, das ist ganz was Anderes. Da rast das Lesepublikum vor Entzücken über die Auslebedamen. Es geht ihm garnicht toll genug zu, und der Autor sackt Geld und Ruhm ein. War nicht in diesem Winter der Roman: »Renate Fuchs« das Ereignis der Saison? und dieses in der Erotik so flinke, flinke Mädchen, die Renate, wurde von den vornehmsten Kritikern als ein Ausbund schönster, ursprünglichster Weiblichkeit gepriesen; träfen die Herren aber im Leben mit diesem Ausbund zusammen, sie würden ihren Frauen und Töchtern verbieten, ihr auf zehn Schritte nahe zu kommen.«

Ich machte Julia ein warnendes Zeichen und bemerkte, daß durchaus nicht jedermann von dem Roman entzückt wäre. Ich dachte dabei an den Vater, der von dem Buch sagte: »es wäre das talentvollste Blech, das er je gelesen.«

Die Gräfin hatte verwundert und verständnislos zugehört, unwillkürlich aber rückte sie weiter von Julia fort. Die bemerkte es: »Warum rücken Sie denn von mir fort? die Distance zwischen uns ist schon groß genug. Sie denken, wie man vor 150 Jahren dachte; ich denke, wie man in 50 Jahren denken wird.«

Die liebreizende Ahne fragte trotz des angelegten Hörrohrs: »Was sagten Sie?«

»Nichts, was Sie verstehen könnten,« antwortete Julia unartig.

[140] Die Vorwürfe, die ich ihr später über ihre Rücksichtslosigkeit der alten Dame gegenüber machte, wehrte sie mit ihrem unentwegten Radikalismus ab: Ach was – alt! ob alt oder jung, das wäre ihr ganz egal. »Ehrfurcht vor dem Alter! Unsinn! sie haben doch kein Verdienst, daß sie alt geworden sind. Und daß ihre etwaigen liebenswerten Gaben dabei flöten gegangen sind, giebt ihnen doch auch keinen Anspruch auf Ehrebietung. Mitleid, na ja, weil sie ja doch bald im Grabe ruhen! Hu!«

Julia schüttelte sich. Sie hat eine nervöse Angst vor dem Tode.

Julia interessiert Dich nicht besonders, aber Adrian! Du! Du! (Neckton.) Du willst immer von ihm hören – Gutes: Warte nur, im nächsten Brief. Addio.

Christelchen.«


»Dieser Brief, Anne Marie, soll wirklich mit Adrian anfangen, aber – na lies nur.

Es sind fortwährend kleine Reizungen und Reibungen, die mich nervös machen, und da thue und sage ich oft aus Trotz und übler Laune Manieriertes, Exzentrisches, über das mein besseres Ich sich nachträglich ärgert, obwohl bessere Ichs sich nicht ärgern sollten. Er mag mich nun gewiß erst recht nicht. [141] Wenn er will, ich soll anders sein als ich bin, so kann er ja auch anders sein, als er ist.

Du fragst so bänglich, ob ich etwa unglücklich bin? Aber nein.

Du, Anne Marie, ich kriege jetzt einen Ehrgeiz, der sich gewaschen hat. Ich will auch schöner werden, so schön, daß Adrian überrascht sein soll, so schön, wie Du es bist, Du Prinzessin Immerschön. Ich habe nur so eine Sonntagshübschheit. Welke, kranke Frauen, die ich kenne, wenden Gesichtsmassage an, um blühender, frischer auszusehen. Ich bin klüger, ich weiß, die Schönheit muß von innen kommen, jeder Tropfen Blut hat Teil daran. Darum viele, viele rote Blutkörperchen, darum Gesundheit – erste Bedingung, Gesichtsmassage kann nebenher laufen. Statt Nerven – Nerv. Mein schwaches Herz soll stark werden, mein Blut soll lernen zu strömen wie ein Fluß, den der Wind peitscht, es soll tanzen wie ein Waldbach.

Ich unternehme weite Radfahrten, meist mit Maria Hill, seltener mit Julia, nie mit Anna Rötter – von wegen der Pumphosen.

Ist das Wetter zu schlecht um auszuradeln, so laufe ich bei offenen Fenstern im Sturmschritt durch die – sagen wir Gemächer und mache Lungenübungen dabei, u.s.w. u.s.w.

O, ich bin klug und weise, oder – solltest Du die Weise sein und recht haben, wenn Du sagst, ich lebte wie in einer Hängematte, immer in Bewegung, hin und her, und käme dabei doch nicht vom Fleck?

[142] Gott sei Dank, die Stricke einer Hängematte zerschneidet eine gewöhnliche Schere, die Parzen brauche ich darum nicht zu bemühen, und ich laufe vorwärts – wohin? Nietzsche sagt (der muß schon heiser vom vielen Zitiertwerden sein), »am besten läuft man, wenn man nicht weiß wohin.«

Es ist nicht leicht, zu wissen, wohin man laufen möchte. Nietzsche sagt: (ich sage ja, er sagt immer) »Wenn es einen Gott gäbe, wie könnte ich es aushalten, kein Gott zu sein.« Ich sage: wie halte ich es aus, immer dieselbe zu sein, wenn es so viele herrliche Seelengegenden giebt, und man möchte sich doch um keine bringen. »Zwei Seelen wohnen ach in neiner Brust.« (Diesmal sagt Goethe anstatt Nietzsche, ich glaube, es giebt überhaupt außer Goethe und Nietzsche niemand.)

Zwei Seelen? nein, in meiner Brust wohnen mindestens ein Dutzend, eine ganze Kollektion von Seelen. Die Männer, die haben höchstens zwei, manchmal nur eine; das liegt daran, daß sie von jeher nur auf ein bestimmtes Fach geaicht worden sind. Entweder sie hobeln immer, oder sie machen immer Musik, treiben immer Mathematik oder gucken immer durch Fernröhre in die Sterne. Die Einseitigkeit ist ihnen zur zweiten Natur geworden, ihre erste ist gewiß auch ganz anders. Meine zwölf Seelen aber – siehst Du, die eine will ins Metaphysisch-Transcendental-Mystische sich versteigen. Eine andere möchte renaissancefürstinnenhaft in Brokatgewändern durch Paläste rauschen. Eine dritte schlüpfte gerne wohl[143] – ab und zu – in ein goldsträhniges, lilientragendes Engelsbild. Ach ja, ich möchte rein sein, rein wie frischgefallener Schnee, und dann möchte ich wieder garnicht so übermäßig rein sein, weil Schnee mir so leblos, so tot vorkommt. Und Momente habe ich – freilich nur wenn kalter kalter Nord (siehe Adrian) mich anweht und ich friere – wo ich selbst vor einer Bajadere nicht zurückschrecke, die ein Gott mit in seinen Himmel reißt. (Gott! wenn Adrians Großtante oder seine Kousine diesen Brief läsen!) In selbstkenntnisreichen Stunden finde ich in mir etwas von Anselma, von Julia, von Maria Hill, auch von Klarissa. Diese Klarissa mit ihren Nervenzuständen interessiert mich ausnehmend. Wie ich gern – wenigstens zeitweise – eine Ephebin gewesen wäre, so möchte ich auch eine Sensitive sein, obwohl das eigentlich mehr Qual als Plaisir zu machen scheint. Es ist auch wohl nur, weil ich, wie Vaterchen sagt, immer für das Abseitige bin.

Klarissa ist melancholisch, träumerisch, oft traurig; traurig auch über ihre Gemütlosigkeit. Ihrer Familie steht sie kühl gegenüber, durch ihr seltsames Wesen ihr ganz entfremdet.

Sie hat Maria, der sie sich innig anschließt, mitgeteilt, sie müsse sich oft besinnen, wie ihre Mutter, ihre Geschwister aussähen, als wären es Menschen, die sie einmal gekannt und dann vergessen habe, ein Gefühl, das sie zuweilen auch in betreff ihrer eigenen Person habe. Als Kind kam sie sich mitunter alt, ganz alt vor. Fragte man sie, wie alt sie sei, so wußte [144] sie nicht, war sie hundert oder zehn Jahr alt? Vage und unbestimmt schwebte ihr vor, als hätte sie schon Unendliches erlebt, könne sich nur nicht darauf besinnen.

Zuweilen, wenn sie gut und traumlos geschlafen, erwacht sie heiteren Sinnes, wachen Geistes. Frisch und froh geht sie im Morgenglanz durch die betauten Alleen des Gartens hinaus auf die Dorfstraße, Luft und Sonnenschein trinkt sie in vollen Zügen. Am Ende der Dorfstraße steht ein starker Eichbaum. Ein Specht hackt in den Stamm sein eintöniges: tap, tap! Und plötzlich ist ihr, als höre sie Nägel in einen Sarg schlagen, die in die Höhe gereckten Zweige der Eiche scheinen ihr die ausgestreckten Arme eines Verzweifelnden. Die Tautropfen Thränen, die von den Zweigen rieseln. Alles umflort. Ihr Frohsinn erloschen.

So jähem Wechsel ist sie beständig unterworfen.

»Mir ist,« sagte sie einmal, »als wäre ich auf einer Reise eingeschlafen, und wo ich hatte aussteigen wollen, bin ich vorbei gefahren. Und als ich endlich erwachte, war ich in einem fremden Lande – und nun weiß ich den Weg zurück nicht.«

Sie lernt und arbeitet in der Akademie ganz fleißig. Es interessiert sie aber nicht. Lieber sitzt sie stundenlang auf einem Platz, ohne etwas zu thun. Sie macht sich Gedankenspiele, wie ich in meiner Kindheit. Es sind aber eigentlich nur Schattenspiele, [145] Schatten, hinter denen das eigentliche Leben sich verbirgt. Zuweilen sieht sie die Schatten leuchtend.

Sie begreift nicht, was die Menschen an dem Leben so interessant finden. Wenn es nichts Höheres, nichts Besseres giebt, was soll denn das ganze Leben?

Ihre Nerven sind von einer ganz unwahrscheinlichen Feinheit und Reizbarkeit. Sie reagieren auf Dinge, die andere nicht wahrnehmen. Sie fühlt unter anderem heraus, wenn Julia von ihrem Geliebten kommt. Sie rückt dann so weit als möglich von ihr fort. Immer aber schmiegt sie sich Maria an. Eines Tages aber hielt sie sich auch von ihr fern. Ob sie ihr etwas übel genommen habe, fragte die Chemikerin. »Nein.« Aber sie bat Maria, nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu legen, sie wäre ja krank.

Maria protestierte lachend. Sie fühle sich kerngesund.

Am nächsten Tage erkrankte sie an Influenza.

Julia behauptet, Klarissa hätte einen chronischen Seelenschwips. Seelenschwipse mag ich. Du auch?

Christel.«


[146] »Ich schrieb Dir, Anne Marie, daß ich Gesellschaften nicht mag, aber große, prunkvolle Feste, die mag ich, ab und zu wenigstens; Feste, wo – um mich banal auszudrücken – die Schönheit auf dem Thron sitzt, wo ein ganzes Orchester von Tönen der Freude hohe Säle durchbraust.

So ein Fest gab unser Krösus, der Industriekönig Hammerfeld. Seine geistreiche Frau, die die Griechin – nein, die Helenin posiert, mit einem Stich ins Decadence-Römerhafte, eignete sich für dieses Karnevalsfest, das im Zeichen des Dionysos stehen sollte.

Ich hatte mir etwas ganz der Gelegenheit Entsprechendes ausgedacht. Als rote, aber feuerrote Bacchantin setzte ich die Menschheit, die mich von der Seite nicht kannte, in Erstaunen. An den epheuumwundenen Spazierstock Adrians hatte ich meine langstielige Lorgnette befestigt. Im Haar, um die Schultern Weinlaub.

Die Frauen fast alle waren schön. Jutta, Julia, Maria Hill. Anselma prächtig – eine Messalina, gebändigt durch den Malberuf.

Und schön war das Fest, übermütig, förmlich orgiastisch. Bunte Guirlanden elektrischen Lichts zogen sich vom Kronenleuchter durch den ganzen prachtvollen Saal. Schlangen, Confetti, rote Nelken schwirrten durch die Luft. Grazien, Musen, Faune durchschwirrten einen Lorbeerhain.

[147] Der Geist des Kostüms kam über mich. Ich denke mir, Du müßtest so gewesen sein, wie ich an diesem Abend war.

Auf einer zauberhaft geschmückten kleinen Bühne wurde ein kurzes Festspiel aufgeführt: Gesang, wie Walkürenrufe, aber aus dem Venusberge herausgeschmetterte, entzückende Reigen halbnackter Ballettänzerinnen, Bocksprünge der Faune.

Wahrhaft dithyrambisch der Moment, als Dionysos selbst, auf goldstrahlendem Wagen sitzend, erschien, von jauchzenden Evoe-Rufen empfangen.

Alle erhoben sich von den Sitzen, Blumen und Lorbeerzweige regneten auf den Zug nieder, und ein Hauch antiker Lebensfreude bemächtigte sich der Menschheit. Dafür, daß die Bande frommer Scheu sich einigermaßen lösten, sorgten Faune, Silenen, Bacchanten. Ein berauschendes Ganze.

Ich stand einen Augenblick dicht an dem Triumphwagen und da – mänadenhaft, das Abenteuer, das ich hatte. War es Zufall oder beabsichtigte Schelmerei – der Thyrsusstab eines der Bacchanten auf dem Triumphwagen verwickelte sich in meiner gelösten Mähne. Trotz der schmerzlich kläglichen Evoes, die ich ausstieß, zog und zog mich der freche Bacchant an den Haaren zu sich heran, schlang den Arm um mich und – da saß ich auf dem goldenen Gefährt neben ihm. Er war sonderbar kostümiert: Roter Frack, weiße Weste, Puffärmel, Weinlaub um Haar und Schulter. Rosig geschminkt. Ein Jüngling schien er mir, ähnlich dem Faun des Praxiteles. [148] Dunkles Gelock, das ihm in die weiße Stirn fiel. Tiefe kleine schwarzblaue Augen, die ab und zu auffunkelten. Und bartlos war er. Oder glich er mehr einem Tannhäuser? Ein Zug leidvoller Leidenschaft war in seinem Gesicht.

Er heftete sich für den ganzen Abend an meine Sandalen, mit niemand mehr sprach er, auch mit mir wenig, nur ab und zu ein paar Worte, glühlichtähnliche, lustfunkelnde, und doch von einem tragischen Hauch gestreifte, welcher Hauch ja auch bei den echten antiken Dionysosfesten mitvibrierte.

Wir amüsierten uns aber ausgezeichnet in diesem Gewoge von Lust und Pracht, in dem vollen Verstehen dieses Dionysischen Außersichgeratens.

Ob er sich in mich verliebt hat? Ich hoffte es.

Zwei Tage nach dem Fest besuchte er mich, obwohl ich ihn garnicht dazu aufgefordert hatte. Er sagte kein Wort der Erklärung oder Entschuldigung. Er kam, als wäre das selbstverständlich.

Wir waren wohl Beide gleichermaßen erstaunt, als wir uns wiedersahen. Der Sprung aus dem antiken Lorbeerhain in den modernen Salon, wo eine hübsche Frau eine Tasse Thee servierte, war zu weit, obwohl ich ein reizvolles Empirekleid anhatte. Und er? dem Faun des Praxiteles sah er kaum noch ähnlich, war zu alt dazu. Furchen in der Stirn. Bittere Falten um den Mund. Der Anzug etwas nachlässig, aber den Augen angenehm. Kein funkelnder Bacchantenblick mehr. Kalte, scharfe, zuweilen [149] eisspitzenscharfe Augen. Und verliebt schien er auch nicht mehr – der Treulose.

Er heißt Frank Richter, ist Schriftsteller, – ach Gott – Journalist sogar! Hauptsächlich Kritiker.

Er verhielt sich bei diesem ersten Besuch schweigsam. Wir waren auch kaum zehn Minuten allein. Jutta Engelhart kam.

Auch bei den nächsten Besuchen, die er in kurzen Zwischenräumen abstattete, blieb er wortkarg. Ich hatte aber den Eindruck, daß er beobachtete, das Terrain rekognoszierte.

Als er allmählich mitteilsamer wurde, bestätigte er ausdrücklich meinen Eindruck. Hätte ich nicht gehalten, was ich auf dem Fest versprochen, er wäre einfach fortgeblieben. Es habe sich nun aber herausgestellt, daß ich wie geschaffen für ihn sei.

»Wozu?« fragte ich neugierig.

Erstens als Schülerin zur Verwertung seines pädagogischen Talents, das eminent sei. Zweitens als Busenfreundin. Eine klaffende Gemütslücke bei ihm lechze nach Ausfüllung. Als Aequivalent wolle er mir gern Schutzgeist oder Seelenschutzmann sein, indem ich dessen sehr benötigt sei, denn ich gehöre zu den thörichten Jungfrauen, die ihr Oel verbrennen, ehe der Bräutigam kommt. Auch zeigte ich eine fatale Neigung, die längst abgethane und begrabene femme incomprise wieder aufleben zu lassen. Er wäre auch gespannt, zu sehen, wie weit ich die Wahrheit vertrüge. ...

[150] »Also ein Probekaninchen für Ihre Menschenkenntnis?«

»Ja.«

Wunderst Du Dich über die schnelle Intimität mit diesem Mann? Mit Frank Richter muß man entweder ganz intim werden oder ihn völlig ablehnen. Er sagt Dinge – wenn Adrian sie sagte, würden sie mich tief verletzen. Bei Frank Richter finde ich sie natürlich. Beide sind ganze Persönlichkeiten. Schlüge der eine oder der andere Töne an, die außerhalb seiner Persönlichkeit lägen, so wäre es, als ob ein Fremder sich bei mir eindrängen wollte.

Wie Adrian zu meinem Journalisten steht? Er kann ihn decidiert nicht leiden. Er nennt ihn den »Proleten.« Ich weiß nicht warum, wahrscheinlich weil er regelmäßig vergißt, den Fisch mit dem Fischbesteck zu essen, oder weil er nie einen Cylinder trägt, auch bei Begräbnissen nicht.

Und der liebe Vater erst, Du weißt ja, wie er den Journalismus haßt. Um so recht seine Geringschätzung auszudrücken, sagt er neuerdings immer »Schournalismus«, das »Sch« zornig betonend. Warum das »Sch« so verächtlich ist, weiß ich nicht.

Ja, ich wollte Dir doch von Adrian schreiben. Kommt im nächsten Brief. Heute Schluß.

Deine Christel.«


[151] »Liebste Anne Marie, Du willst mehr von meinem Busenfreund wissen? kenne ich ihn denn schon au fond?

Das nur weiß ich: er gehört zu den Unzufriedenen, die ein Hühnchen mit dem lieben Gott pflücken, daß er sie gerade so geschaffen, wie sie sind. Sie wollten doch ganz anders sein. Und in harter Arbeit schaffen sich diese Selbstschöpfer um, schaffen sich neu, immer im Kampf mit ihrer Natur.

Er ist Jesuit. Er lügt kalt, frech, wenn er es für zweckmäßig hält. Dem Pöbel nur die Wahrheit, die er verdient.

Pathos ist in seinem Hohn, seiner Ironie, brünstiger Weltschmerz. Ein zorniger Mensch. Zorn in seiner Trauer, Zorn in seinen Melancholieen. Seine Nerven liegen gleichsam hautlos, schutzlos. Berührt Kaltes, Feindliches sie, so zucken sie jäh und elektrisch und entbinden einen Strom von Qual und Haß.

Und dann sind seine Worte eine Peitsche, die Wunden reißt. Ein andermal begleitet er mit Flöte und Harfe die Gesänge der Dichter. Und kommt ein König, so stößt er in die Posaune, er meint aber, es käme gewöhnlich kein König. Seine Macht freut ihn, aber er übt sie nicht mit gutem Gewissen. Er weiß es selbst nicht, aber er leidet an den Wunden, die er schlägt.

Möchtest Du ein Kritiker sein, Anne Marie? ich nicht. Man ist ja da wie auf einem Schlachtfelde. [152] Die Feder ein Schwert, die Tinte Gift, das Papier das Blutgerüst, und die zu Köpfenden meist fleißige, strebsame, ehrbare Leute.

Er bildet und feilt unablässig an seinem Stil. Ein schöpferischer Stil; er gleicht dem Netz einer Spinne, mit ihren kunstvoll verschlungenen, ineinander und durcheinander laufenden zarten und doch starken Fäden. Die Opfer, die sich darin verfangen, kommen nicht wieder los. Aber er selbst hat nichts von einer Spinne. Er lauert nicht und wartet nicht ab. Er packt zu mit Blut- und Geistesgier.

Aber auch Stunden der Weihe hat er. Wenn er von Dichtern spricht, die er liebt – es sind deren nicht viel. Dann wird er zum Psalmisten, und hohe Lieder quellen aus seiner Brust. Dann liebe ich ihn. Zuweilen ist er auch naiv, kindlich. Er kann so fremd um sich schauen und sich so wundern. Dann liebe ich ihn auch. Du merkst, ich liebe ihn zu zwei Dritteln. Mit dem letzten Drittel gehört dieser Faust (nie hat es mehr Fauste gegeben als in unserem Zeitalter), irgend einem Bösen, ich weiß den Namen des Bösen noch nicht.

Ich fragte ihn, wieso er Journalist (beinah hätte ich auch Schournalist gesagt), geworden wäre. Er erklärte es sehr einfach: »Als Jüngling ließ ich Gedichte drucken, umstürzlerische Dithyramben, meine tiefsten Ueberzeugungen, meine Religion. Ich kriegte nicht einmal Honorar dafür – und ich hungerte damals – aber sechs Wochen Gefängnis, wegen groben Unfugs. Schauerlich war's. Leben oder sterben, aber [153] nicht die Marter eines Zwischenstadiums. Ich hatte im Gefängnis das Gefühl, als hätte man mich an den Beinen aufgehängt.

Wäre ich bei dem Idealismus und der Ueberzeugungstreue geblieben, glauben Sie, ich dürfte hier neben Ihnen sitzen – was doch eine konzentrierte Lebensfreude für mich ist – mit einem abgeschabten Rock, weißen Nähten an den Ellenbogen und einem Loch im Stiefel? von den Strümpfen garnicht zu reden. Ihr Portier schon hätte mir nachgeschrieen: »Hintertreppe.« Und meinen Sie, ich könnte in einer gemeinen Kneipe bei Knackwurst und Fusel, wozu mein ideales Honorar allenfalls ausreichen würde, zur Hölle niederfahren, wiederauferstehen und ins Paradies kommen, was doch zu den Requisiten eines Dichters gehört?«

Er blieb ein paar Minuten schwer atmend, mit zuckenden Lippen, wie in sich versenkt. Dann schüttelte er die Schwere ab, griff nach meiner Hand und preßte sie heftig, nicht liebkosend, nein, um mir weh zu thun! Und mit spöttischem Pathos perorierte er: »Und da habe ich die Dichterkrone vergraben, meinen Purpurmantel versetzt, und färbe nun mein billiges Fell mit dem Blut der dichtenden Nebenmenschen – rot.«

Er ließ meine Hand los und stand auf: »Und nun gehöre ich zu denen, die dem Publikum ihr Denken liefern, wie ihnen der Schuhmacher die Schuhe macht. Wir Zeitungsschreiber sind die modernen [154] Rattenfänger. Wir pfeifen, und das Publikum tanzt!«

Ein unglücklicher und ein bedeutender Mensch, der Frank Richter. Ein Prototyp der Zerfahrenheit unserer Zeit und voll Heißhunger nach einem Manna und Ambrosia, das vom Himmel fällt.

Liegt nicht in uns allen, die wir nicht zu den Dutzendmenschen gehören, etwas von diesen Seelenwirren? in mir und in Julia, in Anselma? und nicht auch in Dir, Anne Marie?

Nicht ein Zeitsymptom dieses höhnische Sichselbstironisieren, und das doch nur wie ein verzweifeltes Umsichschlagen mit Flügeln ist, die zornig den Staub aufwühlen, weil sie die Schwungkraft verloren haben? Nicht ein Zeitsymptom dieses prasselnde Witzfeuer, das ein Weinen der Seele übertäubt? Lästerungen auf den Lippen, während unser Auge nach dem Himmel schielt?

Und dann plötzlich der graue, müde Widerwille vor diesen blassen, cynischen Negationen. Fieberschauer mit Paroxysmen folgen, die ungeheure Sehnsüchte entbinden, die Sehnsucht auch, den Weltgeist an einem Zipfel zu erfassen, hinter ein tiefes, tiefes Geheimnis zu kommen, es Gott zu entreißen, und in der höchsten Wollust des Erkennens zu vergessen – was? den Tod?

Wie's Epikuräerchen so schön einmal sagte: »Wenn Ihr den Tod nicht abschaffen könnt, alles Andere ist Blech! Blech!« Das Wort Blech hat er gern.

Wundere Dich nur nicht, wenn mein Stil sich [155] ändern sollte und ich nächstens reden werde, wie mir der pathetische Schnabel gewachsen ist. Darum bin ich oft schweigsam. Ich will geistreich sein dürfen, in Bildern sprechen, dabei ein bischen gestikulieren (ich muß immer auf meine Hände achten, damit sie nicht in die Höhe fahren) und das alles gilt doch für affektiert, lächerlich.

Aber nein, Du willst doch von Adrian hören, und nun ist in diesem langen Brief immer nur von dem Frank Richter die Rede. Aber im nächsten Brief. Theochen gehts nicht gut? Arme, arme Anne Marie. Ich umarme Dich zärtlich.

Christel.«


»Ich komme aus Anselmas Atelier. O Anne Marie, ein Tag, der schrecklich zu Ende ging. Klarissa war nicht gekommen. Es beunruhigte uns einigermaßen. Maria hatte sie vor einigen Tagen auf der Straße getroffen, traurig und erregt, um einer Blume willen, zu der sie mystische Beziehungen unterhielt. Sie pflegte ihr Blaublümlein auf das sorgfältigste. Sie liebte es, flüsterte mit ihm. Sie glaubt an Pflanzenseelen und daran, daß ihr Schicksal irgendwie gerade mit dieser Pflanze verknüpft sei. Seit einiger Zeit gefiel ihr das Aussehen der Pflanze nicht. Sie mochte ihr noch so viel Wasser [156] und Sonne geben, das Köpfchen sank tiefer, und die Knospen neben der verblühenden Blume verkümmerten.

»Meine Blume ist krank,« hatte sie zu Mariage sagt. »Stirbt sie, so zieht sie mich nach sich.«

Ueber die Bilder vergaß man bald der mystischen Klarissa. Vier Bilder sind es, durch eine schmale Holzleiste miteinander verbunden. Ich beschreibe sie Dir, so gut ich kann.

Erstes Bild: In einem Rosengarten, vor einem klaren Teich, in dem Rosenblätter schwimmen, steht ein Liebespaar. Eine zarte Weide neigt sich tief zum Wasser nieder. Unter der Weide eine weiße Marmorbank. Die Jungfrau in fließendem Goldhaar, mit einem rosigen Gewand angethan, drückt das Gesicht in den Kelch der Rose, die sie in der Hand hält, und doch fühlt man, daß sie lauscht und mit dem Duft der Blume die Worte des Jünglings an ihrer Seite einsaugt. In Morgenlicht ist das Bild getaucht.

»Wie ein Minnelied mit Harfenbegleitung habe ich es empfunden,« sagte Anselma.

Julia meinte, sie hätte darunter schreiben sollen: »O, daß sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit der jungen Liebe.«

Anselma zog den Vorhang vom zweiten Bilde fort.

Die Sonne ist eben untergegangen. Der Himmel gleicht einer Serpentindame, die die Falten ihres weiten Gewandes in brennend lachender Pracht weit [157] auseinander spreizt. Die Rosen glühen in dunklem Purpur. Das junge Weib – auf diesem Bilde ist es Julia sprechend ähnlich – scheint vorwärts zu schreiten. Das Kleid ist ihr von den Schultern geglitten, oder vielmehr, sie hat es heruntergerissen, denn noch krampft sich ihre Hand in den Ausschnitt des Kleides. Es muß windig sein. Offenbar hat der Wind ihr hochgekämmtes Haar zerzaust, daß eine Strähne ihr ins Gesicht fällt; er weht ihr Kleid nach hinten. Die brennend roten, wie gefärbten Lippen sind halb geöffnet, die Zähne schimmern blitzend hindurch. Alles auf dem Bilde hat einen blutigen Ton, das Haar, das Gewand, das Innere der vibrierenden Nasenflügel. Selbst die Augen erscheinen rötlich, mit einer Flamme, die herauszüngelnd, in glühender Gespanntheit jemandem entgegenwächst. Sie rufen förmlich, sie schreien – nach wem? Ganz in der Ferne das schwache Schattenbild einer männlichen Gestalt.

Das dritte Bild: Fast Nacht. Das Gebüsch schwarz, durchschimmert vom Licht der Johanniskäferchen. Der Himmel voller Sterne. Auf üppigem Rasen liegt das Weib – nackt. In reiner Weiße leuchtet der Körper aus der tiefen Dämmerung. Krampfhaft hat sie mit der einen Hand hinter sich in einen Rosenbusch gegriffen, ein Dorn ist ihr in den Arm gedrungen, und ein Blutstropfen rinnt über den weißen Arm. Der zurückgeworfene Kopf trägt den Ausdruck höchster Wollust. Zur Leda kommt die zeugende Liebe als Schwan. Statt des Schwans hat Anselma einen [158] Feuerstrahl gewählt, der, aus der Höhe kommend, den Schoß des Weibes durchdringt.

»Wenn Euer Blut im heißen Atem dieser Sommernacht nicht entbrennt, so habe ich nicht erreicht, was ich wollte,« flüsterte Anselma. Das vierte Bild.

Ein großes Wasser. Es ist das Meer, denn die Wellen wogen. Auf einer Düne, an einer breiten Kiefer lehnend, steht der Jüngling des ersten Bildes, satt, zufrieden lächelnd. Er raucht eine Cigarette. Er sieht noch nicht, was wenige Schritte weiter aus wogenden Wellen auftaucht: Ein Kopf im letzten Stadium der Agonie. Die fast weißen Augen erloschen, die schweren triefenden Haare, die bläulichen Lippen schon von einem Hauch der Verwesung gestreift, nicht mehr fähig, etwas Anderes auszudrücken als das Sterben, und sterbend sehen sie noch den Jüngling.

Der Ausdruck dieser Sterbenden ist ergreifend. Wir standen alle eine Weile stumm vor den Bildern. Wir wußten nicht, was wir sagen sollten. Julia, die überhaupt wenig Interesse für die bildenden Künste hat, sah mich fragend an. Ich suchte in mir ein Urteil und fand es nicht. Ich wußte nur das Eine: ich wäre lieber gestorben, als daß ich solche Bilder gemalt oder sie gar ausgestellt hätte. Um keinen Preis hätte ich sie zugleich mit einem Manne sehen mögen. Und doch war ich nicht sicher, ob es vielleicht nur die Fremdartigkeit, die unerhörte Kühnheit der Wahl eines solchen Stoffes waren, die mich abstießen. Aber nein, das war es doch nicht. Ich dachte an [159] Tizians Bild: Jupiter und Semele, das ich immer wieder mit Entzücken sehen kann, ohne eine Spur innerer Abwehr. Mit welcher höchsten künstlerischen Vollendung wird da der Vorgang dargestellt – schattenhaft nur, traumbildartig, ein Traum der Wollust, von Göttern geträumt.

Dergleichen geht über Anselmas Kraft. Und doch lag ihre ganze Seele in den Bildern.

Eine beklommene Stimmung, eine schwüle Stille herrschte in unserem kleinen Kreis. Endlich stotterte ich etwas gezwungen, sie müsse wohl merken, daß wir ihre Kühnheit noch nicht verdaut hätten. Die Bilder seien zu bedeutend, um sofort ein Ramschurteil darüber abzugeben. Sicher hätte vor zwanzig Jahren keine Frau derartige Bilder malen können, und sicher wäre auch, daß sie sie hätte malen müssen, da sie in ihrer Seele lebten.

Maria bemerkte, daß die Sterbende auf dem Bilde garnicht mehr Julia, wohl aber Klarissa ähnlich sähe.

Mit einem sonderbar schwülen Blick streifte die Malerin ihr Modell. Die Julia passe nur für das Lebendigste. Das Sterben überlasse sie gern Anderen.

Anselma blickte düster. Sie empfand den Mißerfolg. Wir zögerten, sie zu verlassen. Der Maria Hill kam ein Einfall. Sie hatte ein Manuskript bei sich, das sie eben in eine Redaktion tragen wollte. Ob sie es vorlesen dürfe. Es stände in einem gewissen Zusammenhange mit den Bildern. Nur ganz kurz, [160] wenige Schriftseiten (Honorar fünf Mark), es finge ein bischen pathetisch an – die Einleitung müsse immer etwas knallen.

»Und der Schluß auch,« meinte Julia.

»Abwarten.«

Man war wie erlöst. Jawohl, man wollte es hören.

Der Vorhang wurde über die Bilder gezogen.

»Uebergangstypen« hieß der Titel des Aufsatzes. Und Maria las:

»Das Neue Weib,« ein Stich- und Schlagwort der Zeit. Es ist noch nicht fertig – das neue Weib. Wohl seit einem halben Jahrhundert schon hat die unaufhaltsam vorwärts-aufwärtsdrängende Zeit die Funken einer neuen großen Erkenntnis nach allen Himmelsgegenden hin gesprüht, und wo sie geeignetes Material fanden, da schwälten und glimmten sie weiter, bis der günstige Wind der letzten Jahrzehnte sie zu einer roten Flamme entfacht hat, die ihren Schein über alle civilisierten Länder wirft.

Die große Erkenntnis ist die Neuwertung der Frau. Eine rote Flamme, eine flackernde, wie vom Sturm erfaßte, eine gierige, die überall Nahrung sucht, weil sie noch klein ist, und sie will wachsen, wachsen; zu einer weißen, reinen, großen Flamme will sie werden, einer unauslöschbaren.«

Marie hielt tiefaufatmend inne, uns anlächelnd, als wäre sie froh, das Pathos hinter sich zu haben. Dann fuhr sie fort:

»Ein hoffnungsfrohes Frühlingsregen ist [161] vorläufig noch diese Bewegung, mit allen Symptomen der Jugend, der Unruhe, der glühenden Ungeduld, der alles zu langsam, viel zu langsam geht. Wir, die junge Generation, wir stehen alle noch wie auf einer Brücke, die Brücke ruht nicht auf festgefügten Pfeilern, darum schwankt sie, und sie hat auch kein Geländer, und wir schwanken mit, und wer nicht sicher auftritt und nicht schwindelfrei ist, stürzt leicht hinab. Schon sind die neuen Ideen lebendig, und die alten sind noch nicht tot.

Es ist ein Zwiespalt in uns Werdenden zwischen dem Altererbten und dem Neuerrungenen. Was seit so vielen Generationen Recht und Brauch war, hat sich unserer Gesinnung einverleibt, es ist beinah Instinkt bei uns geworden. Wir haben noch die Nerven der alten Generation und die Intelligenz und den Willen der neuen. All die alten Anschauungen und Vorurteile, sie heften sich an unsere Sohlen, eine Art sanfter Furien oder Medusen, die unser Wollen zwar nicht versteinern, aber doch lähmen. Mit einem Wort: wir sind Uebergangsgeschöpfe.

Von den neuen jungen Mädchen will ich reden. Es giebt unter dieser vorwärtsdrängenden weiblichen Jugend sehr verschiedene Kategorieen. Die vornehmste Kategorie, das sind die Stürmerinnen und Drängerinnen, denen die höchsten Aufgaben, die Lösungen von Lebens- und Welträtseln gerade nur gut genug sind. Manche dieser jungen Mädchen sind Kometen, mit allen Anzeichen, sich, anstatt auszuleben, [162] auseinanderzuleben, mit den Symptomen nebelhafter Zerfahrenheit, willkürlicher Ausstrahlungen und der Möglichkeit leuchtender Zersplitterung.«

Christa errötete, als Marias Blick sie flüchtig streifte.

»Eine zweite Kategorie ist auf der Flucht vor dem Nichtleben. Es sind diejenigen, die sich um jeden Preis ausleben wollen, in fieberhafter Eile, als wollten sie, was alle früheren Generationen versäumt, nachholen. Das sind die Entlaufenen, Entstürzten, Dahinrasenden.«

Julia, die sich getroffen fühlte, machte der Vorleserin eine lange Nase.

»Bei dieser Kategorie möchte ich eine, glücklicherweise nur kleine, Gruppe junger Mädchen erwähnen, eine Abart, die, von dem zündenden Funken der Freiheitsschwärmerei erfaßt, auf ein taubes Gleise geraten sind. Sie gehören meist zu den oberen Zehntausend und sind durch irgend welche perverse Einflüsse, sei es durch die Atmosphäre im elterlichen Hause, sei es durch Bücher, oder – und das ist die Hauptgefahr – durch einen Vetter außer Rand und Band geraten. (Habt Acht auf die Vettern, haltet diese allzu zärtlichen Verwandten von den Kousinen fern.) Diesedemi-vierges sind zumeist unbegabte und sinnlich veranlagte Naturen, junge Hexen, die kreuz und quer küssen und sich küssen lassen; zügellos, von naiver Frechheit in ihren Reden. Die Männer amüsieren sich königlich mit ihnen, sagen aber [163] hinter ihrem Rücken: »das sind ja unmögliche Mädchen,« heiraten sie aber, wenn sie ein klingendes Aequivalent für ihre gefährliche Erotik bieten. Ihre gesellschaftliche Stellung schützt sie vor dem Allerschlimmsten.

Eine andere bedeutsame Kategorie bilden die mit Energie, Thatkraft, Wirklichkeitssinn Ausgestatteten, die erkannt haben, daß die Macht der Weg ist, der zum Ziele führt. Das sind die Agitatorinnen, das sind die Rednerinnen auf den Tribünen, in Vereinen, Volksversammlungen. Es sind die Ruferinnen im Streit. Heut Kämpferinnen, werden sie morgen Siegerinnen sein.

Wieder eine andere Kategorie junger Mädchen ringt nach Selbständigkeit, entweder weil sie das Leben im elterlichen Hause nicht ertrugen, oder auch nur aus einem starken, allgemeinen Unabhängigkeitsdrang. Aus irgend einem äußeren oder inneren Grunde rechnen sie nicht auf die Eheversorgung, ihre Bildung hat mit der höheren Töchterschule abgeschlossen.

Aus kleinen Städten oder vom Lande kommen sie in die Großstadt und suchen nun bald hier, bald da eine kleine Stellung auszufüllen, als Sekretärin bei einem Gelehrten, oder in einem Bureau, beim Ordnen einer Bibliothek, beim Unterrichten kleiner Kinder; bescheiden nehmen sie, was sich ihnen bietet, sich mit der Genugthuung begnügend, auf eigenen Füßen zu stehen. Bemerkenswerte innere und äußere Vorteile erwachsen ihnen aus ihrer Thätigkeit [164] kaum. Sie befinden sich eben auf der Zwischenstation von der Hörigen zur Freien.

Wohin in der Frauenwelt unser Blick fällt, überall ein sehnsüchtiges Ringen, hinaus aus den stillen Binnenwässern in offene große Meere. Entscheidende Schlachten stehen noch bevor. Jahrzehnte werden noch ins Meer der Ewigkeit rollen, ehe Minerva das Schwert aus der Hand legt, um der Viktoria die Palme zu reichen.«

»Ha! es knallt!« flüsterte Julia Christa ins Ohr.

»Wir alle, wir erleben nicht die Zeit, wo die Kometen sich zu Sternen verdichten, wo die Schwarmgeister sich ansiedeln werden. Auf der Schwelle des gelobten Landes werden wir wie Moses sterben. Aber auch gleich dem Moses haben wir hungernde Scharen durch die Wüste bis an die Thore des Neulandes geführt. Ob Moses zufrieden starb?«

Maria faltete das Manuskript zusammen.

Anselma hatte der Vorlesung nur ein halbes Ohr geliehen. Ihre Gedanken waren augenscheinlich bei ihren Bildern. Für sie hatte die ganze Frauenbewegung kein Interesse. Kunst und Liebe – nichts anderes gab es für sie. Bei den anderen fand der Vortrag vollen Beifall, nur Christa meinte, Maria hätte erwähnen müssen, daß es auch schon jetzt sehr wohlgelungene Exemplare der »Neuen Frau« gäbe. Z.B. Maria Hill selbst.

»Ach ja, das ist wahr,« sagte Maria etwas verlegen, [165] mit dem schalkhaft lieben, seitlichen Blich nach oben. »Ich bin schon oft als ein Musterknabe (pardon wegen des männlichen Bildes) dieser Species dem Publikum vorgeführt worden. So recht stimmt es aber auch mit mir nicht. Die Studienzeit in Zürich, die war ja wunderschön; das Lernen und Wachsen im Erkennen, die frischfröhliche Kameradschaft mit den Studenten! Das bißchen Verliebtheit, das hier und da mit unterlief, förderte nur die Studien. Aber nachher – die Trockenheit des Berufs, sieben bis acht Stunden im Laboratorium bei meist mechanischen Arbeiten, ohne Aussicht, in absehbarer Zeit vorwärts zu kommen, Docentin an der Universität, oder sonstwie selbständig zu werden. Ueberall Riegel, Hindernisse, die einem Mut und Freudigkeit nehmen. Nein, ich bin nicht zufrieden, aber garnicht. Das war nicht ganz die Freiheit, die ich meinte, auch in mir ist noch etwas vom betrübten Moses. Bei der Mechanik dieses Arbeitslebens geht etwas in mir zu Grunde ...«

»Geht es denn vielen Männern besser?« warf Anselma ein.

»Was geht es mich an, wenn sie es ertragen? Wahrscheinlich sind wir anders organisiert wie sie, wir ertragen es eben nicht. Glaubt mir, es ist immer noch, als ruderten wir im Kahn hinter einem großen Dampfschiff her, (Männer am Steuer), immer in Gefahr, in die Wellen des großen Schiffes zu geraten und zu kentern. Lest doch nur, wie die absurdesten Phrasen über die hehre Mission des Weibes[166] – die natürlich zwischen den vier Wänden Platz zu greifen hat – von Beifall umtost werden.«

Die sonst so ruhige Maria zerknitterte zornig das Manuskript in ihrer Hand.

Julia, die an dem seit einer halben Stunde zurückgedrängten Redefluß halb erstickte, rief jetzt, indem sie wie ein kleines Kind den Finger hochhob: »Bitte, bitte, erlaubt mir einen kleinen Epilog. Ueberschrift: »Die Brüder«. Man lachte. Die Brüder waren ihre bête noir, das wußte man.

»Sie haben gut lachen, Maria, in der Schweiz, wo das Rütli liegt, und die Freiheit nur selten durch Schutzmänner verhindert wird, auf den Bergen zu wohnen, da mögen die Brüder besser geraten, aber in Berlin und Umgegend bis nach Dresden ...«

Man wollte keine Vorreden hören.

Sie stellte sich auf eine Fußbank, schüttelte ihre Löwenmähne und begann, anfangs mit rhetorischem Pathos:

»Es strebt der Mann nach Freiheit, das Weib nach Sitte.« Aus dem Schatz ewiger Wahrheiten eine der citiertesten. Lebte Goethe heut, er müßte diese ewige Wahrheit umarbeiten – nein, umkehren. »Es strebt das Weib nach Freiheit, der Mann nach Sitte,« wenn wir von gewissen unsittlichen Divertissements absehen.

Seht den Jüngling auf der Universität. Sittenkodexe schreiben ihm seine Lebensführung vor, bestimmen, was er zu thun oder zu lassen hat. Und er gehorcht – freudig. Der Kodex befiehlt ihm: [167] trinke! nein: saufe! saufe! saufe! Einer meiner Brüder, dem Bier nicht schmeckt und der es auch nicht verträgt, beklagte sich bei mir bitter über diesen Zwang. »Trinke Selterwasser in den Kneipen,« riet ich ihm. Seine Antwort: eine gellende Lache. Der Kodex befiehlt ihm: pauke! pauke! pauke! und er schreibt ihm vor, wo er sich beleidigt zu fühlen und seine Ehre mit den Prachtschmissen, auf die er lebenslänglich so stolz ist, wieder einzulösen hat. Er reicht auf eine ganz bestimmte Art die Hand zum Gruß mit weitabstehendem, rechtwinklig gebogenen Ellenbogen, die Hand verquer. So ziemt es sich für edle Jünglinge. Sie sind zum großen Teil konservativ und antisemitisch, diese edlen Jünglinge, und – Gegner der Frauenbewegung. Aus den Tempeln der Wissenschaft graulen sie durch Strampeln und Trampeln (siehe Halle), die jungen Mädchen heraus, in den Tempeln der Venus huldigen sie ihnen massenhaft. So ziemt es dem edlen deutschen Jüngling. Er durstet nach Bier, die Jungfrau durstet nach Freiheit. Er zwängt seinen Hals in einen Strangulierapparat von Kragen, der ihm die Respiration hemmt, sie schafft das Korsett ab und alles sonst Einschnürende. »Es strebt das Weib nach Freiheit, der Mann nach Sitte.«

Mit beifallheischendem Blick stieg Julia von der Fußbank nieder. Der Beifall aber blieb uns Allen in der Kehle stecken. Etwas Schreckliches geschah.

Totenbleich, irren Blickes stürzte Klarissa herein. Man gab ihr ein Glas starken Weins zu trinken, [168] und allmählich brachte man aus ihr heraus, was geschehen war. Sie hatte einen Taxameter genommen, um zu Anselma zu fahren. Auf dem Wege dahin rasten die Wagen der Feuerwehr an ihr vorüber. Als sie an die Schillstraße kam, konnte der Wagen nicht weiter. Unter dem düster lodernden Feuer der Pechfackeln bewegte sich seltsam lautlos eine Menschenmenge.

Sie entlohnte den Kutscher und wollte den Weg zu Fuß fortsetzen. Da teilte sich die Menschenmenge. Eine Tragbahre wurde sichtbar. Ein Mensch, einer von der Feuerwehr, lag darauf, das Gesicht schwarz. Tot. Feuerwehrmänner im roten Dampf der Fackeln schritten der Bahre zur Seite. Ein Leichengepränge wie aus Dantes Hölle.

Klarissa wollte durch eine andere Straße zum Kurfürstendamm gelangen. Die Füße versagten ihr den Dienst. Sie sah eine Droschke zweiter Klasse langsam daherkommen. Auf dem Bock saß merkwürdigerweise neben dem Kutscher noch ein Mann in einem umgekehrten Schafspelz. Kein anderes Gefährt war zu sehen. Sie stieg in die Droschke. Das langsame Fahren steigerte ihre Nervosität. Endlich war sie zur Stelle. Sie hatte, um das Geldstück zu suchen, den Handschuh abgestreift. Indem sie dem Kutscher das Geld hinaufreichte, berührte sie seine Hand. Sie war kalt wie Eis. Das Geld entrollte seiner Hand, fiel klirrend zu Boden. Nun erst bemerkte Klarissa, daß der Kutscher festgebunden war. Die starren Augen standen offen. Der Kopf wackelte hin und her. Ein [169] Toter. Und der mit dem Schafspelz, der ihn wohl zur Unfallstelle bringen sollte, hatte sich mit der Totenfahrt noch schnell die paar Groschen verdienen wollen.

Schauerlich! Die Toten drängten sich um sie. Und als sie oben bei Anselma die Klingel gezogen, da habe sie bemerkt, daß sie die Gestalt eines Kreuzes hatte.

Klarissas Atem ging schnell, fieberhaft. Sie lehnte, während sie sprach, an der Staffelei, dabei hatte sich die Hülle ein wenig verschoben. Ihr Blick fiel auf die Sterbende im Wasser, auf diesen Kopf, der ihr ähnelte. Sie zuckte ein paar Mal wie in Krämpfen und stürzte dann mit einem markerschütternden Schrei zu Boden. Wir bemühten uns, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Vergebens. Auch einem Arzt, der aus der Nachbarschaft herbeigeholt wurde, gelang es nicht. In einem Wagen mußte sie endlich nach Hause geschafft werden. O schrecklich, Anne Marie, vier Tage sind seitdem verflossen. Der Hausarzt der Tante, bei der sie wohnt, konstatierte den Tod. Alle Vorbereitungen zum Begräbnis wurden getroffen. Der junge Arzt aber, der sie zuerst behandelt, widersetzte sich. Die sicheren Symptome des eingetretenen Todes fehlten. Möglicherweise läge ein langandauernder Starrkrampf, eine Art Scheintod, vor, wie er bei Sensitiven vorkäme.

Ist es nicht sonderbar, daß man meist die Erlebnisse hat, die unserer Geistesart entsprechen, förmlich,[170] als riefe unsere Seele sie herbei. Mir wären sicher diese Toten nicht begegnet. Maria, die immer kluge und helle, meint freilich, es wären nur Totenvisionen gewesen. Der Feuerwehrmann mit dem Leichengepränge wie aus Dantes Hölle, würde wohl nur betäubt und der tote Kutscher nur schwer betrunken gewesen sein. So etwas wie tote Kutscher, mit denen man noch sechzig Pfennige verdienen wolle, käme in Berlin nicht vor.

Wir alle warten nun mit schmerzlicher Spannung auf die Lösung des Dramas. Im nächsten Brief erfährst Du's.

Christel.«


»Denke, denke, liebe Anne Marie, der junge Psychiater hat recht gehabt. Klarissa ist wieder zum Leben erwacht. Fast eine Woche hat der starrkrampfartige Zustand angedauert. Sie hat alles gehört, was während der Zeit um sie herum gesprochen wurde. Sie hat den Vorbereitungen zu ihrem Begräbnis beigewohnt. Ihr muß zu Mut gewesen sein, wie einem, der zur Hinrichtung abgeführt wird. Sie ist mit ihrer Tante und dem Arzt nach dem Süden abgereist. Er hofft sie ganz gesund zu machen.

Könnte ich doch mit nach dem Süden. Ich möchte auch von einer Krankheit gesund werden, einer[171] Krankheit ohne Namen. Es ist etwas fiebrig Schleichendes, Nervenannagendes, eine intellektuelle Reizbarkeit, die mich verzehrt. Ein inbrünstiges Heraussehnen tief innerer Kräfte, ein stachelndes, hochstürmendes Wollen, mit dem das Können nicht Schritt hält, und dieses Nichtkönnen – – ach, ich finde, ich bin eine lebendige Illustration zu Maria Hills Schilderung des heutigen Frauentums. Es ist ein Kampf neuer Morgenröten gegen alte Dämmerungen. Unser Frühling ist da, aber noch rascheln an unseren Bäumen so viele dürre Herbstblätter. Die Frauenseele hat noch so viel Restbestände aufzuarbeiten.

Es ist auch nicht wahr, es ist falsch, ganz falsch, daß die Zeitströmung mit der neuen Frau wäre. Sie erringt wohl ein Recht nach dem andern, aber man gewährt es ihr notgedrungen, widerwillig, mit heimlichen Vorbehalten. Das gilt selbst von den radikalsten Parteien, die auf ihr Programm die absolute Freiheit der Frau schreiben, ein Programm, das Vernunft und Gerechtigkeit ihnen diktieren, ihr Herz aber protestiert heimlich. Ja, das Gemüt der Welt ist noch immer auf Seiten der alten Frau. (Natürlich der alten jungen.)

Und wer nicht ein Kraftmeier ist, den lähmt diese Widerwilligkeit und Scheelheit, und da hat man – ich wenigstens – immer das Gefühl, als zerränne, was wir thun, ins Leere.

Uebrigens, wer weiß, vielleicht wachse ich mich noch zu einem Kraftmeier aus. Vorläufig aber quält[172] mich das böse Gewissen wegen meiner Weltüberflüssigkeit.

Vom Zeitcharakter bin ich natürlich auch angekränkelt. Der ist von einer so ungeheuren Ungeduld und Sehnsucht durchtränkt. Ein so leidenschaftliches Tempo auf allen Gebieten. Die Maler stürzen sich nur so in die Farbentöpfe, die Musiker in die Tonmassen. Und mancher, der bestimmt war, auf Schalmeien oder Flöten zu blasen, stößt Walkürenrufe in die Welt. Die Schriftsteller thun es nicht unter Himmeln oder Höllen. (Letztere ziehen sie vor.) Diese Ungeduld fiebert auch aus ihrem Stil heraus. Sie denken gleichsam stenographisch. Kurze Sätze. Lauter Punkte. Die Prädikate lassen sie fort. Sie sprechen wie atemlos, in Glühlichtern, Schlagworten, Bildern. Nur keine langen Definitionen. Alles muß rauschen, schäumen, fliegen, splittern, lodern oder wenigstens radeln. Und wer keine Flügel hat und kein Automobil, und kein Geld, um in Luxuszügen die Welt zu durchrasen, der kann sich begraben lassen. Aber das thue ich noch lange nicht. Trotz dem, was ich vorhin sagte, meine Flügelhoffnungen stehen in Blüte. Addio, Du Liebe.

Christel.«


[173] »In meinem vorigen Briefe, Anne Marie, erwähnte ich meine Weltüberflüssigkeit. Im Hinblick auf dieses soziale Malheur hatte ich schon daran gedacht, mich mit Mama am blauen Kreuz zu beteiligen. Was das ist? Es giebt jetzt blaue, grüne, gelbe Kreuze neben dem altbekannten roten, und alle sind das Symbol irgend einer Wohlthätigkeitsunternehmung. Du glaubst garnicht, Anne Marie, wie das Volk jetzt Mode ist. Jeder bekümmert sich um sein Wohlergehen. Die konservativen Kreise sorgen sich besonders um sein Seelen heil, daß es gottesfürchtig werde und ablasse von der Roheit.

Und wer soll diese Ethisierung besorgen? Der Volksschullehrer. Und wie macht er das? Durch den Religionsunterricht. Die sittliche Besserung wird mit Gesangbuchliedern und Bibelsprüchen auswendig gelernt und den schwachen Gedächtnissen eingebläut. Ach Gott, der arme, unwissende Wurm von Volksschullehrer, von Pädagogik und Erziehung hat der ja keinen Schimmer.

Ei, Ihr lieben Leute, macht Humboldts, Schleiermachers oder Tolstois zu Volksschullehrern, oder wenigstens die besten der intelligentesten Pädagogen, wenn Ihr Resultate wollt. Aber Keile und Bibelsprüche! Ob ich wohl das Zeug zu einer solchen Lehrerin hätte! Ein schönes Amt wäre es. Ich würde nur die Luft in den Klassen nicht vertragen. Erinnerst Du Dich, wie wir immer schnell die Fenster [174] aufrissen, wenn Martha und Else Walter bei uns gewesen waren, so imprägniert waren ihre Kleider mit dem Armeleutedunst aus den Schulen. Da alles möglich ist, verfällt der Staat vielleicht mit der Zeit auf eine zweckentsprechende Klassenventilation.

Wie sehr das Volk jetzt Mode ist, siehst Du an Mama, die mitthut. Wenigstens an einem Zipfel ihres tailor made-Kleides ist sie von der Zeitströmung erfaßt. Sie hat mit einigen anderen Damen – Frau Thal heim ist auch dabei – in Berlin O. in einer häßlichen Fabrikgegend einen Laden eröffnet, eine Art Konditorei oder Restaurant, wo für einen Minimalpreis eine Tasse Kakao, Thee, Milch, Haferbrei oder Kaffee mit Schrippe verabreicht wird, um dem Alkoholgenuß der Arbeiter zu steuern. Die Damen selbst übernehmen abwechselnd die Bedienung, den Einkauf, Buchführung u.s.w. Du solltest sehen, wie seelenvergnügt die Mama in den Taxameter steigt, mit einem dunklen Wollenrock und einer bescheidenen Blouse angethan. Die umfangreiche Schürze, die dazu gehört, trägt sie – nicht etwa verschämt eingewickelt – nein, offen über dem Arm. Die Damen kommen sich wie verkleidet vor. So was macht Spaß, und die Fünfpfennig-Schokolade – mit Schrippe – brauchen sie nicht zu trinken.

Auch einem andern Verein ist Mama beigetreten, der elegante, abgelegte, aber noch brauchbare Kleider sammelt, um sie – ebenfalls für einen Minimalpreis – armen kleinen Provinzschauspielerinnen zukommen zu lassen, zum Stopfen der trüben Quellen, [175] aus denen sonst ihre Garderoben fließen. Und Mama durchforscht und durchstöbert nun ihre Garderobenschränke und giebt Sachen her, von denen sie sich früher um keinen Preis getrennt hätte, auch um unsertwillen nicht.

Ja, ganz Berlin W. ist von dem Ehrgeiz gepackt, an der sozialen Arbeit teilzunehmen. Ethos selbst wandelt durch die Villenstraßen Berlins. Etliche gehen in die Blindenanstalten und lesen den Kindern vor, wieder andere gründen Vereine für Hauspflege u.s.w. Und es ist erlogen, wenn neulich jemand sagte: Diese Wohlthätigkeitstanten thäten nichts als sich versammeln und Thee trinken. Epikuräerchen gehört nicht zu den letzten, die Witze über das »Gethue« reißen. Die Armen-Schokolade, sagt er, kochten die Ritterinnen vom blauen Kreuz mit Menschenliebe, und sie schmückten ihr Heim mit den Lastern, die sie dem Volk abgewöhnen wollten u.s.w. Völlig unangebrachte Witze. Gewiß, vielfach äußerliches Gethue, aber doch kein unfruchtbares. Ich meine, was der Mensch thut, aus welchen Motiven immer, es wirkt schließlich auf seine Gesinnung zurück. Bei Mama ist es ganz augenscheinlich. Denke, neulich hat das brave Mamachen zwei Volksschullehrerinnen nicht nur eingeladen, sie hat ihnen sogar feinste Theeküchelchen und Sandwichs – prima Qualität – vorgesetzt, während sie doch sonst Gästen, die sie für inferior hält, nur mit billigem, wenn auch nahrhaftem Streußelkuchen aufwartete, in der Meinung, daß solche Leute immer Hunger hätten.

[176] O Anne Marie, glaube, etwas Neues, Großes ist im Werden. Ich habe Gesichte wie Klarissa. Schlafende Psychen wachen auf. Spatzenzeug kriegt Adlerflügel, die Haare der Simsons, der großen Rächer, wachsen, wachsen.

Philister hütet Euch! Du brauchst Dich nicht zu hüten, mein Aennchen Mariechen, Du bist nicht philiströs. Ich habe Dich sehr lieb.

Deine Christel.«


»Ich merke es wohl, Du – beinah mehr Schwägerin als Schwester, Du bist für Adrian eifersüchtig auf meinen Freund. Er ist Dir ein Dorn im Auge. Keine Furcht, daß ich für diesen Luchsäugigen, Giftzüngigen mein Herz entdecke. Er ist zu sehr Dorn, er sticht, aber besticht nicht! (Arg witzig? nicht?) Der Vater mag ihn auch nicht. Seinen Geist vergleicht er mit Windmühlenflügeln. Was eben noch oben ist, wäre im nächsten Augenblick unten und umgekehrt. Viel Wind machten sie ja, und wer ihnen zu nahe käme, den zermalmten sie wohl auch gelegentlich, besonders wenn es eine unbesonnene kleine Frau wäre.

Der arme Frank. Er zermalmt am ehesten noch sich selbst. Es liegt oft düster, nachtschwarz auf ihm. Er macht Andeutungen, als müßte er etwa das [177] Rad des Sisyphos rollen. Der Grund seiner Seele birgt Sentimentalitäten. Ein Unglücklicher, Anne Marie, und für den habe ich doch am Ende mein Herz entdeckt. Ich kann ihm ja helfen. Auch mit meinen häuslichen Talenten. Die schießen mit einer Ueppigkeit ins Kraut, das ich selbst darüber staune.

Der arme Frank hat nie einen Menschen gehabt, der für seine Behaglichkeit gesorgt hätte. Ich bereite jetzt selbst Thee und Kaffee. Das lernt zwar jeder im Umsehen, die gute Hausfrau aber weiß dabei zu individualisieren und Thee und Kaffee auf den Menschen – respektive den Gast – zu stimmen. Mein Theetisch ist ein kleines Kunstwerk. In Stimmungseffekten leiste ich Außerordentliches. Requisiten: Vorgeschobene Butzenfenster, Kaminfeuer, bräunlich gelbe oder bräunlich rote Vorhänge. Blumen selbstverständlich. Und jeden Tag andere! Und meine Liebenswürdigkeit auch jeden Tag von anderer Kouleur. Das heißt, das kommt ganz von selbst, von meiner Chamäleonnatur.

Und wenn dann die Falten auf seiner Stirn sich glätten, wenn so ein einfaches, menschlich frohes Lächeln um seinen bittern Mund spielt und der Thee ihm so gut schmeckt, – er bringt es zuweilen auf fünf Tassen (die Küchelchen dazu hole ich selbst aus der Stadt), dann empfinde ich es warm, es thut gut, sehr gut, für Andere zu sorgen. Man verschafft sich einen ganz durchtriebenen Genuß mit dem Behagen und dem Glück, das man Anderen bereitet.

[178] Siehst Du, Anne Marie, ich meine, eine gute Hausfrau sein, das heißt Verstand, Güte, und Geschmack haben. Das Können dabei ist ganz minimal. Die gute Hausfrau kommt direkt aus dem Herzen.

Dem Adrian kann ich auf diesem Gebiete kaum etwas leisten. Er ist von jeher so verwöhnt worden, da auf dem fetten Gut in Ostpreußen, wo seine Wiege stand. (Frau von Brachts stand auch da.) Ihm fehlt auch der Sinn für feine kleine Nüancen in der intimen Häuslichkeit. Ob der Samovar kupfrig golden strahlt und ich selbst, rosenfingrig, das siedende Wasser auf den Thee gieße, oder ob der Diener ihn fix und fertig aus der Küche bringt, das ist ihm gleich.

Weißt Du, was mich bei meinem Freund am meisten anzieht? Daß er Adrian so entgegengesetzt ist. Bei ihm, dem immer Wildbewegten (mit Pausen schwüler Windstille), ruhe ich förmlich von der glatten Stille meines Gatten aus. Tritt er ins Zimmer, so habe ich das Gefühl, als käme ich aus Stubenluft ins Freie; ein Freies freilich, wo keine Feld- und Wiesenblumen blühen und keine Mittagssonne glänzt, vielmehr ein Freies unter dem Nachthimmel, viel Sternschnuppen, Wetterleuchten, Glühkäferchen in schwarzen Büschen, überhaupt Phosphorescierendes. Und ein weiter, weiter Horizont.

Ich brauche Frank Richter, ich brauche ihn. Er stöbert mich aus der Eingewiegtheit meiner Hängematten-Existenz auf. Es ist Dir gewiß auch [179] schon passiert, Anne Marie, daß Du schlaff oder gedankenlos durch die Leipziger- oder Potsdamer Straße gingest. Da mußt Du über den Damm, mitten durch das entsetzliche Gewühl von elektrischen Bahnen, Omnibussen, Droschken u.s.w. Und fort ist alle Schlaffheit und Gedankenlosigkeit. Mit erregter intensiver Wachheit spähst Du nach allen Seiten hin, um der Gefahr des Ueberfahrenwerdens zu entgehen. Aehnliches geht bei mir vor, wenn Frank Richter da ist. Ich werde, mag ich vorher matt und schläfrig gewesen sein, gleichsam elektrisch. Meine Gehirnnerven vibrieren, spannen sich, um in dem Kreuzfeuer von Gedanken und Gefühlen, das er über mich hinsprüht, nicht zu unterliegen.

O, mein Prolet packt mich derb an. Wenn ich so flau und banal daherrede, wie man es eben thut, gleich fordert er Gründe, warum ich dieses oder jenes denke und sage, und scheint es ihm thöricht, so fährt er auf: »Das haben Sie in der Agramer-Brille gelesen.« Ein von ihm ersonnenes Winkelblatt, als Symbol aller engen, krähwinklerischen Ansichten und Urteile.

In ihm ist ein Ueberlaufen, ein Elementares, und zugleich raffinierteste Geistigkeit, ein Haß auch gegen den Pöbel, den vornehmsten nicht ausgenommen, auch wenn er in der ersten Fauteuilreihe im Parnaß sitzt, auch gegen den Pöbel in seiner eigenen Brust. Ich fühle oft in ihm eine Glut, die wie Feuer unter einer Eisdecke schimmert. Und ich bin dann immer gespannt, ob das Feuer durchbrechen wird.

[180] Ob er mich liebt? Ich glaube: nein. Wundert mich eigentlich.

Er weiß natürlich nicht, daß Adrian ihn den Proleten nennt. Er rächt sich instinktiv dafür. Wenn er von Adrian zu mir spricht, sagt er immer: »Ihr fremder Herr«, obgleich ich ihm doch erklärt habe, daß ich Adrian liebe.

Er behauptet, es nicht zu glauben. Und unbefugterweise zeichnete er neulich das Charakterbild meines Mannes. Nach ihm wäre Adrian ein Dutzendmensch. Nicht dumm und nicht intelligent, nicht kalt und nicht warm. Lau. Als ein Herr Müller oder Schulz würde er wahrscheinlich ein angenehmer, liebenswürdiger, wohl auch bescheidener Herr sein, guter Durchschnitt. Als Abkömmling hoher Ahnen genüge ihm das nicht, und wie die gräfliche Großtante ihr Hörrohr hinter rosenroten Straußenfedern, so verberge er seine Unbeträchtlichkeit hinter kühler Reserviertheit, hinter überlegenem Lächeln und einer sterilen ungeschmeidigen Feinheit. Seine Ahnen ständen immer hinter ihm und heischten etwas von ihm. Er litte unter ihnen, wie unbedeutende Söhne unter ihren berühmten Vätern leiden. Sein Ehrgeiz: Botschaftssekretär in Rom oder London. Nicht in Paris. Er wäre ein alter Herr, meine aufwärtsdrängende Jugend beschäme ihn, irritiere ihn.«

Nicht wahr, Anne Marie, so schaut unser Adrian doch nicht aus, wenn ich auch nicht bestimmt sagen kann, weß Art und Stamm er ist, jedenfalls vom Stamme derer, die geliebt werden, ob auf Konto [181] seiner romantischen Augen und seiner schlanken, feinen Frauenhände, das weiß ich nicht. Seine Sphäre zieht mich an. In der Politik nennt man es Imponderabilien, mit denen gerechnet werden muß. Du – Du – ich sage nicht, was ich denke.

Deine Christel.«


»Liebe Anne Marie, Du willst wissen, wovon wir denn eigentlich immer miteinander reden, ich und mein Freund. Ach, von allem, was Menschenherz erhebt, von allem, was Menschenbrust durchbebt, viel auch von der Zukunft, und in schwungvollen Momenten vom Allerzukünftigsten. Was redeten wir z.B. gestern. Ich melde, was mir gerade im Gedächtnis geblieben ist. Du mußt Dir aber dabei seine temperamentvollen Gesten denken, das jähe, wetterleuchtenartige Aufblitzen seiner schwarzen Augen, die Sturzwellen seiner Beredsamkeit, unter denen er nicht selten begräbt, was eben noch blühend lebte. Zuweilen steht er am Fenster und muschelt etwas in sich hinein, als ob er zu sich selber oder jemand da draußen spräche, so etwas Verfluchendes, Weltniederschmetterndes. Und dann mit erschreckender Plötzlichkeit eilt er auf mich zu, ergreift meine Hand oder mein Kleid, meine Schärpe und schreit:

»Widersprechen Sie mir nicht.«

»Ich thue es ja nicht.«

[182] »Nicht antworten heißt widersprechen.«

Einmal fragte ich ihn, wie ihm mein Kleid gefiele. Ich hatte nämlich ein neues, wunderschönes Kleid an. Façon Teagown. Weicher, dicker englischer Sammet. Eine Farbe, als wenn in einen Tautropfen der letzte Schimmer der untergehenden Sonne fällt, und ganz unwahrscheinliche, weiße, pelzartige Lichter hat es.

»Ihr Kleid ist wonnig, mild, herrlich.« Und liebkosend strich seine Hand über den Sammet.

»Ich falle doch damit aus der Mode.«

»Nicht ganz. Sie sind vielmehr eine Toilettenkassandra. Sie ahnen die kommende Mode voraus. Sie inaugurieren sie. Und das ist das Geheimnis, billig, ganz billig, süperb, elegant, reizvoll, originell zu sein. Sich aus der Menge herausheben, darauf kommt's überhaupt an. Ein feines, listiges Talent, oder ein Genie, das die Moden antecipiert, ob Kleider-, ob Geistes- oder Seelenmoden. Es giebt auch Erdball-und Weltallsmoden, die kosmischen Gesetze sind's. Nach ewigen, ehernen Gesetzen durchläuft alles – Damenkleider ebenso wie die Gestirne – denselben Kreislauf, und Anfang und Ende schließen sich immer von neuem zusammen.«

»Wenn doch nach ewigen Gesetzen alles so kommt, wie es kommen muß,« bemerkte ich, »warum haben Sie denn neulich wieder den armen Dichterjüngling allerneuester Richtung – noch dazu ein Protégé von Mama – in Ihrer Tinte ersäuft? Sie wissen doch,« fügte ich schmeichlerisch hinzu, »Ihre Tinte ist wie [183] das schwarze Meer, wer hineingerät, kommt darin un.«

Und er: »Nach demselben ehernen Gesetz wie jener dichtet, kritisiere ich ihn. Uebrigens, die neue Richtung ist dabei gleichgiltig. Es giebt gegenwärtig gar keine bestimmte Richtung. Alle Tonarten wirren durcheinander: Trompeten, Flöten (auch Radauflöten), Waldhorn, Harmonium, Orgel. Ich wünschte, die nächste Nouveauté auf dem litterarischen Markt wäre tiefes Schweigen, Sturz der Presse, Erlösung von den Zeitungen, auf daß der hirngeknebelte Mensch aufatmend sagen kann: Ich denke wieder, darum bin ich.«

Als hörte ich Väterchen reden. Erinnerst Du Dich, er behauptete immer, wenn er die politischen und sozialen Ansichten der Leute kennen lernen wolle, erledigte er die Sache immer mit einer einzigen Frage: »Welche Zeitung lesen Sie?«

»Wir erleben diesen Tag des Herrn nicht,« antwortete ich meinem Freund.

»Nein. Vorläufig sind die litterarischen Schlauköpfe, die Spekulanten, die mit ihrem Hirn wuchern, am Ruder. Die, die auf dem Anstand stehen und nach Ideen pürschen, die zünden, Ideen, die lukrativ sind.«

»Warum hecken Sie denn nichts Neues aus, eine neue Moral zum Beispiel.«

»Aber Christa, Nietzsche ist früher aufgestanden als ich.«

»Na dann kehren wir die Sache um: Rückwärts,[184] rückwärts, Don Rodrigo, zur Einfachheit der ersten Katakombenchristen.«

»Der Roman ›Quo vadis‹ ist nicht nur schon geschrieben, es sind auch schon ein Dutzend Imitationen im Druck. Und der Satanismus von Huysmans und Gefolgschaft – abgethan, und die schaudernden Gefühle in heiligen Hainen, Griechentum, Nirvanaversunkenheit, alles schon dagewesen, um Ben Akibas unermeßlich weises Wort zu gebrauchen.«

»Auch auf dem Gebiet der Erotik nichts Neues?« Er besann sich einen Augenblick.

»Doch. Die Prostituierte als das Weib an sich, das eigentliche, echte Weib. Einige Schriftsteller strecken schon, wenn auch verblümt, die Fühler nach dieser Seite aus, soweit es die Polizei erlaubt.«

»Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht? Sind alle, die die Harems-, die orientalische Auffassung vom Weibe haben, so sehr weit von dieser Weibauffassung entfernt? Ein Schopenhauer, ein Nietzsche? Und die Jungfrau, die um der lebenslänglichen Versorgung willen die Ehe ohne Liebe eingeht, nimmt sie nicht ein Pauschquantum, anstatt von Fall zu Fall zu verhandeln?«

»Brechen wir die Erotik ab,« sagte ich. »Ich liebe nämlich solche Gespräche nicht, man weiß nie, ob es bei dem ›parler d'amour‹ bleiben wird. Tausend Grüße Dir und Theo.

Christel.«


[185] »Anne Mariechen, ach – wirklich? Ich fange an Dir fürchterlich zu werden mit meinen trockenen Denkereien? Aber das liegt mir ja gar nicht.

Neulich Abend konnte ich nicht einschlafen. Die erste Stunde war eigentlich wunderhübsch. Mein Inneres quoll förmlich von hübschen Einfällen über; nur daß ich sie alle am anderen Morgen vergessen haben würde, that mir so sehr leid. Eine drollige Beobachtung machte ich. Ich war schon im Einschlafen, sah schon die Traumgebilde, und wußte mich doch im Bett, und mit meinen wirklichen, nichtschlafenden Augen schielte ich in die Traumwelt hinein, überlistete sie förmlich, wie jemand etwas genießt, das gar nicht für ihn bestimmt ist – und ich blickte von meinem Bett aus in einen wunderbaren Märchensaal, wo auf einem Hintergrund von Feuer sich weiße Marmorgestalten bewegten. Ach wie schade, dachte ich, nun schläfst du gewiß gleich ein.

Siehst Du, so genußgierig bin ich, das helle Wachen des Geistes möchte ich und zugleich die Phantasiegebilde einer Künstlerseele.

Viel helles Wachen danke ich Frank Richter. An der Gemeinsamkeit unseres Denkens und Fühlens wächst unsere Intimität. Siehst Du, Anne Marie, ich war zuweilen nahe daran, mich für verrückt zu halten, wenn ich mich für eine Sache begeisterte oder sie verabscheute, und ich erfuhr von aller Welt eine kalte, oft höhnische Ablehnung. Und da kommt einer, [186] der denkt und empfindet wie ich, und der befreit mich von der Pein geistiger Verlassenheit.

Und besonders ist es die gemeinsame Entrüstung, die uns verbindet, viel mehr als die Gemeinsamkeit der Begeisterung. Für die Begeisterung findet man eher Genossen, auch hat man seltener Gelegenheit, in sie hineinzugeraten. Es geschieht gar nicht so viel Herrliches in der Welt.

Worüber wir uns denn immer so entrüsten?

Aber, Anne Marie, hätten wir sonst keinen Stoff, wir lesen doch Zeitungen, die bieten eine Ueberfülle. Wenn wir fanden, daß einer unschuldig ins Zuchthaus wandern mußte, wenn ein Bube aus Parteipolitik für schnöden Judaslohn alle Segel aufspannte, um einen Unschuldigen unter das Beil zu bringen, wenn ein Lehrer kleine Kinder mißhandelte, wenn – – ich höre lieber auf, ich könnte Bogen mit diesem Brennstoff für unser Entrüstungsfeuer füllen. Was uns nicht zum wenigsten empört, ist die Lauheit der Menschen den größten Schändlichkeiten gegenüber.

Ja, Mariannchen, wundervoll ist eine solche Verschwisterung der – gestatte mir das Wort – Seelen, die ja ein bischen Verliebtheit von seiner Seite nicht auszuschließen brauchte, es auch vielleicht nicht thut.

Trotz der Köstlichkeit dieses Geistesbündnisses sehne ich mich doch zuweilen nach intellektueller Unschuld. Mit Frank bin ich immer in anstrengender [187] Höhenluft, und gern wiegt man sich auch einmal zur Abwechselung weich und mollig in Gefühlswellen.

Warum sollte ich nicht einmal in die Kirche gehen? Und ich ging in die Kirche. Unerfreuliches Wetter war's. Regen. Gleich wie ich eintrat, war's mir, als käme ich aus dem Regen in die Traufe. Vollgepfropft war die häßliche, kahle kleine Kirche, Mensch an Mensch, auf allen Gesichtern der stumpf ergebene Ausdruck von Leuten, die Sonntags in die Kirche gehen wie Alltags an die Arbeit. Sie saßen in feuchten Regenanzügen mit tröpfelnden Schirmen, eine muffige, dicke Luft verbreitend. An langen Messingstangen, wie in untergeordneten Kneipen, hingen die Gaslampen. Spucknäpfe waren auch da, wenn ich nicht irre. Und mein Sinn stand nach hochgewölbten Kuppeln, geweihten Wachskerzen, schimmernden Säulen.

Ein merkwürdig asketischer Einfall, diese nüchterne Häßlichkeit der protestantischen Gotteshäuser, als ob es Nacht sein müßte, wo Gottes Sterne strahlen. Wir können an den Sinnen nicht vorbei. Wir sind nicht Buddha's, nicht Heilige. Die Kirche ist Gottes Kleid, ein feierlich erhabener Faltenwurf stände ihr an, nicht bettelhafte Dürftigkeit. Die Katholiken verstehen es besser. Nicht schön und ergreifend die Vorstellung, daß eine feierliche Welt der Schönheit die Mühseligsten und Aermsten aufnimmt, wenn sie aus dem grauen Elend ihrer Kammern in die Tempel treten?

Weißt Du, Anne Marie, ich bin überzeugt, giebt [188] es auf dem Mars noch Götter, ihre Tempel müßten von so unsagbarer Schönheit sein, daß selbst Wagners kühnste Dekorationsträume bloße Schemen daneben wären. Uebrigens die Spucknäpfe nehme ich zurück. Sie beruhen vielleicht auf einem Irrtum meinerseits.

Ich verließ gleich wieder die Kirche, nahm einen Wagen und fuhr ins Hospital, wo ich unsere alte, kranke Näherin besuchen wollte. Der Regen hatte aufgehört. Warmer, schöner Sonnenschein. Im Garten des Hospitals, den ich passieren mußte, war voller Frühling, alles frisch, maigrün. Die Sonne funkelte in den Tautropfen der knospenden Bäume. Auf einer Bank unter einem blühenden Apfelbaum saßen ein Mann und eine Frau. Sehr alte Leute. Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet. Er las ihr aus der Bibel vor.

Ich setzte mich neben sie; sie nickten mir freundlich zu und er las ruhig weiter, die Stelle aus dem Buch Daniel, die von der Wiederkunft des Messias handelt.

Er war zu Ende und klappte die Bibel zu. Eine Weile saßen sie still in sich versunken. Dann sagte die Greisin: »Wir waren beide sehr krank. Gott der Herr hat uns gesund gemacht, er will, daß wir den Messias noch sehen. Wir sind Adventisten.«

Bei Gott, Anne Marie, sie warteten auf den leibhaftigen Jesus Christus, der heute, morgen, übermorgen, sicher in der allernächsten Zeit kommen würde. Und nur deshalb hatte der liebe Gott sie gesund [189] gemacht. Und aus jeder Furche dieser alten Gesichter leuchtete Glückseligkeit, förmlich seelenübernährt sahen sie aus.

Ja, das war intellektuelle Unschuld, rührende, ergreifende. Aber nein, nicht rührend. Plötzlich kam es wie Wut über mich, und mit einem Gefühl des Hasses blickte ich in diese fettgläubigen Gesichter. Wohnt denn das Glück immer nur in den engsten Gehirnen?

Er drängte mich fort von dieser intellektuellen Unschuld. Ich vergaß die Kranke, die ich hatte besuchen wollen, und fuhr nach Hause. Er, der Frank, wartete schon auf mich. Ich schrie ihn gleich an:

»Seien Sie geistreich, furchtbar geistreich. Beweisen Sie mir, daß der Messias schon auf dem Wege nach Berlin ist....«

Ich erzählte ihm mein Glaubens-Abenteuer. Er revanchierte sich mit der Anekdote von einem sterbenden Atheisten der, als ein Geistlicher ihn eindringlich zu Jesus Christus bekehren wollte, die Hand ans Ohr legend, fragte: »Wie war doch der Vorname?«

Ich fand die Anekdote geschmacklos.

Wie konnte er überhaupt wagen, mir Anekdoten zu erzählen! Er war mir für den Augenblick verleidet, bis auf seinen Vornamen, durch seine Vornamen-Anekdote. Frank, warf ich ihm vor, klänge rauh, gebieterisch, absolut. Adrian dagegen – in dem Namen läge ein zärtliches Pathos, ein Flügelschlag der Sehnsucht.

Darauf machte er eine abfällige Bemerkung über[190] Adrian, und darauf hätte ich ihm beinahe gesagt: Sie sind ja ganz dickfellig, wenn Sie nicht merken, daß Adrian Sie nicht ausstehen kann. Ich sagte aber nur, es thäte mir sehr leid, daß mein Mann keine Sympathie für ihn habe, und ich fing an, Adrian herauszustreichen. Ich machte es wie die Mütter, die erst über ihre Kinder klagen, stimmt aber der Zuhörer ein, so werden sie böse auf ihn und verteidigen, was sie eben erst verklagt haben.

Die meisten Leute, mit denen wir verkehren, suchen ihren Ton ein wenig auf Adrians Art und Weise zu stimmen. Mein Journalist denkt nicht daran. Er läßt sich, wenn mein Gatte anwesend ist, erst recht in seiner Art gehen. Es irritiert mich in Adrians Gegenwart. Ich bemühe mich, ihm seine Ungebührlichkeiten abzugewöhnen. Ohne Erfolg. Z.B. tritt jemand ein, den er nicht mag, so empfiehlt er sich mit einer unartigen Plötzlichkeit. Einem andern gegenüber hüllt er sich in verletzendes Schweigen, und zuweilen – und das ist das Schlimmste – wird er höhnisch, zornig, wenn jemand etwas sagt, das sein Gefühl oder seinen Verstand beleidigt. Und er ist so oft beleidigt. Oft mag er nicht über die Straße gehen, weil ihn der Anblick häßlicher und plumper Menschen verletzt. Bei der geringsten Berührung zucken seine Nerven schmerzhaft.

Wenn ich ihm Vorwürfe mache, lacht er mich aus. Er habe seine eigenen Sitten, nicht die des Barons von Lützow oder irgend eines Anderen. Er verlange ja auch nicht, daß Andere sich nach seinen [191] Sitten richten. Das geschmeidige Einknicken der Eigenheit zu Gunsten Anderer endige meistens bei Geßlers Hut.

Seit einiger Zeit meidet Adrian den Salon, wenn der Prolet da ist. Nur neulich, als einige Leute kamen, die ihn interessierten, blieb er.

Frank Richter machte mir ostentativ den Hof, was mir wohlthat, weil es in Adrians Gegenwart geschah. Als die anderen Gäste gingen, begleitete Adrian sie hinaus und kam nicht wieder. Nun fand ich das Kourmachen fad.

»Sprechen wir von etwas anderem,« sagte ich.

»Besseres als die Liebe, im Notfall auch nur die gesprochene, giebt es nicht.«

»Das sollen Sie mir erst beweisen.«

Und plötzlich ergriff er meine beiden Hände und riß mich empor, so heftig, daß es mir weh that. In unwillkürlicher Abwehr schlug ich nach ihm.

Er hatte mich schon losgelassen. Er verschränkte die Arme fest im Rücken, als wolle er sich selbst fesseln. Eine leise Furcht beschlich mich, die Fesseln könnten nicht halten.

Etwas verhalten Gewaltthätiges war in seinen Zügen. Seine Augen schwarz, bösflammig. Er atmete tief auf und trat ans Fenster, abgekehrt von mir. Schweigend starrte er eine Weile hinaus. In schweren, langsamen, unaufhörlichen Flocken fiel – im April – der Schnee, ein weißblumiger, weicher Vorhang, der, allmählich vom Himmel niederrollend, die Welt da draußen begrub.

[192] Als er sich mir wieder zuwandte, trug sein Gesicht einen schwermütigen Ausdruck.

»Sehen Sie, Christa, wenn ich Sie vorhin in meine Arme genommen hätte, das wäre intellektuelle Unschuld gewesen. Das heißt, wenn es Unschuld geben könnte, so lange wir Eltern haben. Schon vor der Geburt sind wir oft verurteilt.«

So bleich sah er aus und so finster blickte er, als er das sagte. Es that mir weh. Ich reichte ihm die Hand. Da wurde er gleich wieder dreist.

»Warten Sie nur, warten Sie, ich bete Sie doch noch an meine Brust, wie der Prediger Sang in »Ueber unsere Kraft« sein Weib vom Krankenlager aufbetete.«

»Aber sie starb an dem Wunder.«

»Ueber allen Wundern des Glaubens die Wunder der Liebe.«

Er sagte beten. Höchstens könnte er eine Frau an seine Brust reden.

Es scheint aber, er liebt mich nun doch. Ich wußte von Anfang an, daß es so kommen würde.

Er stand schon in der Thür, kam aber noch einmal zurück.

Uebrigens habe er sich schon längst vorgenommen, mir einmal eine Generalpauke zu halten.

Hier die Pauke, ziemlich wortgetreu, – Gott sei Dank – kurz:

Ich wäre gerade so gewohnheitsblind und taub wie alle andern. Wie sie, klammerte ich mich mit rührender Anhänglichkeit an die von Urvätern ererbten[193] Denk- und Gefühlsgewohnheiten, liebe, alte, bequeme Bekannte.

Ich wollte ihm auseinandersetzen, daß ich mich frei von Gewohnheitsvorurteilen wüßte.

Er ließ mich nicht zu Worte kommen. Er wisse, was ich sagen wolle. Natürlich gehörte ich zu den kühnen Freidenkern, die sich für ungeheuer fortgeschritten halten, wenn sie ein Mädchen, das ein Kind gekriegt hat, nicht ohne weiteres verdammen, und einen Dieb und Mörder mit der Unfreiheit des menschlichen Willens und aus den sozialen Zuständen heraus erklären, Dinge, die sich eigentlich für jeden, dessen Ethik nicht in den Kinderschuhen stecke, von selbst verständen. Zu unterscheiden aber, was in unserem Empfinden, in unseren ethischen Begriffen auf Gewohnheit und Tradition beruhe und was uns unserer Natur und Eigenheit nach zukomme, sei so schwer, als durch noch unbefahrene klippen- und sandbankreiche Meere ein eigenes Fahrzeug selbst zu steuern. Wie viel bequemer, sich von großen Schiffen, die ihre erprobten, klippensicheren Bahnen ziehen, in's Schlepptau nehmen zu lassen. Es gäbe in unserem Zeitalter nur zwei Genies, die so gefährliche Fahrten unternommen hätten. Der eine: Nietzsche. Der Andere- »ich bringe Ihnen sein Buch, wenn Sie reif dazu sind. Sie haben Geist, denken Sie über die Gewohnheitsblindheit nach. Glauben Sie, es war ein Ihrer Natur entspringender, keuscher Stolz, daß Sie mich schlugen? Sie schlugen nur aus Zorn, weil Sie »nein« sagen mußten. Mußten? Kindskopf!«

[194] Es machte mich böse, was er sagte.

»Ich möchte Sie wieder schlagen.«

»Ob das die richtige Methode wäre, hinter die Wahrheit zu kommen? Ein Schlag ins Wasser. Er löscht kein Feuer.«

Ich werde wohl künftig vorsichtiger sein müssen, damit es gar nicht erst zum Brennen kommt. Nicht, Anne Marielein? Lasse nur in Deinem nächsten Brief Adrian grüßen. Das hat er so gern.

Deine Christel.«


»Anne Mariechen! Anne Mariechen! Franks Pauke hat auf mich gewirkt, sehr sogar. Ich bin in ein unstätes, ganz wüstes Experimentieren verfallen. Meine Seelenzustände interessieren Dich wahrscheinlich gar nicht? Ich muß sie mir aber vom Halse schreiben. (Seelenzustände vom Halse schreiben – auch ein Bild.) Auf Monologe kriegt man keine Antwort. Im Zwiegespräch mit Dir, Du meine allerliebste, liebe Schwester, fällt Dir-oder vielleicht auch mir – etwas ein. Kein schreckhaftes Bild von Sais entrolle ich Dir, und ob ich mich überhaupt ganz entrolle? Das ist so'ne Sache. – Von Adrian nichts Neues. Ganz lieb und ein klein bischen steif, wie immer.

Kinder werde ich, wie es scheint, nicht bekommen. Es käme mir auch beinah unnatürlich vor. Weiß [195] nicht, warum. Ich wünsche mir auch keine. Sag's niemand, sonst heiße ich gleich ein Unweib. Für die Kinder, die ich nicht bekomme, ist's eine gute Chance. Wie und wozu sollte ich sie erziehen? Sie würden gewiß so artig, so artig geraten wie Adrian.

Also die erwähnten Seelenzustände datieren von dem Gespräch über die Gewohnheitsblindheit. Mit dieser Blindheit scheint mein Prolet recht zu haben. Ich denke darüber nach und mache Entdeckungen – kleine Miniaturentdeckungen nur – und gerate doch darüber in ein wahres Entdeckungsfieber. Höre! ich glaube eine Methode gefunden zu haben, um die Binde von meinen Augen – wenigstens zu lockern. Nämlich: ich versuche Menschen, Dinge, Zustände so zu sehen, als sähe ich sie zum ersten Mal, so einigermaßen wie ein Wilder (aber ein Wilder mit Gymnasialbildung), der im Urwald einschläft und in Berlin oder Paris aufwacht, gänzlich ohne Anempfundenes und Angedachtes, ohne erworbene Ideen. Ich schaffe das »man« ab. Statt »man sagt – man ist der Meinung« sage ich nun: »Ich.« Und bei Gott, ich fange an, die Dinge – nicht alle zwar – zu sehen, als sähe ich sie zum ersten Mal.

Merk auf: da komme ich z.B. an einem Schlächterladen vorbei. Ein frischgeschlachteter Hammel hängt draußen an einem Haken. Das Blut träufelt noch aus dem Innern des Tieres auf die Steinfliesen der Ladenschwelle. Daneben steht der Geselle mit der weißen, blutigen Schürze. Ich bleibe wie gebannt stehen. Ich sah, was ich ziemlich gleichgiltig [196] hundert Mal schon gesehen, zum ersten Mal vollbewußt, und ich sah es mit einem Schauder des Abscheus. (Am Ende würde der Wilde mit Gymnasialbildung gar nicht geschaudert haben, besonders nicht, wenn es ein Kannibale gewesen wäre.) Und von solchen blutigen Leichnamen essen wir. Ich fühlte Ekel. Ich bin Vegetarierin geworden. Das heißt, bei Tisch lege ich noch etwas Fleisch auf meinen Teller. Ich habe nicht gern, wenn Adrian mich auf den Mars schickt. Zuweilen esse ich auch noch ein paar Bissen davon. Aus einem Kotelett einen casus belli zu machen, käme mir pedantisch vor.

Ja, Frank Richter hat Recht. Darum ist das Reisen in ferne, fremde Länder so nützlich und fruchtbar. Da sehen wir alles frisch, mit neuen Augen, hören mit neuen Ohren. Gewiß könnten wir auch zu Hause uns ebenso bereichern. Die Gewohnheit aber, dieselben Dinge immer wieder zu sehen, hat unsere Sinne eben abgestumpft.

Ich laufe nicht mehr gedankenlos durch die Straßen. Ich blicke aufmerksam nach rechts und nach links, und nicht blos wegen der Gefahr, von der Elektrischen überfahren zu werden. Ich sehe die Prachtbauten der Warenhäuser – königliche Paläste. Sie sollen der Berechnung schlauer Spekulanten ihre Existenz verdanken, sollen einen unlauteren Konkurrenzkampf gegen die Kleinhändler bedeuten, die sie zu Grunde richten. Ich dachte auch hier um und ich begriff, daß es wirklich Paläste sind, die eine Königin baute: die Industrie. Die jeweiligen Besitzer sind [197] nur ihre Handlanger, wenn sie selbst es auch nicht wissen. Gewiß, sie werden die Kleinhändler aufsaugen, wie die Maschinen im Beginn ihres Zeitalters die erste Arbeitergeneration zu Grunde richteten.

Mein Blick, der früher den sausenden Zügen der Elektrischen gleichgiltig gefolgt war, sah ihnen jetzt mit Ehrfurcht nach. Auch dieser großartige Kulturbesitz wird andere Erwerbszweige vernichten. Die überflüssigen Kleinhändler werden aussterben und auch die überflüssigen Pferde.

Gewiß war auch das Talglicht (vom Kienspan gar nicht zu reden) böse, als das Oel aufkam, und das Oel war böse auf das Petroleum, als es von ihm verdrängt wurde, und nun setzt das elektrische Licht das Petroleum auf den Aussterbeetat. Wir Menschen werden ja auch, damit neues Leben Raum gewinne, vom Tod aufgesogen. Wir murren zwar – ich sehr – müssen aber doch still halten.

Gedankenspiele! Ihr habt mich ja schon ausgelacht, als ich, noch ein Kind, meine Spiele so nannte. Lache nur wieder.

An einem andern Tag sah ich einen Wagen mit Müllabfuhr vor einem Hause stehen. Männer in hohen Stiefeln, vor Schmutz starrend, Mißduft um sich verbreitend, trugen den Abhub aus den Wohnungen. Bisher war ich ihnen, mein Kleid zusammenraffend, möglichst aus dem Wege gegangen, ohne einen Blick oder einen Gedanken an die Sache zu verschwenden. Ich sah es nun zum ersten Mal. Mit [198] Neugierde blickte ich in diese stumpfen, grauen Gesichter. Und diese schwere, schauderhafte Arbeit verrichten sie Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und sie ertragen's? Und die Gesellschaft hat den Mut, sie ihnen aufzubürden, ohne ein Aequivalent? O ja, sie findet es sogar selbstverständlich, wie es selbstverständlich ist, daß der Frosch im Sumpf lebt.

Von der Politik verstehe ich rein gar nichts. Für einen Menschen gäbe es da gewiß auch viel Erstaunliches, Ungeheuerliches.

Ich war neulich im Reichstag. Eine stürmische Sitzung. Wie redeten denn diese vom Volk Auserlesenen! Sie redeten mit Fäusten. Sie spieen Gift und Galle gegeneinander, und ihre gegenseitigen Beschimpfungen fanden nur an der Glocke des Präsidenten eine Schranke. Ist das Volk wirklich so wahnsinnig gewesen, solche Interessenpolitiker, solche Verräter, Schufte u.s.w. zu wählen? Und sind sie es nicht, warum taxieren sie sich gegenseitig so? Man hat mir gesagt, das wäre gar nicht so böse gemeint, in den Frühstückshallen drückten sie sich freundlichst die Hände. Alles nur Parteimanöver. Zweck: die Wahrung der Heiligtümer der Nation. Warum wollen diese Jesuiten denn die andern Jesuiten nicht ins Land lassen? Und die frommsten Parteien, sie sind nicht die faulsten im Schimpfen.

Weißt Du, Anne Marie, was ich im Reichstag einführen würde? Vor jeder Sitzung müßte eine Stelle aus der Bibel gelesen werden, die eine Quintessenz von Christi Lehre von der Brüderlichkeit enthält.[199] Oder: an den Wänden müßten solche Sprüche stehen – mattfarbig. Eine elektrische Leitung könnte sie mit dem Präsidentensitz verbinden, und wenn einer der Auserwählten sich so recht bruderfeindlich aufführte, zöge der Präsident die Strippe, und der passende, den Bruderfeind zur christlichen Ordnung rufende Spruch müßte – ein flammendes Menetekel – an der Wand sich zeigen. Zum Präsidenten aber wäre der Weiseste und Beste der Parlamentarier zu wählen, einer, der Ethiker ist vom Scheitel bis zur Sohle. Sollte sich unter den 396 Abgeordneten nicht ein einziger wahrer Christ befinden?

Ach – ich wäre es nicht. Im Gegenteil, wie oft, oft müßte auch einer für mich die Strippe ziehen und mir leuchtende Menetekels an die Wand malen.

Ich sehe mich ja auch selber neu. Die Gewohnheit hat uns auch gegen unser eigenes Selbst abgestumpft. Wir kennen uns ja von Geburt an. Wir sind uns nicht mehr interessant. Wir sind aber interessant.

Ich sehe, daß ich dabei war, mich immer mehr dem Adrian anzupassen. Ich fing schon an, mich nach sei nem Geschmack zu kleiden, zuweilen war ich von Frau von Bracht nicht mehr zu unterscheiden. Ich beobachte mich. Alle Augenblicke rufe ich mich an: »Du lügst ja schon wieder! Da unterschlägst Du ja Deine Meinung, blos um nicht aus dem Rahmen zu fallen, Du redest ja immerzu, auch wenn Du nichts zu sagen hast, Sprechmaschine Du, die von sich giebt, was man in sie hineingefüttert hat.« Und oft überrasche [200] ich mich bei einer grinsenden, einladenden Liebenswürdigkeit allen möglichen unangenehmen Leuten gegenüber.

Und diese Baronin Adrian von Lützow nannte Vater einmal Madam Abseits. O Vaterchen, Vaterchen, sie hat elend eingepackt. Sie war im begriff, in der Ehe zu versimpeln.

Und die Ehe sehe ich nun auch neu. Verheiratet sein! nach alter Denkgewohnheit heißt's: Zwei sollen eins sein! Seltsamste, wundergläubigste Vorstellung! Barer Unsinn wär's in der Mathematik, und ist's auch sonst. Ja, mein Gott, warum sollen denn zwei eins sein, die vielleicht, wie Adrian und ich, so grundverschieden von einander sind? Siehst Du, Anne Marie, ich glaube an diesem Einsseinsollen scheitern so viele Ehen, wenigstens diejenigen, in denen die Frau eine Individualität ist. Und ist es nicht urkomisch (ulkig würde Dietrich sagen), daß die dezidiertesten Weiblichkeitsschwärmer, diejenigen, die das Einssein der Gatten als die vornehmste sittliche Eheforderung aufstellen, in demselben Atem die weitgehendste intellektuelle – und Seelenverschiedenheit von Mann und Weib zu einem Naturgesetz stempeln?

Sage, warum verkünstelt, verschraubt und kompliziert man Zustände und Beziehungen, die so einfach sein könnten?

Ich kann mir vorstellen, daß ich einen herzgütigen, bibelfrommen, einfachen Landpastor lieben und [201] heiraten könnte, mit all meinem Radikalismus. Teilte ich auch seine Ansichten, seine Weltanschauung nicht, es bliebe wohl noch so viel, so viel an ihm zu lieben. Aber eins mit ihm sein! Das käme mir wie eine Mißgeburt vor, etwa wie ein Kalb mit einem Hasenkopf, das man für Geld zeigt, oder wenigstens wie die siamesischen Zwillinge, bei denen ein physiologisches Malheur zusammenfügte, was Gott getrennt haben wollte.

Die Zweiheit in der Ehe wird die Parole der Zukunft sein. Ueber der Pforte der »Neuen Ehe«, die die Heißsporne der Frauenbewegung so begeistert verkünden, werden die Worte stehen: Ich bin ich und Du bist Du, eins sind wir in der Liebe.

Vielleicht wäre meine Ehe mit Adrian glücklich geworden, wenn er mich nicht durchaus so hätte haben wollen, wie ich nun einmal nicht war und nicht sein konnte. Ich fühle immer den Zaum, mit dem er mich zügelt, und schiebe ich ihn bei Seite, so schmerzt die Stelle noch, wo er gedrückt.

Sage, Anne Marie, ist das nicht auch eine merkwürdige Sitte, daß Mann und Frau so nah beieinander schlafen, daß ihr Atem sich berührt. In vielen Ländern sogar in einem Bett. Selbst in ganz schlechten Ehen, die voll Hader und Zank sind, ist es so. Erinnert das nicht an die groteske mittelalterliche Strafe für alte, zänkische Weiber, deren Köpfe man in ein Doppelbrett klemmte, und zwar so, daß sie sich in nächster Nähe immer in die Augen sehen mußten?

Adrian und ich, wir zanken und hadern nicht, [202] und ich habe mich doch an diese enge Gemeinschaft nicht gewöhnen können.

Ich benutzte einen Influenzaanfall, um mir ein anderes Schlafzimmer einzurichten. Und dabei blieb es denn. Ich wußte, daß er kein Wort darüber verlieren würde. Habe ich nicht recht?

Dein Christelchen.«


»Na ja, Du herzliebe Kleine, habe ich's nicht gleich gesagt? meine Seelenzustände sind Caviar für Dich. Ich lese es ja zwischen den Zeilen aus Deinem letzten Brief heraus, daß Du so ein bischen heiteren Gesellschaftsklatsch möchtest, weil es Dir doch so traurig geht. Aber Anne Mariechen, nehme ich das Gesellschaftstreiben in die Feder, giebt's gleich Bosheiten, das heißt, eigentlich sind's gar keine Bosheiten, eher das Höhnen eines Ernsthaften über Allzunärrisches.

Ich übersehe das Wochenrepertoire meiner häuslichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, und mir graust's. Jeder Tag ist bis zum Rande gefüllt. Eine wahre Jagd, aber nicht nach dem Glück. Zu A.'s muß ich gehen, weil die Spitzen der Diplomatie dort sind. Adrian will es. B.'s sind nicht zu umgehen, weil wir da schon zweimal abgesagt haben. Eine [203] dritte Absage verbietet der Anstand. In das Komité für Hauspflege muß ich eintreten, weil die hervorragendsten Gemahlinnen aus den oberen Zehntausend dabei sind. Adrian will es. Dieses oder jenes Konzert, dieses oder jenes Theater darf ich mir nicht schenken – na ja, eben weil alles da ist, was ein bischen was ist.

Sogar bei Thalheim's muß ich ab und zu eine Einladung annehmen, Mama will es, weil der Herr, der durchaus nicht Kommerzienrat werden will, ein so nahrhafter Klient vom Vater ist. Und schlage ich einen Schriftstellerinnen-Kaffee bei Julia aus, so legt sie es mir als Hochmut aus. Da läßt man hilflos die Arme sinken. Die Sklavin der Welt, wie sie leibt und lebt, das bin ich.

Siehst Du, Anne Marie, wenn ich mich frage, was ist eigentlich der Kern dieses Gesellschaftslebens, so finde ich nur zweierlei: Eitelkeit und Erotik. Eitelkeit, das ist zwar ein gefräßiges, aber meist doch ein gutmütiges Ungeheuer, es frißt aus der Hand, nährt sich bescheiden wie die Flamme von allem, was man ihm hinwirft, auch von Unrat. Es beißt selten, was die Erotik oft thut.

Die Vorstellung, jahrein, jahraus, bis ich mit dem Kopf wackle (obwohl ich mir vorgenommen habe, nie damit zu wackeln), diesen eleganten Schlendrian mitzumachen, kommt mir ganz verwunderlich vor. Zugeben muß ich freilich, daß ich mich zuweilen amüsiere, entweder wenn ich aus purer Langeweile mich verstelle und kokett thue, wo man mir dann [204] rasend den Hof macht, oder wenn Geister à la Bracht oder Adelheid Thalheim ihre tiefsten Gedanken aussprechen. Das amüsiert, wie wenn man die Fliegenden Blätter oder den Simplicissimus liest. Die Bracht bringe ich gern – aus Bosheit – auf Litteratur. Sie sagt dann so hübsche Sachen. Einen sehr guten Roman fand sie miserabel, weil ein Atheist darin vorkäme. Ueber Fontanes Effi Briest brach sie gänzlich den Stab. Warum? darauf kommst Du nicht. Weil doch keine Frau so dumm sein würde, die Briefe ihres Liebhabers in ihrem Nähtischchen aufzubewahren.

Und ihre Entrüstung über Hauptmanns Fuhrmann Henschel! Einem für einen ganzen Abend Fuhrknechte zuzumuten – dégoûtant.

Zu Thalheim's gehe ich übrigens nicht ungern. Als Tischherr ist er mir geradezu angenehm. Er reißt so kindliche Witze und erschrickt dann immer selbst so drollig darüber, und kein Mensch hat Respekt vor ihm, selbst die Diener nicht. Neulich, in einer Gesellschaft, winkt er einem Lohndiener, der eine Languste präsentiert: »Nur heran mit der langen Juste,« worauf der Lohndiener äußert: Gerade so habe er sie eben auch in der Küche genannt. Und nachher, als er ihm den Braten reicht, sagt er: »Fasan.« Sein sechzehnjähriges Töchterchen wetzte einigermaßen die Scharte des Papas aus, indem sie einen anderen Diener, der Champagner eingoß, fragte: »Welche Marke?«

Frau Adelheid – Du weißt, sie ist Jüdin – [205] ist so stolz auf ihren Verkehr, weil nämlich fast ausschließlich – Du denkst: Christen bei ihr verkehren? nein, höher hinauf – fast nur Antisemiten. Die Sorte scheint sie für noch viel vornehmer zu halten als den gemeinen Arier. Ach, ich vergaß, sie sind ja garnicht mehr Juden. Sie haben sich kürzlich taufen lassen, obwohl die boshafte Bracht meint, er mauschele noch so mit Armen und Beinen, daß der protestantische Pfaffe, der ihn taufte, ein Stümper gewesen sein müsse. Bei solchen Witzgelegenheiten vergißt die fromme Dame ihre Frömmigkeit. Gelegentlich einer Komiteesitzung zu einem Wohlthätigkeitskonzert stellte es sich heraus, daß sie sich in das Komitee hatte aufnehmen lassen, ohne zu wissen, wem die Wohlthätigkeit galt. Sie trat dann freilich wieder aus, aber nur, weil eine Breslauer Jüdin dabei war. Das »Breslau« betonte sie so stark, daß man annehmen mußte, sie hielt Breslau dabei für einen erschwerenden Umstand. Ueberhaupt bei jeder Gelegenheit stichelt sie auf Jehova, als auf den persönlichen Feind des einzigen und wahren, des »von Brachtschen« Gottes.

Als ich am vorigen Montag ihren Jour besuchte, schämte sie sich so vor mir, daß sonst niemand kam, und war dann noch viel beschämter, als zur späten Stunde doch noch eine Dame erschien, aber leider nur eine ganz nebensächliche, einfache Kaufmannsgattin. Als die, durch den kühlen Empfang geniert, bald wieder ging, suchte Frau von Bracht ihr in meinen Augen dadurch ein Relief zu geben, [206] daß sie von ihrem Sohn erzählte, der sich unter tragischen Umständen erschossen habe.

Neulich auf einem glänzenden Rout bei dem amerikanischen Gesandten schenkte mir eine der feinsten Excellenzen die Ehre einer Unterhaltung. Ganz alt war sie, gewesene Beauté, grinsend, sehr gefärbt, sehr dekolletiert, hofdamenhaft. Die Unterhaltung verlief ungefähr so: »Ihr Gatte ist Offizier?« »Nein, Legationsrat.« »Ah, das einzig mögliche Civil für uns. Die wegen ihrer Verdienste in Kunst und Wissenschaft Geadelten zählen nicht.«

Sie teilte mir auch mit: auf das erste Fest der Künstler- und Schriftstellervereinigung habe sie nur ihren Mann geschickt, der sich überzeugen sollte, ob »man« hingehen könne. Auf dem zweiten war sie dann. »Da war Graf Brucks mit Frau, wissen Sie, der Fredi, und auch zwei Minister waren da, sonst allerdings niemand.« – Es waren 200 Menschen anwesend. Nein, Anne Marie, daß es das noch giebt, zu amüsant oder zu deprimierend.

So! mehr Klatsch weiß ich wirklich nicht. Werde wohl auch kaum mehr welchen ansammeln, da ich, Vaterchen nachschlagend, entschlossen bin, mich zum Meidegast auszubilden. Nein, Anne Marie, im Gesellschaftsleben kann man seinen Charakter nicht verfeinern, nicht ethisieren. Und das möchte ich doch gern, sehr gern. Fürchte nicht, daß ich gleich Uebermensch werden will. In meinen Ethisierungsbestrebungen ist feine Selbst- und Genußsucht. Mißmut, Gereiztheit, Aerger schadet uns selbst ja am [207] meisten. Merke ich, daß diese bösen Geister Besitz von mir nehmen wollen, so lese ich schnell Verse von Stefan George, oder ich lasse meine Hände in einem seidenweichen Wagalaweia über die Harmoniumtasten gleiten, und sieh – da liegt meine Gereiztheit wie in goldenen Netzen eingewiegt, und über meine Zornwogen rinnt's wie Oel.

Mitunter braucht's auch nur eine Blume zu sein, die ich aus einer Vase nehme und deren stille Schönheit mich beschämt. Meinst Du, Baldriantropfen thäten's auch? Ja, ja, aber die wirken so physisch (mir liegt das Psychische mehr) und sie riechen auch so giftig.

Ich komme vielleicht heute gerade auf so etwas, weil ich geärgert worden bin – von Adrian. Erstlich bin ich überhaupt böse auf ihn, weil ich um seinetwillen die Universität aufgegeben habe. Ich hätte es Dir schon geschrieben, ich schämte mich aber. An seinem passiven, zähen Widerstand bin ich gescheitert. Etwas thun, wozu ein Anderer immer scheel sieht, das geht über meine feinen Nerven. Und noch etwas – gestern ereignete es sich. Daß die liebreizende Urahne – Adrians Großtante – ganz leer ist, hatte ich längst gemerkt; ihre so graziös hinschleppenden Atlasgewänder aber hatten mich fasziniert, ihre schlanke Anmut auch. Zu allen Nichtigkeiten, die sie vorbrachte, hatte ich stets verbindlich gelächelt und »Ja« gesagt. Als sie aber nun gestern wieder einmal so recht fossil Ahnenhaftes, ärgerlich Thörichtes vorbrachte, da lächelte ich nicht verbindlich [208] und sagte nicht ja, sondern nein. Und als sie ging, küßte ich ihr nicht die Hand, was ich um so lieber unterließ, da ich mir schon einigemal an ihren blitzenden Ringen die Lippen verletzte.

Ich hatte aber ein unbehagliches Gefühl, als sie so erstaunt aussah und mich etwas eilig verließ.

Adrian sagte mir nachher, seine verehrungswürdige Großtante fände mich überreizt und riete mir, etwas für meine Nerven zu thun. Er bäte mich, nie die Rücksicht, die ich ihrem Alter und ihrem Stand schulde, aus den Augen zu lassen.

»Ach, sie ist so langweilig und so leer.«

Und er, mit dem feinen, leisen Lächeln, wie er es lächeln kann: »Dein Prolet (das »Dein« betonend) hat Dich verwöhnt.«

Bei Tisch sprach er kein Wort. Er war böse. Er blickte nur beim Essen mit einem eigentümlichen Ausdruck auf meine Hände. Ich wußte gleich, er fand etwas in meiner Handhabung von Messer und Gabel, das auf den Mangel hoher Ahnen schließen ließ. Das reizte mich. Und ich sagte in einem lebhaften Ton irgend etwas, das ihn auch reizen konnte. Darauf er, auffallend leise: »Sprich nicht so laut.« Es war, als hätte mir jemand zugerufen: »Pöbel.« Thränen schossen mir in die Augen. Ich ließ das Essen im Stich und ging aus dem Zimmer.

Anne Marie, wenn ich nun wirklich ein gräßlicher Plebejer wäre! Kann ich's wissen?

Er hat so spitze kleine Dolche. Ich hätte wohl keinen Aristokraten heiraten sollen. Die bringen zu [209] viel Vergangenheit mit, und ich und meinesgleichen, wir tragen zu viel Zukunft in der Brust.

Um meiner Zornwallung Herr zu werden, hätte einer Blume stille Schönheit nicht genügt. Ich nahm einen Wagen und fuhr zum Nationalmuseum. Zu den Böcklins wollte ich. Aus der unseligen Verärgertheit heraus zum »Gefilde der Seligen«. Als ich an's Museum kam, war es – ich hätte es wissen können – längst geschlossen. Es fing an zu tröpfeln. Ich trat unter den bedeckten Säulengang, der das Museumterrain nach der Spree zu abschließt. Ich war dort nie gewesen. Du gewiß auch nicht. Ein ganz verwunderliches, wie verschollenes Klein- und Stillleben bot sich meinen Augen. Jenseits der Spree sah es aus, als wäre die Welt dort mit Brettern vernagelt.

Schwärzliche, invalide Kähne ruhten träge auf dem Wasser, mit Stricken, Steinen und allerhand Handwerkszeug angefüllt. Am Ufer schüchterne, halb schon im Keim erstickte Versuche von Vegetation: ein wenig vertretenes Gras, trockenes, verstaubtes Gesträuch. Dazwischen kleine, sonderbare, barackenartige Häuschen, der Putz abgebröckelt, mit plumpen, kleinen Holzthüren. Einige hatten einen Giebel, der von vier Säulchen getragen wurde, als hätte die Museumsnachbarschaft sie zu etwas Künstlerischem angestachelt. Hinter einem lückenhaften Bretterzaun ein kleiner Platz für Ablagerung von Steinen. Auch ein paar häßliche Hinterhäuser lagen in meinem Gesichtskreis, und ein schmutziges, verwittertes Höfchen [210] mit einem Durcheinander von Trottoirplatten, Schuppen, Brettern, Steinen, Gipsscherben. Alles verärgert wie ich selbst, eingerostet, verschollen, als wäre diese große Rumpelkammer unter Gottes freiem Himmel seit Hunderten von Jahren hier vergessen worden.

Mit den Böcklins war es also nichts. Vielleicht das Theater? Sieben Uhr. Noch reichlich Zeit. Das Residenztheater ist nicht weit. »Die Dame von Maxim«, das äußerst frivole Stück paßte mir gerade. Es war Adrian ganz recht. Ich fuhr hin. Es war schon dämmerig. Laternen und Bogenlampen brannten noch nicht. Gewöhnlich fährt man, sich ausruhend, gedankenlos durch die Stadt. An dem Tage frappierten mich die Bilder von sinnverwirrender Buntheit, die in diesem geräuschvollen Stadtteil an mir vorüberglitten, wo das Aelteste und Neuste in Bauart und Straßenlinien zusammenstoßen. Neben palastartigen Gebäuden Baugerüste und ärmliche Häuschen, die an das einstige Schifferdorf erinnerten. Graue, ernste, altertümliche Häuser und neue, häßliche, lange Fabrikgebäude, denen man es von außen abliest: »Hier wird geschuftet.« Könnte man den Façaden dieser Häuser nicht einen, wenn auch noch so billigen Schein des Schönen geben, den Adel der Arbeit zu symbolisieren?

Neben Schnapsbutiken Läden voll prangender Blumen. Schwerfällige Lastwagen, Omnibusse, Pferdebahnen, elegante Equipagen. Von der Brücke aus blickte ich auf die Spree mit ihrem emsigen [211] Schiffstreiben. Und im Zwielicht erschien mir diese ungeheure Menschenmenge, die da in den Straßen auf- und abrannte, fast spukhaft, sinnlos, ein Füllsel der Großstadt. Und über dem Häuser- und Menschengewirr stieg die rosige Mond empor, und die leuchtende Vornehmheit des stillen Gestirns über dem durch- und ineinanderhastenden Ameisengewimmel war wie eine wundermilde Gebärde Gottes, die all meine Verärgertheit, das Kribbeln und Krabbeln im Gehirnchen fortzauberte. Wirklich, Anne Marie, man sollte nur öfter in den Himmel sehen, die Seele folgte wohl den Augen.

Noch ehe ich an die Blumenstraße gelangte, ließ ich den Wagen umkehren. Wie kleinlich, Adrian kränken zu wollen. Und aufrichtig gesagt, es wäre mir auch wahrscheinlich sehr ungemütlich gewesen, so allein – in der Dame von Maxim.

Addio, Schwesterchen.«


Christa erhielt einen Brief von Anne Marie.

»Liebste Christel!


Ein Unwohlsein – nicht der Rede wert – fesselt mich ein paar Tage an's Bett. Bei dieser Thatenlosigkeit am hellen lichten Tage im Bett kriegt auch der Gesundeste Testamentsgedanken. Bin ich wieder die Gesundeste, so komme ich zu Euch. Ich käme so [212] gern, so gern, wenn – – Ach, Ihr seid ja nicht glücklich, Ihr Bösen. Zwischen Euch steht ein Schatten. Ich kenne ihn, ein blasser, dünner Schatten nur. Er soll fort. Es muß klar werden zwischen Euch. Glücklich sollt Ihr sein (womöglich selig). Daß meine Hände, die ich segnend über Euch strecke, ein bischen mager geworden sind, wird dem Segen nichts schaden.

Zeige Adrian diese Zeilen. Er soll Dir alles, aber alles sagen. Ich will's.«


Christa, nachdem sie den Brief gelesen, stützte den Kopf in die Hände und starrte auf das Papier. Sie zweifelte nicht, Adrian liebte Anne Marie. Hatte sie es nicht immer gewußt? es vielleicht nur nicht wissen wollen?

Mit dem Brief in der Hand ging sie in sein Zimmer.

Das Fenster stand offen. Im Kamin brannte ein Feuer. Ein kühler Frühlingstag war's. Sie gab ihm den Brief.

Sie beobachtete ihn, während er las. Er blieb scheinbar ruhig, nur las er viel zu lange an den wenigen Zeilen.

Er sinnt über das, was er sagen soll, dachte sie.

Langsam legte er den Brief bei Seite. Dann [213] ging er im Zimmer auf und ab, und im Gehen sagte er zögernd, unsicher, mit unterdrückter Bewegung:

»Frage!«

»Du hast Anne Marie geliebt?«

»Ja.«

»Du liebst sie noch?«

»Ja.«

Er blieb am Fenster stehen mit verfinstertem Gesicht. Diese Scene war ihm entsetzlich. Er zerknitterte mit einer zornigen Gebärde den Brief in seiner Hand.

»Du warst ihr Geliebter?«

»Nein. Niemals.«

Christa zweifelte nicht einen Augenblick. Sie wußte, er log nicht.

»Ich weiß, wie Anne Marie auf diesem Gebiet denkt, und – Theodor. Du hättest es sein können.«

Adrian schwieg.

»Du, Du wolltest es nicht.«

»Es liegt nicht in den Traditionen unserer Familie, durch Hinterthüren fremdes Gehöft zu beschleichen und zu stehlen.«

»Warum ließ sich Anne Marie nicht scheiden?«

»Aus Güte. Es wäre der Tod ihres Gatten gewesen. Sie hat es oft genug ausgesprochen: Sie liebt Theodor wie ihr Kind.

»Warum hast Du mich geheiratet?«

Adrian zuckte zusammen. Er ertrug dieses Examen nicht länger. Er suchte nach seinem Hut, fand ihn nicht gleich.

[214] Christas Herz begann wild zu schlagen. Ihre tiefe Erregung gab ihrer Stimme einen starken, gebieterischen Ton:

»Warum hast Du mich geheiratet?«

Und wie ermattet antwortete er, wider Willen, leise: »Sie wollte es.«

»Ohne Liebe, aus Gefälligkeit gegen Anne Marie hast Du mich zu Deinem Weibe gemacht.« Alles Blut schoß ihr in's Gehirn. »Du – Du –«

Sie wollte sagen: Du hast mich prostituiert, aber nur stammelnde Laute kamen von ihren Lippen. Er stand dicht vor dem Kamin, sie fühlte ein wildes, schier unbezähmbares Verlangen, ihn hineinzustoßen in die Flammen. Mit geballten Händen trat sie einige Schritte zu ihm heran und – – plötzlich lag sie in seinen Armen, schluchzend, sich auflösend in einem namenlosen Weh. Er preßte sie an sich, und seine Lippen erstickten ihr Schluchzen. Der Sturm in ihrer Brust wehte sie zusammen. Durch das Fenster rieselten rosenrote Mandelblüten auf sie nieder.

War das Anne Maries Testament?


Später in ihrem Zimmer blieb sie lange wie betäubt. Wie? das war die Antwort gewesen auf eine tötliche Kränkung? War sie wie die russischen [215] Bäuerinnen, deren Zärtlichkeit durch die Knute des Gatten angefeuert wird? Sagt man nicht, daß Grausamkeit und Wollust verwandt sind! Ja, in der Wollust ist auch etwas Zerreißendes, ein Vernichtenwollen.

Ihr war, als wäre an irgend jemand ein Ehebruch oder ein Liebesbruch begangen worden.

Von Adrian an Anne Marie? oder von ihr an – ihre Gedanken huschten an dem Namen vorbei.

Im Augenblick der Leidenschaft hatte er ein Wort geflüstert. Sie hatte es nicht verstanden. Wie eine heiße Liebkosung war's gewesen. Sie sann. Ihre Augen wurden starr. Mit einem Mal wußte sie das Wort: »Anne Marie!«

Die Glut, die in ihr noch nachgezittert, erlosch. Sie fröstelte. Ihre Lippen fingen an zu brennen. Die Erinnerung an den Vergifteten im Tiergarten wurde wach. Sie hüllte sich in ihren Mantel und ging hinaus in den erleuchteten Tiergarten. Es war schon ganz einsam dort.

Durch den Schleier bildeten all die elektrischen Bogenlampen flimmernde Kreuze. Sie wandelte durch eine Kreuzallee. Schlug sie den Schleier zurück, so verschwanden die Kreuze und verwandelten sich in große stille Monde, die von allen Seiten den Dahinwandelnden mit sanfter Feierlichkeit grüßten. Ueber der breiten Bellevue-Allee hingen die Lampen quer über dem Weg in der Luft – Riesenperlenschnüre.

[216] Die vornehme Villenstraße begrenzt auf der einen Seite den Park. Die elektrischen Birnen in den Zimmern und die Laternen vor den Portalen durchglühten mit ihrem rötlichen Licht die schwarzen Baummassen und schufen einen Zauberwald aus dem bei Tageslicht so korrekten Tiergarten.

Das Standbild der Königin Luise mit der steinernen Rose an der Brust war fast taghell beleuchtet. Der Rasen davor sah unnatürlich grün aus, giftig grün.

Auf der kleinen Brücke nahe dem Denkmal blieb Christa stehen und sah hinab in den schwarzen Teich. Gerade in die Mitte des Teichs fällt der Reflex einer jenseits aufgehängten Flamme – ein Stern, der aus der dunklen Tiefe heraufschimmernd geheimnisvoll lockt. Und immer gleiten über den Teich zwei Schwäne, lautlos – stolz.

Sie neigte sich über das Gitter, und die ganze Melancholie der Welt starrte sie an aus dem schwarzen Wasser mit den zwei weißen Schwänen.

Und der Chor der stillen Monde begleitete die Elegie in ihrem Herzen.

Mit Bitterkeit, fast mit Ekel sann sie: was ist die Liebe! Niemand hat sie je definieren können. Der Vater nannte sie »das psychologische Zentralmysterium«. Adrian liebte sie aus Gefälligkeit gegen Anne Marie, sie ihn in eifersüchtigem Haß.

Unmeßbar, unwägbar, die erotischen Attraktionen. Vielleicht ist ihre Erklärung so einfach, daß [217] der Stolz auf unser hohes Menschentum sich gegen diese nüchterne Einfachheit sträubt. Vielleicht sind sie nichts, als die magnetische, zaubergewaltsame Wirkung physischer Emanationen – Ausströmungen – des einen Menschen auf den andern. Reichenbach hat das »Od« entdeckt. Od nennt er diese Ausströmungen, und er beweist an zahllosen Sensitiven ihre anziehende oder abstoßende Wirkung. Es schien ihr durchaus möglich, daß man einen Menschen, dem man eigentlich gar nicht gut ist, in einer gegebenen Stunde rasend lieben kann. Eine kopf- und herzlose Liebe, geboren aus der Werdekraft drängender Frühlingssäfte. Kein Singen und Sagen – ein Schrei der Liebe. In Frühlingsschauern der Natur umarmt Semele einen Schatten. Das vielleicht ein Symbol der Liebe?

Ja – nie möchte sie ein Kind anders als in der Ekstase des Frühlingsrausches empfangen.

Und der, der die Liebe beschränken will, beschränkt er nicht die Entwickelung der Menschheit?

Und plötzlich fiel ihr etwas schwer auf's Herz. Ein dumpfes Ahnen. Sie lief, lief, als wollte sie einer beängstigenden Vorstellung entrinnen.


[218] Als sie nach Hause kam, war eben eine Depesche eingetroffen: Theodor Stern war tot. Gotthold Ruland konnte wegen eines wichtigen Prozesses nicht abkommen. So verstand's sich fast von selbst, daß Adrian Frau Harriet nach Tirol begleitete. Noch am Abend reisten sie ab. In der großen Erregtheit, die das Ereignis und das voraussichtliche Wiedersehen mit Anne Marie mit sich brachte, nahm er nur einen flüchtigen und befangenen Abschied von Christa.

Fast unmittelbar nach dem Begräbnis kehrte er mit Frau Harriet zurück. Die Mutter hatte bei ihrer Tochter bleiben wollen. Anne Marie hatte es nicht gelitten. Sie brauche vorläufig absolute Einsamkeit. Sie wolle auch keine Briefe von zu Hause, auch von Christa nicht, nichts, nichts, nur Ruhe.

Sie hatte sich geweigert, Adrian zu sehen. Er kam verdüstert zurück, in tiefer Trauer, als käme er vom Begräbnis einer geliebten Person. Er hatte auch etwas begraben. Christa ahnte, was in ihm vorging. Anne Marie war frei, er nicht.

Die Brücke, die sich zwischen ihr und ihm zu bilden schien, war wieder abgebrochen.

Es giebt wenig Verhältnisse im Leben, dachte sie, die einen Stillstand vertragen. Vorwärts oder rückwärts. In unserer Ehe hätten wir uns allmählich näher kommen müssen, oder wir mußten uns mehr und mehr voneinander entfernen. Das letztere ist geschehen. Er merkt es wohl kaum. Und merkt er es [219] endlich, und er ruft mich vielleicht zurück, so bin ich möglicherweise schon zu weit von ihm fort und ich höre seinen Ruf nicht mehr.

Daß es Frank war, der sie weiter und weiter von Adrian fortlockte, gestand sie sich nicht ein.


Frank kam nun fast täglich. Meist in der Dämmerstunde zum Thee. Er suchte Christa in politische Gedankengänge einzuführen und für seine ehrgeizigen Pläne zu interessieren. Bald war sie ganz bei der Sache. Er wollte sich in den Reichstag wählen lassen. Seine politischen Aufsätze machten seit einiger Zeit Aufsehen, erregten, je nachdem, begeisterte Zustimmung oder Entrüstung. Hervorragende Persönlichkeiten erkannten seine ungewöhnliche politische Capacität, waren aber weit entfernt, ihm als Politiker Geburtshilfe zu leisten. Er hatte kein geschlossenes Parteiprogramm. Er sah sich als Führer einer Partei, die erst noch zu gründen war. Eine radikale Partei mit Hinzuziehung des rechten Flügels der Sozialdemokratie. Der linke stieß ihn ab. Nicht weil er zu radikal war, aber wegen seiner starren Dogmatik und weil er ab und zu noch mit Schlagwörtern und Phrasen operierte. Das haßte er. Daß seine Chancen gering waren, wußte er. Weder [220] Talent zur Intrigue, noch Geschmeidigkeit, noch Freunde, noch Konnexionen standen dem Einsamen zu Gebot. Reüssierte er nicht, so sollte der zweite Plan zur Ausführung kommen. Die Gründung eines großen politischen Blattes. Eine Zeitung, rein, vornehm gehalten wie eine Tempelhalle, aus der er das schachernde Gesindel fortgeißeln würde.

»Ha, ich verstehe, Herkules reinigt den Augiasstall der Presse.«

Sie liebte es, Frank ein wenig zu ironisieren. Er ließ es sich gern gefallen, wie der Löwe das Spiel eines Kätzchens, und rächte sich dann dafür durch irgend eine heimlichleise Liebkosung.

Er setzte ihr auseinander, welch eminenten Einfluß eine solche Zeitung auf die Kulturwelt gewinnen könne, in einem Zeitalter, wo die Presse eine kaiserliche Macht sei.

Christa blinzelte ihn schelmisch an. »Hm! eine Kaiserin absolut, wenn – u.s.w. Wofür mußten denn Euer Gnaden brummen?«

Er zuckte zusammen.

»Wir werden die Kunst lernen, den Dolch unter Blumen zu verbergen.«

»Gott! ich glaube, Sie denken sich schon verschiedene Dolche aus und vergiften sie noch obendrein. Ihr Temperament ist Ihr Feind. Immer gleich wollen Sie unter Säulen Philister begraben – Simson Sie!«

»Den liebte Dalila.«

[221] Seine Augen waren blau geworden und weich ihr Blick.

»Aber Frank, wir reden doch Politik.«

Sie erwogen gemeinsam, ob sie beide vielleicht als Redner auf einem Wanderzug durch Deutschland Propaganda für ihre Ideen machen sollten, was gleichbedeutend gewesen wäre mit den vorbereitenden Schritten zu einer Reichstagskandidatur.

Christa war Feuer und Flamme für den Plan.

Die Idee der Volksrednerin tauchte in ihr wieder auf. Bald aber ließ sie den Kopf hängen. Ihr Wissen würde nicht ausreichen. Sie hatte ja so bald die Studien wieder aufgegeben. Und dann – sie sagte es nicht ganz ernsthaft – müßte sie nicht vorher ihrem Mann und der Ehe entlaufen? Na, vielleicht thäte sie es auch.

Etwas lag in ihrem Ausdruck, das dem Ernst des Gegenstandes nicht entsprach.

Er sah sie an. Sie lag hintenüber in einem Fauteuil, das ganze zartgliedrige Persönchen im weißen, fließenden Gewand, in den dunklen Sammet hineingeschmiegt. Ein holdes Tanagrafigürchen mit dem entzückend geistreichen Profil, dem weichen Mund und den träumerischen Augen. Eher eine asketisch angehauchte Muse als eine draufgängerische Agitatorin, dachte er.

Er nahm ihre Hand, küßte die feinen Finger – an dem einen trug sie einen Ring mit einem Rubin – und schüttelte langsam und lächelnd den Kopf. [222] »Sie ermachen's nicht, Tanagrapüppchen! Wer sich das Morphium abgewöhnen will, stirbt leicht an der Entziehungskur. Unsere Einkapselung in die Gesellschaftsordnung mit ihrem Zubehör von Gesetzen und Kodexen ist eine Art Narkotisierung. Ja, wenn Sie ein Herkules von Charakter, oder ein halbtotgepeinigter, rachedürstender Simson wären (mit dem mich zu vergleichen Sie eine so ausgesprochene Neigung haben), dann ließe sich über die Sache reden. Also – lieber auf die Eselsbrücken! zu den Kompromissen! Die Gesellschaft selbst scheint ja die Gesetzesbande, in die sie z.B. die Liebe, die freiheitsüchtigste und beflügeltste aller Wesenheiten, hineingeknechtet hat, als ein Naturwidriges zu empfinden. Drückt sie nicht beide Augen zu, wenn wir auf Schleichwegen, durch Hinterthüren ins Freie gelangen wollen? Eine große Schmuggelgesellschaft, die Kulturwelt.«

»Schmuggeln die Adelsmenschen auch, Frank?«

Die Frage reizte ihn sichtbar. Mit einer souveränen Gebärde, als wäre, mit der Erdkugel Ball zu spielen, ihm eine Kleinigkeit, sagte er voll Hohn:

»Um dieser Welt willen ein Martyrium auf sich nehmen! Wer ist sie denn, diese Welt! die Menschheit hat ihren Größenwahn wie der Einzelne, den Wahn, daß sie um jeden Preis existieren muß. Warum muß sie denn? Sie hält sich für das enfant gâté des Weltalls, und ist vielleicht nur ihr enfant terrible

»Mit einem Wort,« sagte sie spöttelnd, »die Welt ist eine Art Ueberbrettl.«

[223] Und sie duckte sich in ihren Armsessel, als fürchte sie, von ihm gescholten zu werden.

Er strich sanft über ihren Scheitel.

»Nun, Christa, sind wir ein bischen Herkules oder Simson?«

»Ach nein.« Es kam kleinlaut heraus. »Die Lust zum Davonlaufen ist mir schon vergangen, obwohl ich gar nicht so viel dabei riskierte wie andere. Die sinken gewöhnlich von Stufe zu Stufe, meistens weil sie kein Geld haben. Mir bliebe immer noch mein Vater. Der ließe mich nicht im Stich. Was mich schreckt, das sind die Gefährten, die man da draußen träfe, wüste Gesellen mit der Pose der Genialität, aber gänzlich ohne diese; und sie nennen ihre Wüstheit Loslösung von Vorurteilen. Meinen Sie nicht, Frank, es müßten gerade die Vornehmsten, die Adelsmenschen sein, die Seelenaristokraten, die sich zuerst in souveränem Stolz von der Gesellschaftsknechtung emanzipierten, vorausgesetzt natürlich, daß sie die »Umwertung aller Werte« in ihrem Denken bereits vollzogen haben. Aber diese Vollwüchsigen – es fällt ihnen nicht ein, ihr Leben und Denken in Einklang zu bringen. Wozu der Zukunft die Kastanien aus dem Feuer holen? Sie haben die Zwangsehe mit der Vernunft abgeschafft, denken aber nicht daran, in einer freien Ehe zu leben. Sie sind Atheisten, bleiben aber in der Kirchengemeinschaft, bleiben, obwohl sie auf die Kirchensteuer fürchterlich schimpfen. Und so auf allen Gebieten. Und da sollte ich – ach [224] Gott, ich glaube, ich habe nicht einmal zum Ibsenschen Menschenfeind Talent.«

Frank sah sie mit leuchtenden Blicken an.

»Ich bringe Ihnen das Buch, von dem ich sprach.«


Ein Verwandter Adrians war zum Botschafter in Konstantinopel ernannt worden. Man bot Baron Lützow eine hervorragende Stellung in der Gesandtschaft an. Er teilte Christa nur die Thatsache des Anerbietens mit. Er hatte sich Bedenkzeit erbeten. Er hoffte Christas Zustimmung zu gewinnen, die eine Lösung ihrer Beziehungen zu Frank Richter bedeuten würde. In einer ganz neuen Umgebung, unter neuen Lebensbedingungen würde sie vielleicht eher vergessen und – vergeben.

Die Vorstellung, daß Christa eines Ehebruchs fähig sei, war für ihn ausgeschlossen. Aber die Mißdeutung, die ihr Verhältnis zu Frank in der Gesellschaft erfahren mußte, peinigte ihn. Dazu kam, daß dieser Mann ihm persönlich widerwärtig war. Eine stolze Scheu hatte ihn gehindert, jemals mit ihr über ihre Beziehungen zu Frank zu sprechen.

Die Aussprache in der Botschaftsangelegenheit verschob er von einem Tage zum andern. Er war [225] nicht einig mit sich, was er thun sollte, wenn sie »nein« sagte.

Inzwischen geschah etwas für ihn Schicksalvolles.


Monate waren verstrichen, seit Christa den letzten Brief an Anne Marie geschrieben. Ab und zu war eine nichtssagende Karte der Schwester an die Mutter eingelaufen, die nichts Beunruhigendes enthielt. Christa war überzeugt, daß Anne Marie sich in einer tiefen Gemütsdepression befände. Sie selbst hatte ein großes inneres Erlebnis gehabt, vielleicht konnte sie ein Echo davon in der geliebten Schwester erwecken und ihr damit neuen Lebensmut geben. Und sie schrieb ihr:

»Du meine traurige Schwester, meine Vielgeliebte; lange, lange habe ich geschwiegen. Ich wußte wohl, Du wolltest keine Briefe, ich hätte aber doch geschrieben, wenn nicht – – O Anne Marie, meine Gedanken gingen andere Wege. Ein Stern ist über mir aufgegangen. Der Stern ist ein Buch. Frank Richter hat es mir gegeben. Stirners: »Der Einzige und sein Eigentum.« Und nun schreibe ich Dir. Ich will Dich mit emporreißen auf meinem Flug, heraus aus Deinem Grabgewölbe, hinein in den Ozon, der um meine Berggipfel weht. Es war für mich, die [226] philosophisch Ungeschulte, nicht leicht, das Buch zu lesen. Als ich es bei Seite legte, fiel mir eines Dichters Wort ein: »Ein jeder ist geboren, König zu sein und Priester der eigenen Gottesnatur.«

Von wenigen Stellen abgesehen, ist es kalt, nüchtern geschrieben, und ist doch wie ein Leuchtturm, der weithin über Weltmeere und Wüsten sein großes stilles Licht ergießt.

Ein gewaltiges Buch. Ein Jungbrunnen für Zeitalte, eine Majestät ohne Purpur und Krone, die alle Pseudoherrscher in den Staub zwingt. Ein Titane, der nicht nur einen Himmel stürmen will, der hundert Himmel wirklich stürmt.

Das Gefühl einer immensen geistigen Kraft durchdringt mich nun. Aus diesem Buch ist mein Wille und mein Wollen geboren und mein Stolz, mein frohlockender Stolz. Bin ich heute noch keine Eigene, ich werde es sein. Ich grüble nicht mehr. Ich stehe in vollströmendem Tageslicht. Ich werde schöner, elastischer. Ich habe das Gefühl, reich zu sein, immens reich, ich möchte schenken, schenken.

Mir scheint, nicht darauf kommt es an, daß man die letzten, ich möchte sagen kindische Konsequenzen aus Stirners Weltanschauung zieht, nicht auf seine Irrtümer kommt es an, sondern auf die Kraft der Wahrhaftigkeit, mit der dieser Seher eines neuen Jahrhunderts mit Sonnenpfeilen die herrschenden falschen Götter durchbohrt. Die Ideen Stirners, sie waren ja alle schon in mir latent. Wie hätte das Buch sonst so auf mich wirken können.

[227] Höre nur nicht auf das, was die Andern sagen: daß er ein Prediger schamloser Selbstsucht sei, ein Entfeßler der bête humaine.

Ein Schurke handelt schurkisch mit oder ohne Weltanschauung. Und wer nicht gemein ist, kann nicht gemein handeln.

Ein Wecker ist Stirner, der mit einer Glocke läutet, aus der die Schreie aller Märtyrer aller Zeiten tönen. Und auch ein großer Entlarver ist er. Vom Angesicht der Welt reißt er die eiserne Maske. Die Tastenden, Tappenden stellt er fest auf die Füße. Er hat das Wunder fertig gebracht, einen Sumpf zu bewegen.

Von nun an höre ich auf, das Opfer unnützer Seelennöte zu sein, der Spielball von Spuk und Gespenstern. Um es ganz einfach zu sagen: ich höre auf, zu den Eseln zu gehören, die sich geduldig das Rückgrat brechen lassen. Meine schlummernde Psyche ist erwacht. Sie lärmt sogar ein bischen. Ob ich es aber bis zum »lachenden Löwen« bringen werde? glaubst Du?

Mir ist, als wäre ich jetzt erst flügge geworden, und ich fliege, fliege hinaus aus dem alten, engen Nest unten im Schattenthal, wo es von ewigen Requiems wiederhallt, hinauf zu Bergeshöhen, zu einem neuen Nest aus purem Gold und Sonnenstrahlen (bildlich, denn Glanz ist gar nicht mein Geschmack), wo über Lerchenjubel stumme Adler in der Höhe ihre Kreise ziehen. (Denke, denke, ich empfinde so verstiegenes Zeug wirklich.) Die rhythmischen Chorlitaneien [228] von ewigen Wahrheiten und heiligen Pflichten weichen dem Solo selbstherrlicher Individuen.

Jemand nannte Stirner einen hohnlachenden Luzifer mit weißen, toten Augen. Aber er ist ja der Märtyrer seiner Weltanschauung geworden. Er ist daran verhungert. Hätte er sich irgend einem Teufel verschrieben, an den reichsten Tafeln hätte er mit seinem Genie schwelgen können. Er und Nietzsche und noch wenige andere, sie gehören zu den Ganzgroßen, die sich in ihrem eigenen Licht verzehren. Intelligenzheilige, die zeugend sterben.

Schriebe ich Dir aus dem Zusammenhang gerissen eine Reihe seiner Aussprüche hin, so würde brutal klingen, was in seiner pfeilscharfen, logischen Begründung so machtvoll überzeugend wirkt. Die Quintessenz seiner Menschheitsauffassung ist, daß der Einzelne, das »Ich«, der Zweck, die Gesellschaft nur das Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ist, daß der Glaube an irgend welche Autoritäten, die mir heilig sein sollen (Staat, Familie, Kirche, der Mensch), ein Spuk, ein Sparren, ein Gespenst ist. Daß jede Wahrheit einer Zeit die fixe Idee derselben ist, daß wir nicht blos am Profanen rütteln sollen – wagen sollen wir den Sprung hinein durch die Pforte des Heiligtums selber. – »Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du's zum Eigenen gemacht. Verdaue die Hostie, und Du bist sie los.«

Du mußt das Buch selbst lesen, und es wird Dir sein, als hättest Du den Hals aus einer Schlinge [229] gezogen. Ich schicke Dir den »Einzigen und sein Eigentum.«


Christa kam nicht dazu, den Brief abzuschicken. Zu gleich mit der Nachricht vom Hinscheiden Anne Maries gelangten die letzten Aufzeichnungen der geliebten Schwester in ihre Hände.

»Mein Christelchen, ich liege im Bett, ich habe Euch hintergangen. Ich werde nicht wieder aufstehen. Ich komme nie mehr zu Euch. In der Einsamkeit auf Theos Gut habe ich angefangen, ein Tagebuch zu schreiben. Denke nur, ich, die ich immer so viel lieber die Füße tanzen ließ als die Feder! nun mußte doch die Feder dran. Vor einigen Tagen habe ich das Büchelchen verbrannt, bis auf die wenigen Blätter, die ich Dir nun schicke – mein Schwanenlied – das heißt, ein Singen ist es nicht, auch nicht wie der Schrei des wilden Schwans, nur abgerissene Töne, eine Leier, an der eine Saite nach der andern springt. – Ach Gott, zu guterletzt kriege ich noch eine poetische Ader – das ist vielleicht immer so beim Verbluten. Addio, Du meine Schwester, Vielgeliebte Du! Komme ich in den Himmel, schicke ich Dir von da oben Engelsgrüße. Thue die Blätter, wenn Du sie gelesen und verbrannt hast, in Deine Aschenurne.«


[230] In tiefer Bewegung las Christa die folgenden Blätter.

»Sonderbar, daß ich so jung von hinnen muß. Ich hätte doch hundert Jahre alt werden müssen. So gesund wie ich immer war und so lebenslieb. Das Sterben fing vielleicht schon damit an, daß ich nicht Tänzerin werden durfte, weil Tänzerinnen so leicht über die Stränge schlagen sollen. Ach Gott, was das anbelangt – – keine Selbstvorwürfe, Anne Marie, Du warst eben, wie Du sein konntest.

Ich trug beim Tanzen immer nur ein dünnes, langes, faltiges Gewand, eine Art Lufthemd. Schauderhaft, die breiten wüsten Massen von Tüll und Seide, die den Körper der Berufstänzerinnen zu einem lächerlichen Monstrum aufblähen.

Alle Künste fielen für mich in der einen zusammen. Ich dichtete mit den Füßen. Meine kleinen, rosenroten Flügelfüße (Theo nannte sie immer so), sie waren das Schönste an mir. Schade, schade, daß sie mit begraben werden müssen. Mein Gebärdenspiel war die Musik dazu und die Plastik – oft stellte ich mich in kühnen oder neckischen oder schmachtenden Posen vor den Spiegel, und war dann selbst entzückt über das Bild im Spiegel.

Wie ich die Kunst des Tanzens verstand und liebte! Mir schien, sie war wie ein Los von der Erdenschwere. Tanzend fühlte ich mich fast als ein Luftgeschöpf. Ich begreife, daß für die Alten ein [231] religiöses Element im Tanze lag. Gewiß, wenn ich lange tot bin, vielleicht erst in hundert Jahren, wird man die weihevolle Schönheit in der Tanzkunst von neuem entdecken.

Und weil ich nicht Tänzerin werden durfte, da schlug das Tänzerliche nach innen. Mein Leichtsinn, der war nicht böse gemeint. Ein paar Luftsprünge der Ausgelassenheit, ein Verschenken aus Ueberfülle. Es giebt so viel Darbende. Und dann – den Theo konnte ich doch nicht so lieben, nicht so. Und wir Frauen gehören doch nun einmal zu der Vogelsorte, die man Inséparables nennt. Es müssen immer zwei sein. Und stirbt das eine, geht das andere ein. Und da gehe ich ja nun auch ein.

Und den Theo nahm ich auch nur aus Leicht fertigkeit und weil Mama es so wünschte, und weil er so mächtig reich war, und hauptsächlich, weil er die Tänzerin in mir so gut verstand und so sehr liebte. Und ich, ich liebte ihn als mein Publikum, ein so rasend dankbares Publikum, und als er dann so elend wurde, da hatte ich ihn lieb, weil er meine Liebe und Pflege so sehr brauchte. Aber das Kindchen – es machte sich gleich wieder davon – das hätte ich nicht haben sollen.

Ein paar Jahre habe ich mich himmlisch amüsiert, bis er – bis Adrian kam. Alles was ich an Seele und Sinnen hatte, konzentrierte sich auf ihn. Und als Christa – ich wollte es ja – ihn heiratete, da habe ich etwas Frevelhaftes gethan. Mit einer Diamantnadel habe ich seinem Bilde die Augen ausgestochen, [232] es war so eine spiritistisch-mystische, geisterweltliche Anwandlung. Blind sein sollte er, nicht sehen, daß Christa mehr war, als ich, viel, viel mehr. Ich glaubte ja natürlich nicht daran, sonst hätte ich's wohl nicht gethan, aber in einem geheimen Winkel meines Herzens glaubte ich doch daran. Und es ist doch so geworden, wie ich wollte.

Wollte? aber ich wollte es doch auch wieder nicht, war so böse auf Christel, daß sie meinen Adrian nicht glücklich gemacht hat. Und ich glaubte, sie liebte ihn, und nun thut sie es gar nicht. Und ich gab ihn ihr doch in einer so guten, beinah edlen Regung, obgleich Passionsblumen mir nicht stehen. Anne Marie! Anne Marie! bleibst Du bei der Stange der Wahrheit? Dachtest Du nicht – so ganz nebenbei nur – als Christas Gatte bliebe er Dir nahe? Und – – ach, ich weiß es nicht mehr.

Wäre ich doch seine Geliebte geworden! Ich würde jetzt nicht sterben, nie sterben, und Theo lebte auch noch, und Christa hätte wohl den Philosophieprofessor gefunden, um Welträtselideen mit ihm auszutauschen. Meinen Adrian, den versteht sie ja doch nicht, versteht nicht, daß man den lieb haben muß, nur weil er es ist, aus sonst gar keinem anderen Grunde.

Die Winterszeit in Florenz mit dem kranken Theo, die war traurig. Seine Blicke ruhten immer auf mir, und sie flehten: Sei doch lustig! Ich versuchte es ja. Ich hüpfte wie ein verrücktes Eichhörnchen, ich lachte mit silbernem Lachen, ach nein, blechern [233] war's. Ich sah, wie er ein paar Mal schauderte, wenn ich lachte. Und einmal sagte er: »Es thut mir so leid, so sehr leid, daß es Dir nun nichts mehr nützt, wenn ich gehe.« Ach Gott, ich grämte ihn, grämte ihn aus dem Leben heraus, den armen Theo.

Und immer mußte ich mich licht und farbig kleiden. Das wollte er, und ich trug ein Kleid – er hatte es mir kommen lassen – von seidigem indischen Musselin, von zartester Perlmutterbuntheit. Einen feingegliederten, metallisch glänzenden Gürtel dazu, mit Edelsteinen besetzt, und ebensolche Achselbänder. Mein schwarzes Haar tief im Nacken lose geschürzt. Er fand, ich sähe wie eine morgenländische Prinzessin aus.

Im Garten von Florenz!

Wie da alles in Urschönheit durcheinander quirlte und tollte, strotzend in lachender Pracht. Es quoll über die Mauern, drängte sich aus dem Schoß der Erde, überwucherte die Steinfiguren. Und der Rasen voll von Anemonen, und darüber sprühte die Fontaine funkelnde Tropfen. Und da vertrocknete er und ich ein bischen mit ihm, in meinem morgenländischen Prinzessinnenkleid.

Und an einem Tag war er so schwach, so schwach. Ich durfte nicht von seiner Seite weichen. Seine Hand lag schwer auf meinem Kopf. Seine gesprungenen, kranken Lippen suchten meinen Mund. Und ich – ich wendete das Gesicht fort. Da schob er mich sanft von sich. Er hat kein Wort mehr gesprochen. Er nickte nur immer mechanisch mit dem [234] Kopf vor sich hin. Am andern Tag starb er. Ich hatte ihm die letzte Liebkosung geweigert.

Auf seinem schönen Gute in Tirol, da habe ich ihm ein fürstliches Grabmal errichten lassen.

Und täglich in der Morgenfrühe und bei Sonnenuntergang liege ich in der kleinen Kapelle zu Füßen des Sarges, eine verzweifelte, verstörte Witwe. Und die Leute wundern sich darüber, weil Theo doch so ein alter Herr war und seine Pflege so mühsam. Ach sie wissen nicht – wissen nicht – niemand weiß es. Ein Schlangennest ist in meiner Brust, und die Giftschleichen trinken mein Blut. Und sie zischen, zischen. Was sie zischen – zum Wahnsinnigwerden. Der arme Theo, ich habe ihn so gepeinigt. Er hat mich so grenzenlos lieb gehabt, und nun fehlen mir seine entzückten, dankbaren Blicke. Theo, das Kind, das ich pflegte und in der Pflege so lieb hatte. Und dann wieder war ich böse auf den Toten. Wenn er doch so bald sterben mußte, warum nicht zwei kleine Jahre früher. Oft ist mir, als läge Adrian im Sarge, nicht Theo, und ich wäre seine Witwe. Ich bin es auch. Ich habe ihn jetzt erst ganz verloren.

O, das Gefühl des Hasses gegen Alles und Alle. Haß gegen den Arzt, der mich betrog, als er sagte, daß Theo noch zehn oder zwölf Jahre leben könne. Haß gegen Christel, die meinen Adrian nicht lieben will, und Haß auch gegen Dich, Du Geliebter, daß Du Dich zu Christa überreden ließest. Wer weiß, am Ende liebtest Du sie heimlich, die kluge Schwester. Hättest [235] Du mich sonst verlassen? Du hast mich verlassen! hast mich verlassen! Warum haben wir denn nicht gewartet! Warum nicht! Und vergebens habe ich das Opfer gebracht. Das frißt mir das Herz.

Ein wilder, zäher Trotz ist in mir. Recht ist's, recht, daß ich so in der Blüte – – ich bin ja noch so sehr hübsch, so leuchtend die Augen, die Lippen so rot! Ich will ja sterben, ich habe den Tod zu mir gezwungen. Leben! wie denn? wovon denn?

Ich fühle, wie mir täglich die Kälte der Steine durch die Glieder kriecht. Sie soll höher kriechen, höher, bis zum Herzen hinauf. Ich habe mir eine Neuralgie geholt. Ich nehme Morphium.

Und an einem Tag – ich lag im Morphiumfieber am Fuß des Sarges. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Kapelle in eine Glorie. Etwas Unheimliches, zwischen Grauen und Süße, atmete in der zitternden Luft, schwebte aus der Säule rotschimmernden Staubes zu mir nieder.

Fieberphantasieen! Aus dem roten Sonnenstaub kamen sie. Es glühte mich an, es brannte in mir. Und die Blumen dufteten – süßgiftig dufteten sie. Und es war, als ob all seine tote Liebe aus dem Sarge quölle – Adrians. Mein Herz klopfte! klopfte! Und es rief ihn! rief ihn! Und er kam – er kam – er war da. Ich lag an seiner Brust. Ich trank seine Küsse ... an Theos Sarg.

Und er sah es – er – Theo – er sah mich mit Adrian. Heiße Tropfen fielen auf mein Gesicht. Er weinte – Theo. Ich kroch in eine Ecke und starrte [236] auf den Sarg. Und da – da hob sich der Deckel – was würde kommen? – – Und es kam – ein Gesicht – – Adrian! Adrian!

Ich sank bewußtlos auf die kalten Steine. Ich weiß nicht, wie lange ich da gelegen. Seitdem bin ich krank. Erst Influenza, dann ein schleichender Lungenkatarrh. Ich habe es gewollt. Später erfuhr ich, das Dach der Kapelle wäre schadhaft. Die Tropfen auf meinem Gesicht waren Regentropfen. Theo hat nicht geweint.

Nun liege ich so, und in kurzen, kleinen Atemzügen geht das Leben fort. Nach den Schauern der letzten Zeit thut die Ruhe wohl. Ob ich Ruhe neben Theo finden werde? Wenn ich Atem genug hätte zum Lachen, so würde ich lachen bei der Vorstellung, daß meine kleinen, rosenroten Flügelfüße, die nie zu ihrem Recht gekommen, nun vielleicht nächtlicherweile, wenn der Mond scheint, umgehen könnten. Darum soll man mich ins Grab legen mit silberflimmernden Gewändern angethan, aber meine Füße sollen nackt aus dem Flimmerkleide hervorsehen. Auf dem Kopf einen Kranz von Cypressen und Rosen. Einer holden Geistererscheinung will ich gleichen, wenn doch etwa – ich weiß ja, daß es nicht sein wird. Aber man kann nicht wissen. Und manchmal glaube ich, daß es viel ernsthaftere Dinge geben muß, als wir im Leben erleben. Ob ich in dem wunderschönen Grabmal mit der Taube und dem bunten Kirchenfenster dahinter kommen werde? Ich ahne – – –.«


[237] Die Blätter waren zu Ende.

Schwermütige Vorstellungen umflorten Christas Seele. Ihre Thränen flossen unaufhaltsam.

War nicht auch in diesem leuchtenden Schmetterling, in diesem schwebenden, sonnigen Geschöpf ein Zug von Genialität gewesen? Eine Eigene, nur daß sie sich ihrer Eigenheit nicht bewußt war. Und doch keine Eigene. So verklammert war sie mit allem Allzumenschlichen. Und wurzellos war sie, darum mußte sie so bald verblühen.

Warum konnten sie nicht zu einander kommen, Adrian und Anne Marie?

Weil nur starke Schwimmer über die breiten, trennenden Meere der Vorurteile kommen?

Christas Hand fiel schwer auf ein Buch, das neben ihr lag. Ihre Finger zuckten. Es war der Stirner. Sie atmete tief auf. Sie suchte ihrer Thränen Herr zu wer den. Hatte nur ihr Verstand die Größe der Stirnerschen Weltauffassung erfaßt, und ihr Gemüt war unberührt davon geblieben? Wozu denn der Lärm in ihrem Innern? Der Schmerz fällt uns an wie ein Feind. Er zehrt an unserm Mark. Auch er ist ein Herr, der uns in seinen Dienst zwingen will. Was ist der Gram um einen, der starb? Der Gram um ein Bild in unserm Gedächtnis.

Und sie ruft sich an: Lösch aus! vergiß! Und sie löscht Anne Maries Bild in ihrem Gedächtnis – so gut sie kann.

[238] Adrian trat ein, bleich, verstört. Er wußte, daß Anne Marie gestorben und daß ihr letzter Brief in seiner Gattin Händen war. Vergebens rang er nach Fassung. Er bewegte die Lippen, ohne reden zu können. Sein umherirrender Blick fiel auf die Tagebuchblätter. Mit einem flehenden Blick auf Christa berührten seine bebenden Finger die Aufzeichnungen.

Ein häßliches Gefühl gewann einen Augenblick Macht über Christa: Rachsucht. Sie nickte und verließ das Zimmer. Als sie zurückkam, war Adrian fort. Am andern Tag war er abgereist. Er hinterließ einen kurzen Brief. Aus der Handschrift ersah sie, daß er die wenigen Zeilen in maßloser Aufregung geschrieben haben mußte. Anne Maries Aufzeichnungen hätten ihn tötlich erschüttert. Er habe die ihm angebotene Stellung angenommen und sei auf dem Wege nach Konstantinopel. Den Zeitpunkt ihrer Wiedervereinigung habe sie – sie allein zu bestimmen. Und er bat sie, ihm seinen tiefen Schmerz zu verzeihen.


Das Leben lag wie neu vor Christa. Sie knüpfte das Band zwischen sich und Stirner immer fester, diesem philosophischen Messias, auf den in umgekehrter Ordnung der Johannes Nietzsche folgte. Nietzsche, zum Teil derselben Ideen Verkünder, die [239] er wie eine geistige Wandeldekoration vor unseren entzückten Blicken entrollt. Mit ihm sind wir wie auf einem hochbewimpelten Schiff, das an immer wechselnden, herrlichen Ufern entlang segelt. Aber wir bleiben auf dem Meer, immer auf der Weltreise. Zu keinem Hafen führt er uns. Das thut Stirner mit der diamantharten Konsequenz seiner Weltanschauung. Sie erkannte, daß wir ein Zwangsleben führen, daß wir in traditionellen Dogmen eingeklammert, aus längst vermoderten Gehirnen heraus denken und fühlen – Leichenideen. Die geistig Sensitiven spüren an ihnen den Duft der Verwesung.

Ein Dogma, daß wir uns der Autorität der Eltern zu unterwerfen haben, wenn unsere Vernunft sie längst nicht mehr anerkennt. Ein Dogma, daß der Lebenskreis des Weibes sich auf die Familie zu beschränken hat. Ein Dogma der Ehezwang. Man hatte sie durchaus nicht zur Ehe gezwungen. Der Ehezwang aber war – falls einem die priesterliche Jungfrau nicht anstand – in der Gesellschaftsordnung mit einbegriffen. Ihr schien, als wäre nie etwas Schamloseres erfunden worden, als die eheliche Liebespflicht.

Sie klügelte und grübelte nicht mehr darüber, ob sie dieses oder jenes thun und sagen dürfe oder lassen müsse.

Ungeheuerlich erschien ihr nun, daß wir nicht denken, nicht fühlen dürfen, was wir denken, was wir fühlen. Warum nicht? weil es nicht das Sittliche, nicht das Wahre ist?

[240] »Die Wahrheit,« – so spricht Stirner – »wo existiert sie? in Deinem Kopf. Wo existiert der Herr? wo anders, als in Deinem Kopf? Er ist nur Geist, und wo immer Du ihn wirklich zu erblicken glaubst, da ist er ein Gespenst. Du allein bist die Wahrheit, oder vielmehr Du bist mehr als die Wahrheit, die vor Dir gar nichts ist. ... Man wähnt bis auf den heutigen Tag, heilige Bande brauche der Mensch. Die Weltgeschichte zeigt, noch kein Band blieb unzerrissen. ... Jede Wahrheit einer Zeit ist die fixe Idee derselben.«

Ja, sagte Christa zu sich selbst, ich brauche ja nur mit einem flüchtigen Blick Länder, Völker, Zeitalter zu streifen, um zu erkennen, daß Wahrheiten und Heiligkeiten von Ort zu Ort, von einem Zeitraum zum andern wechseln, und daß die Heiligkeiten und Wahrheiten des einen Volkes dem andern als barbarischer Aberglaube erscheinen.

Nun, andere Menschen sind für mich wie ein anderes Volk mit anderen Heiligtümern, einem andern Gott, andern Tempeln. Diesem ist die Ehe heilig. Mir ist sie unsittlich, unkeusch. Jenes Busen schwillt von Patriotismus. Mir gilt ein Land so viel wie das andere. Und ein Chinese kann mir lieber sein als ein Deutscher. Ob ich recht habe oder nicht, darüber giebt es keinen anderen Richter als mich.

Sie hörte auf, Sklavin einer unfruchtbaren Gutmütigkeit zu sein, und sie that von sich, was nicht mehr zu ihr gehörte.

Die meisten Menschen, mit denen sie bis jetzt [241] verkehrt hatte, erschienen ihr subaltern, als könnten sie nicht denken, was sie dachte. Sie brach den Umgang mit ihnen ab. Nur mit Maria Hill nicht, die war echt.

Der Vater, mit dem sie über ihre neue Weltweisheit sprach, schüttelte den Kopf. »Hüte Dich, Christel, daß die Gesellschaft Dich nicht in die Ecke stellt oder auf die Strafbank setzt.«

»O,« sagte sie heiter, »in dem Fall bin ich wenigstens sicher, daß ich ihnen nicht gleiche, nicht zu den Gehirnautomaten gehöre. Denen thut man fertige Begriffe in den Kopf, und heraus kommen alle die bemoosten, feierlichen Widersinnigkeiten.«

»Immer noch besser Köpfe mit fertigen Begriffen, als Strohköpfe und ...«

Respektwidrig hielt Christa dem Vater den Mund zu.

»Man kennt Dich, Epikuräerlein.«

Die Verwandten ihres Mannes hatte sie bei ihrem letzten Zusammensein mit ihnen tötlich gekränkt. In dem kleinen weltlichen Kreis brach Frau von Bracht wieder einmal den Stab über ein junges Mädchen aus feiner Familie, die mit dem Mann ihres Herzens auf und davon gegangen war, weil ihre Eltern die Einwilligung zu der Ehe mit dem Mittellosen versagt hatten.

»Gott! Gott! was. für Zustände.« schloß die fromme Dame ihre Mitteilung.

»Sonderbar,« sagte Christa trocken, »daß die Eltern ihre Einwilligung nie versagen, wenn ihre [242] junge Tochter einen reichen Wüstling oder einen kaputen Fürsten heiraten will.«

Frau von Bracht lächelte gezwungen.

»Man kennt ja Ihre paradoxen Pikanterieen, teure Kousine. Sogar meine Jungfer haben Sie neulich verteidigt, als ich sie etwas schleunig, Umstände halber, vor die Thür setzen mußte. Man hat mir sogar mitgeteilt, Sie hätten die – junge Mutter – in Ihren Dienst genommen, was ich selbstverständlich nicht glaube.«

Christa lächelte malitiös.

»O, ich that es sehr gern. Ich halte sogar die junge Mutter an, mütterlich für ihr Kind zu sorgen.«

Der »von Brachtsche Gott« im Busen von Adrians Kousine empörte sich. Aber nur ein immenser Augenaufschlag klapperte: »Gott! Gott! was für Zustände.«

Sie ging, und Roß und Reiter sah man niemals wieder.


Mit Christa ging allmählich eine Wandlung vor. Eine kühle Vornehmheit kam in ihr Wesen. Ihre Worte, ihre Urteile wurden klar, kalt, kurz, überhebend. Sie begriff nicht, daß sie Adrian so ernst genommen.

Ungescheut sprach sie ihre Meinung aus und – [243] seltsam, man setzte sie nicht auf die Strafbank. Ihre radikalsten Paradoxe, ihre tollsten Umsturzeinfälle trugen ihr keine Mißachtung ein, sie erregte bei den Leuten eine gewisse Scheu. Selbst ihr Verhältnis zu Frank wurde kaum noch glossiert. Man zuckte nur die Achseln über die Phantastin. Man fühlte den Adel ihrer Gesinnung durch und hielt für graue Theorie, was in grüne Praxis zu übersetzen, sie keinen Anstand genommen hätte.

Ihr geistiger Uebermut, ihre hochfahrende Haltung hatten etwas Bezwingendes. Sie fühlte sich ganz als Renaissancefürstin.

Auch an ihrer äußeren Erscheinung modelte sie. Die herkömmliche Kleidung mit dem straffen Markieren der Körperformen erschien ihr lästig und wenig decent. Nur lose Gewänder trug sie, phantastische oder prächtige, oder ganz einfache, wie ihr gerade der Sinn stand.

Sie war auch entschlossen, früher oder später nach Italien überzusiedeln. Allein? das wußte sie noch nicht. Warum im Norden leben, der ihr unsympathisch war? Der Süden war unendlich viel schöner. Sie hatte nie besondere Heimatsliebe gehabt. Was ist denn diese Heimatsliebe? fragte sie sich. Nichts als das Vorziehen des Bekannten. Sie erinnerte sich an eine Scheuerfrau ihrer Eltern, die einmal, während sie verreist waren, das Haus hüten sollte. Ein sonniges Zimmer war ihr als Wohnung angewiesen worden. Sie hielt es darin nur ein paar Tage aus, weil sie sich nach dem elenden, menschenunwürdigen [244] Loch zurücksehnte, das sie ihr Zuhause nannte.

Ab und zu pflegte Christa, je nachdem die Laune sie anwandelte, ein paar Tage in der Villa ihrer Eltern in Wannsee zuzubringen, die Rulands nur wenige Sommermonate bewohnten. Sie nahm dann nur ihre Jungfer mit. Die Gärtnersleute kochten für sie. Frank durfte sie dort nicht besuchen, der Leute wegen.

An einem schönen Herbsttage war sie hinausgefahren. In der Nacht träumte ihr, sie schwebe in einem blütenweißen Kleide, mit durchsichtigen Flügeln an den Schultern, durch einen Garten voller Blumen. Und die Blumen wuchsen und wuchsen. Die Stengel wurden stark wie Baumstämme und die Blütendolden wie prangende Riesenschalen von unsinnigen Farben, exotisch glühenden. Die Staubfäden blendende Sonnenstrahlen. Sie sah den Himmel nicht mehr. Eine Angst packte sie. Sie flog empor und wollte über die Wunderblumen hinaus ins Freie. Aber an den Stämmen zerbrachen die dünnen Flügel. Und sie fiel – fiel.

Von ihrem eigenen Angstschrei erwachte sie. Und da lag auf ihrem Bett ein Strauß von Rosen und Orangeblüten. Ihr Duft war betäubend.

Er würde kommen, trotz ihres Verbots, sie wußte es. Und er kam, am Nachmittag, nur auf eine Stunde. Mit dem nächsten Zuge wollte er zurück. Sie hatten nur gerade soviel Zeit, um einen schönen Spaziergang zu machen. Der Himmel war bewölkt. [245] Sie gingen aufs Geratewohl quer durch den Wald. Durch die Bäume sahen sie Wasser aufblitzen. Sie kamen an einen kleinen, von Schilf umrahmten See. Ein grüner Hügel begrenzte ihn jenseits.

Auf weichem Moos, unter einer breitastigen Buche ließen sie sich nieder.

Am Rand des Horizonts hob sich das Gewölk, und seinem Schoß entrollte rotfeurig der Sonnenball. Das Gewölk wurde transparent, in Golddunst erschimmernd, und allmählich ergoß ein Goldstrom sich über die Weite des Himmels. Die Schönheit des Naturschauspiels unterbrach das Gespräch der beiden.

Nach einer Weile sagte er:

»Es ist ein Gemeinplatz, daß die Natur überall Analogieen mit dem Menschenwesen bietet. Es ist aber richtig. Und nichts ist natürlicher. Die »Mutter Erde« sagen wir. Und in der That sind wir ihres lebendigen Leibes ein winziges Teilchen. Jede ihrer Erschütterungen fühlen wir mit. Und zuweilen sind es Offenbarungen.«

Er zeigte in die Landschaft hinaus.

»Sehen Sie, Christa, wie dieser See von einem so seligen Grün den erglühenden Hügel umschlingt. Und das Wasser, das sich leise erschauernd kräuselt, sein Glucksen – Seufzer. Sehen Sie die bläulich schmachtenden Weidenbäume, die sich über die sonnengetränkten Waldhütten neigen, das rötliche Strauchwerk, das sich in die knorrigen Wurzeln hineinschmiegt. Und im Hintergrund das Firmament in hochzeitlichem Rosenfeuer. Brauch' ich Ihnen die[246] Analogie zwischen dieser Natur und – uns zu deuten?«

Christa fühlte eine leichte Bangigkeit bei seinen Worten, und mehr noch bei seinen Blicken, in denen es hochzeitlich brannte.

Sie beherrschte sich und sagte ablenkend, ziemlich trocken: »Und doch ist das Tier uns näher verwandt als die leblose Natur.« In ihrem Gedankengang war eine leise Nüance von Hohn.

»Eine Verwandtschaft, an der wir leiden,« antwortete er ausweichend, »das heißt, eigentlich nur die Geistigsten unter uns, und die leiden auch weniger unter dem Zwiespalt zwischen Tier und Mensch als an dem zwischen Tier und Uebermensch. Unter Uebermensch den verstanden, der in seinen höchsten Momenten gewissermaßen als sein eigener Gott über den Niederungen seiner Alltagsmenschlichkeit schwebt. Die indischen Brahmanen streiften das Tier ab, aber damit zugleich den Menschen. In dem Ausgelöschtsein ihrer Sinne verstummte das Leben überhaupt. Nur ein einziger Nerv vibrierte noch in ihnen, und auch der nur, wenn ein Gott daran rührte.

Bei den Intellektuellsten unter uns, da laufen Tier und Uebermensch nebeneinander her. Bald in der primitiven Derbheit sinnlicher Genüsse – das Tier; bald in den Regionen reinsten Denkens und Schauens – der Uebermensch.«

»Und keine Harmonie ist zwischen ihnen möglich?«

Er sah ihr tief in die Augen.

[247] »Wie schön Du bist, Holdeste. – Ja, es giebt eine Stunde der Harmonie zwischen Tier und Uebermensch. Siehst Du diese Liebesekstase zwischen Himmel und Erde?«

Sie merkte die veränderte Anrede nicht. Es machte sich so selbstverständlich.

»Die hymnische Schönheit zweier Elitemenschen in der Umarmung, das ist die Harmonie, die Konzentration aller Natur- und Seelenkräfte in trunkener Schöpferwonne, das ist die goldene Brücke, auf der das Allzumenschliche mit dem Uebermenschlichen sich begegnet.«

Er umfing sie mit starker Leidenschaft. Er hob ihren Kopf zu sich empor und küßte sie.

Das Firmament stand in Flammen. Und Raum und Zeit schien ihr in diesem einen langen Kuß in einer Sensation unvergleichlich sinnlich seelischer Schönheit zusammenzufließen.

Ein Juchhe und ein Kichern klang durch den Wald.

Einen jungen Burschen mit seinem Mädchen sahen sie durch die Bäume herankommen.

Sie erhoben sich hastig. Seine Zeit war auch um.

Sie brachte ihn zur Bahn. Beide schwiegen. Goldene Herbstblätter rieselten auf sie nieder. Ein schimmernder Dunst, wie stiller Abendsegen, verschwebte am westlichen Himmel. Natur- und Seelenpracht war in ihnen.


[248] Julia hatte sich in der letzten Zeit selten bei Christa sehen lassen, aus Scheu vor Adrian und Frank Richter. Beide begegneten ihr nicht freundlich. Den Kritiker hatte sie anfangs aus naheliegenden Gründen umschmeichelt. Er kränkte sie aber dauernd durch gröbliche, auf sie gemünzte Wahrheiten. Als sie einmal in eine ihrer üblichen Freiheitsschwärmereien ausbrach, dämpfte er ihren Enthusiasmus mit der Aeußerung: sie bräche ihre Ketten, wie ein Sklave sie bricht, der sich dann an seiner Tingeltangelfreiheit berausche. Denkfreiheit müsse der Freiheit der That vorausgehen. Er habe sie aber im Verdacht, daß sie mit bösem Gewissen über die Stränge der Sitte schlage, immer mit dem Possenrefrain im Sinn: »Papa sieht's ja nicht.«

Ein andermal stichelte er auf Schriftstellerinnen, die mit einem bischen Instinkt für Zeitgefühle sich als Sybillen und Pythias aufspielten; oft nur schlaue Horcherinnen, Späherinnen und geschickte Abschreiberinnen.

Nun war sie doch wieder gekommen, aber nur um Abschied zu nehmen. Sie stand im begriff, eine längere Reise anzutreten, und machte allerhand Andeutungen von einem kühnen, bevorstehenden Ereignis.

Und wie sah sie aus! Vernachlässigt, verwildert. Das bekannte weiße Kleid grauschwärzlich geworden, mit noch mehr Flecken als früher, ein gelbes Band um den Hals, dessen Ränder schwärzlich und klebrig[249] schimmerten. Ueber dem zottligen Haar ein zu großer Rembrandthut mit viel zu viel Federn. Glühend rote Backen, und um dem Ganzen ein Relief zu geben, einen herrlichen Strauß frischer gelber Rosen und Veilchen am Busen.

Christa sah immer nach der Thür, ob Frank nicht etwa eintreten würde. Sie hätte sich ihrer Freundin – ihrer einstigen Freundin geschämt. Erst dachte sie daran, ihr ernsthafte Vorstellungen zu machen. Wozu? Sie kann ja doch nicht aus ihrer Haut fahren. Mit dem Blick aber auf das klebrige gelbe Band und das abgetragene Kleid kam doch Mitleid über sie und die Neigung, ihr ein sauberes, hübsches Kleid zu schenken. Julia nahm gern Geschenke, und sicher, sie hatte auf das Geschenk eines Kleides gerechnet; warum hätte sie sonst mit einem so wehmütigen Ton von einem zweckmäßigen Reisekostüm gesprochen, das anzuschaffen ihre Mittel nicht erlaubten?

Christa unterdrückte ihre mitleidige Regung. Julia war auf abschüssiger Bahn. Kein Reisekostüm würde sie aufhalten. Sie zu beschenken, kam ihr vor, als wollte man einem Bettelnden, der nach Schnaps riecht, Geld geben, obwohl man weiß, daß er sich neuen Schnaps dafür kaufen wird.

Julia nahm einen stürmischen Abschied von Christa. Vielleicht würden sie sich nie wiedersehen. Auf der Schwelle schon sagte sie: »Verlaß Anselma nicht.« Und sie zog ein paar Veilchen aus ihrem Strauß und reichte sie Christa. Die that, als sähe sie[250] es nicht. Die Veilchen fielen zu Boden. Als Julia fort war, nahm sie unwillkürlich die Veilchen auf und warf sie in die Aschenurne. »Warum thue ich das nur so heftig?« dachte sie.

»Verlaß Anselma nicht!« sie hatte es mit einer so eigentümlichen Betonung gesagt.


Am Abend desselben Tages erfuhr sie von Frank Richter, daß Julia König, die so lange nach der blonden Bestie gesucht hatte, mit Anselmas schwarzem Sataniker davongegangen war.

Die arme Anselma! die Allzuleidenschaftliche! Wie würde sie's tragen?

Christa suchte Anselma in ihrem Atelier auf. Als sie eintrat, stand die Malerin vor dem Kamin mit einem Bild in der Hand. Sie sah sich kaum nach Christa um. »Du kommst gerade zu einem Autodafé« sagte sie mit höhnisch verzerrten Lippen. Und das Bild flog ins Feuer.

Christa erschrak über Anselmas Aussehen. Schön und furchtbar war sie. Sie hatte ein Atlaskleid von verblichenem Weiß an, das in schweren Falten an ihr niederglänzte. Der Knoten des nachtschwarzen Haars lag ihr tief im Nacken. Ein welker Lorbeerkranz hing ihr im Haar.

[251] »Es ist das Hochzeitskleid meiner Mutter aus der Truhe,« sagte sie erklärend, »meine anderen Kleider sind alle verbraucht, und man will doch nach was aussehen, nach was Berühmtem. Hältst Du den Lorbeerkranz für größenwahnig? er ist ja welk, er hat mir nie geblüht. Ich bin berühmt, berühmt von Anselma Sartorius Gnaden.« Sie drückte ihre Nägel tief in die Handflächen, als wolle sie einen körperlichen Schmerz.

Wie sie so dastand, von Glut übergossen, hatte Christa die Vision, als stände sie inmitten der Flammen: ein Dämon der Rache oder des Hasses, eine schöne Furie.

Mit dem Ausdruck gierig bitterer Wollust starrte sie in das Feuer, bis das Bild verkohlt war.

»Du weißt's wohl schon, das von Julia und dem, der da brennt?«

Christa nickte. Sie hätte ihr gern etwas Tröstliches gesagt.

Auf der Staffelei stand ein neues Bild, noch nicht ganz fertig. Ein nacktes Weib mit einer Krone auf dem Kopf, das durch öde Stoppelfelder schreitet. Ueber der leuchtenden Krone ein schwarzer Rabe.

Christa fand es besser gemalt als irgend eins ihrer früheren Bilder. Sie sagte es ihr, das Lob ein wenig über die Wahrheit hinaus steigernd.

Ein krampfhaftes Zucken flog durch Anselmas Glieder, und die Worte, die sie hervorstieß, schienen auch zu zucken und zu schluchzen.

»Ich habe mich da selbst gemalt. Schön bin ich,[252] nicht? Und der Rabe bedeutet was. Er spürt den Duft der Verwesung an dieser Stoppelfeldkönigin. Ich mache das Bild nicht fertig. – Hast Du die Rezensionen über meine Bilder gelesen?«

Christa verneinte.

»Willst Du die Quintessenz wissen? Seht! Die neue Frau in der Kunst! Augen fort! schauderhaft! höchst schauderhaft! Hysterisch übergeschnappt. Eine freche Dilettanten-Jeremiade in Oel, in Schmieröl. Kein Können!«

»Und keine Stimme, keine einzige hat sich für mich erhoben. Und am Schluß der mildesten Kritik stand: »Die neuen Frauen, die sind wie Vögel, die, aus dem offenstehenden Bauer entschlüpft, ins Freie wollen. Sie halten aber eine Glasscheibe für das Freie, fliegen mit Vehemenz dagegen und zerschmettern sich den Kopf.«

»Zerschmettern sich den Kopf – ja. Morgen kommen meine Bilder zurück. Sie sind schon avisiert.«

In rasendem Zorn riß sie den welken Lorbeerkranz vom Kopf und warf ihn ins Feuer.

»Brennt, ihr Lorbeerbäume! brennt!«

»Ich liebe das Feuer. Ich bin ihm verwandt. Den Sardanapal, den verstehe ich.«

Ein riesiges Stück Holz stieß sie in den Kamin. Ihre Augen waren leicht entzündet. Das gab ihren Blicken etwas Blutiges. Die züngelnden Flämmchen zuckten erst zaghaft auf und nieder, bis sie plötzlich, wie in jähe Wut ausbrechend, das Holzscheit flammend [253] umklammerten und prasselnd in den Kaminschlot fuhren.

»Nicht eine Raserei der Leidenschaft das! Das Erdinnere ist Feuer, die Sonne ist Feuer, Licht ist Feuer, alles Feuer – Feuer, und meine Seele auch. Feuerrausch! Ich bin feuerberauscht. Alles muß brennen, brennen!« Sie ergriff das Bild auf der Staffelei. Im nächsten Augenblick war es umlodert.

»Und fällt der Mantel, muß der Herzog mit! Todesrausch. Brennen! brennen!«

Sie sah sich um, wild, als suche sie noch etwas zum Verbrennen. Die schwarze Katze schlich, geduckt, flüchtend aus der Thür. Die Taube aber umflatterte ängstlich ihr Haupt. Eins ihrer Füßchen hatte sich in das zerzauste Haar Anselmas verkrallt. Sie fühlte einen Schmerz. Und gewaltsam riß sie sich das zappelnde Tierchen vom Kopf herunter, zusammen mit einem Büschel ihres Haares, und sie schleuderte die Taube in die Flammen.

Entsetzt stürzte Christa fort.


Ihr erster Impuls am andern Morgen war: Hin zu Anselma. Es galt vielleicht einen Selbstmord zu verhüten.

Sie sann. Nein. Anselma hatte ihr ganzes Sein auf Ruhm und Liebe gestellt. Und nun war alles, [254] was sie sein und haben wollte, in nichts zerfallen. Nie würde dieses Weib mit dem Temperament eines Tigers über leben, daß sie zugleich Liebe und Ruhm verloren. Ihre Tröstungen und Mahnungen würden nur wie ein Mißton in ein düsteres Requiem klingen. Und ungehört bleiben. Der Tod war Anselmas Recht.

Am Nachmittag erhielt sie die erschütternde Nachricht von Anselmas Tod. In dem ausgebrannten Atelier hatte man ihre verkohlte Leiche gefunden. Man nahm an, daß sie in Verzweiflung über ihren eklatanten künstlerischen Mißerfolg ihre Bilder verbrannt und ein Funken des Feuers ihre Kleider in Brand gesteckt hätte. Um Hilfe zu rufen, war ihr wohl keine Zeit geblieben. So stand es in den Zeitungen. Christa sah ein anderes Bild. »Und wenn der Mantel fällt, so muß der Herzog mit!« All ihre Werke waren Asche. Sie sah, wie Anselma das brennende Holz ins Atelier zerrte. Und gleich der Brünnhilde, sich Scheite richtend, feuerberauscht in den Scheiterhaufen sprang, in schauerlicher Schönheit den leuchtenden Tod sterbend, nach dem die Inbrunst ihres Herzens lechzte.


Weihnachten kam heran. Christa wollte dem Fest mit seinem lärmenden Gewirr, seinem Suggestionsjubel aus dem Wege gehen. Wieviel [255] Stunden der Oedigkeit und Langeweile hatten ihr von jeher die Festtage bereitet, auch die Weihnachtszeit mit ihrem profanen Treiben auf Grund der Geburt Christi.

Das aus den Fugen gegangene Alltagsleben, das sinnlose Umhertasten, das Geben und Nehmen der Geschenke und die pflichtschuldige Bewunderung derselben, Geschenke, die Gegengeschenke heischten und die nicht einem spontanen Herzensbedürfnis, sondern einem alten Brauch entsprangen. Sie meinte, es käme auf eins heraus, wenn jeder sich selbst seine Geschenke schenkte. Das alles empfand sie als lästig, beinahe als kindisch, inklusive der Karpfen mit Bier, die unbedingt zur Weihe des Christabends gehörten. Und am ersten Feiertag das üppige Diner bei den Eltern, am zweiten dieselbe Pudding- und Trinkangelegenheit bei der Großtante. Und am Neujahrstag hatten Lützows sich dafür zu revanchieren.

Sie fühlte keine Spur von Weihnachtssentimentalität. Sie fuhr hinaus nach Wannsee. Sie wollte sich selbst ein Weihnachtsgeschenk machen: Eine schöne Schneelandschaft und eine weihevolle Einsamkeit.

Frank war zu seiner kranken Mutter gereist, die in einem Sanatorium lebte.

Draußen in Wannsee war es ureinsam. Im Winter bestand die Einwohnerschaft nur aus den Gärtnerfamilien.

Sie trat auf den Balkon ihres Zimmers und sah über den Garten in die Landschaft hinaus. Der [256] ganze Horizont weiß. Weiß schimmerte die Sonne durch weißliches Gewölk. Fast weiß erschien der See – zerfließendes Alumin. Ueber Ufer, Bäume und Häuser hin wallender Nebeldunst – die weiße Sonne wie ein Stern auf dem Schleier einer Braut. Ein Bild zarter Melancholie.

Sie nahm ein einfaches Mahl ein. Als sie am Nachmittag wieder hinaustrat, war das Naturbild völlig verändert. Kein Dunst und Nebel mehr. Sie ging durch die beschneiten Villenstraßen über das nahegelegene Dorf hinaus bis an den Stolper See.

Eine dünne Eisdecke lag darüber. Rosige Schimmer der untergehenden Sonne überhauchten den See mit einem geheimnisvollen Glanz, als käme er aus der Tiefe. Aus den weiten Schneeflächen ragten die dunkelgrünen Tannen-Weihnachtsbäume, so weit das Auge reichte. Rings lautlose Stille.

Auf dem Rückweg – es dämmerte schon, begegnete sie Kindern, die Holz aus dem Walde schleppten. Ihre Händchen waren blau gefroren. Eine lebhafte Regung kam ihr: Wie, wenn sie diese Kinder mit in ihr warmes Zimmer nähme und sie festlich mit Kaffee und Kuchen bewirtete? Nein. Sie gab ihnen etwas Geld und ging dann schnell an ihnen vorüber. Als sie eine Strecke weiter gegangen war, sah sie sich noch einmal nach ihnen um. Die Kinder schienen ängstlich etwas im Schnee zu suchen. Das Geld war wohl den steifgefrorenen Händchen entfallen.

In ihrem Zimmer legte sie sich auf die Chaiselongue, [257] um zu lesen. Die Jungfer brachte ihr den Thee, zog die Vorhänge zu und schürte das Feuer im Kamin an. Christa erlaubte ihr, den Weihnachtsabend bei den Gärtnersleuten zuzubringen.

Sie wunderte sich, daß sie unruhig war, ohne Lust zu lesen. Der starke Thee hatte sie wohl erregt. Sie ging noch einmal in den parkartigen Garten hinunter. Unwillkürlich lenkte sie die Schritte zum Gärtnerhäuschen. Kinderjubel tönte heraus. Sie sah durch die unverhängten Fenster die Lichter am Weihnachtsbaum brennen. Ihr Schein fiel warm auf den Schnee. Sie stand eine Weile und wartete auf etwas, vielleicht auf ein Weihnachtslied. Es wurde nicht gesungen. Die Kinder waren wohl noch zu klein. Da – ein quietschendes Gerassel von Trommeln und Trompeten und – richtig, der Duft von Karpfen in Bier. Er stieg ihr appetitlich in die Nase. Sie lachte in sich hinein und klopfte sich an die Stirn: Bei Gott, in ihrem Kopf zappelten zwischen dem feierlichen: »Stille Nacht, heilige Nacht« die Weihnachtskarpfen.

Sie ging langsam zurück. Am blassen Himmel standen die Sterne; einen wählte sie, einen großen, leuchtenden, das war der Stern, der zum Stall zu Bethlehem führte.

Einsamkeit in der Natur hat etwas Feierliches. Die Monotonie weiter Schneeflächen vertieft sie, und die Lautlosigkeit über ihnen. Und aus dieser tiefen Einsamkeit sang es in ihr Herz: »Stille Nacht, heilige Nacht!« Wunderschöne Weihnachtsstimmung.

[258] In ihrem Zimmer nahm sie den Zarathustra und vertiefte sich in diese Bibel des großen, einsamen Sehers. Es war ihr, als rauschten Weltströme darin. Nach einer Weile erhob sie sich.

Sie zog die Vorhänge vom Fenster zurück und schaltete das elektrische Licht aus. Flimmernde Sterne, weißer Schnee und die roten Flammen des Kamins – eine Farbensymphonie von feierlich süßer Mystik – Weihenacht.

Die Thür ging langsam auf. Ganz weiß von Schnee, stand eine Gestalt im Rahmen der Thür – Frank.

Er sah krank aus. Er zitterte wie im Frost. Er kam vom Totenbett seiner Mutter.

Sie nahm seine kalten Hände in die ihrigen und sagte ihm liebevolle Worte. Sie half ihm den Mantel abthun und drückte ihn sanft in einen Fauteuil nahe dem Kamin.

»Frank, Deine Mutter war so lange krank. War es nicht eine Erlösung, daß sie starb?«

»Das war es. Aber ihr Geist war in den letzten Tagen nicht mehr umnachtet. Aus ihren brechenden Augen sprach der ganze Jammer ihres Lebens zu mir, mit einer Tragik, die mich zerriß.«

»Willst Du es mir nicht sagen, Frank?«

Er wehrte ab. »Laß! Es ist wie ein schauerlicher Hintertreppenroman, und doch – Wirklichkeit, gräßliche! Ich fahre gleich zurück. Nur einen Augenblick wollte ich in eines Menschen Auge sehen, den ich liebe...«

[259] »Und der Dich liebt, Frank,« sagte sie mit tiefem Ernst.

Ein Schauer ging durch seine Glieder.

Sie bat schmeichelnd: »Bleib! Eine Tasse heißen Thee mußt Du nehmen.«

Sie rückte das Tischchen zum Kamin heran und bereitete mit der ihr eigenen Anmut den Thee, nur etwas hastiger als sonst, dann warf sie Holz in den Kamin und fachte mit dem Blasebalg das verglimmende Feuer wieder an.

Sie beugte sich über die Lehne seines Stuhls und sah ihm in die Augen. »Sage mir alles, Frank.«

»Wenn ich Deine Hand in der meinen halten darf.«

Sie nickte.

Er atmete tief auf. Mit erweiterten Pupillen starrte er in die Flammen und begann mit leiser Stimme, als läse er eine alte Chronik. Was sie erfuhr, war in der That von tiefer Tragik.

Seine Mutter hatte kurz vor der Hochzeit mit seinem Vater eines unbedeutenden Leidens wegen einen renommierten Arzt konsultiert. Sie war ein sehr schönes Mädchen. Der Niederträchtige betäubte und vergewaltigte sie. Der Verlobte war vor Schmerz dem Wahnsinn nahe. Nur, daß er all seine Kraft anwenden mußte, um seine Braut vor einer verzweifelten That zu schützen, hielt ihn aufrecht. Und vielleicht hätte sich, trotzalledem, in der liebevollen Ehe der beiden braven Menschen die Wunde geschlossen, aber – nach neun Monaten wurde ein [260] Knabe geboren. Und die unselige Mutter wußte nicht, war er der Sohn des Schurken oder ihres Gatten. Und bald merkte sie, daß auch er darüber grübelte, daß er zweifelte, daß sein Sinn sich verdüsterte. Sie sah, daß er den Liebkosungen des Kindes auswich. Und sie liebte den Knaben. Mit einer instinktiven Regung suchte sie ihn jedesmal, wenn ihr Gatte eintrat, in den Falten ihres Kleides zu verbergen.

Die fortwährenden Aufregungen verzehrten sie. Sie wurde schwermütig, zuletzt gemütskrank. Und der Knabe wuchs neben der geisteskranken Mutter auf, die ihm in einem Augenblick der Unbewußtheit selbst ihre Geschichte erzählte. Des Mannes Herz hing an seinem Weibe. Ihren Sohn aber mißhandelte er heimlich. Er freute sich, wenn er weinte. Und als der Knabe es merkte, weinte er nicht mehr, und von den unterdrückten Thränen brannten seine Augen, und sie haben sein Blut vergiftet. Und als er zum Jüngling herangewachsen war, trug er dieselbe schwere Last wie die Eltern, immer die verzweifelte Frage auf den Lippen: Bin ich der Sohn jenes Elenden, oder der des Gatten meiner Mutter? Und er beobachtete sich, belauerte seine Instinkte, seine Handlungen. Bei jedem ausgelassenen Streich, oder wenn ein Jähzorn in ihm aufwallte, schrie er in sich hinein: »Habe ich Dich endlich, Du Sohn des Verbrechers!«

Er hatte ein heißes Temperament. Wollte er in der Liebeskraft der Jünglingsjahre ein Weib in seine[261] Arme ziehen – da plötzlich – ein kalter Schauder, der alle Glut löschte. »Da bist Du ja, Sohn des Schurken!«

Frank war aufgesprungen. Er bebte vom Kopf bis zu den Füßen. Mit einer Gebärde der Verzweiflung drückte er die geballten Hände gegen die Schläfe. – »Und nie – nie ... Und träfe ich ihn, und erschlüge ich ihn, nicht meinen Vater erschlüge ich – – – einen Zuchthäusler! Und Unschuldige, Unschuldige sitzen im Zuchthaus.«

Christa legte beide Hände auf seine Schulter und sah zu ihm auf, die Augen voll von Thränen: »Sei nur fein still, Geliebter! Die Hölle, die Du Dir schaffst, ist ja ein Spuk.«

Sie sagte es mit einer zärtlich lächelnden Ironie. Und sie legte ihren Kopf an seine klopfende Brust.

Er hob sie in seinen Armen hoch empor. Er küßte ihre Augen, trank ihre Thränen, und sie fühlte, wie die seinen ihr Gesicht überströmten.

»Entsühne mich,« flüsterte er, »Geliebte!«


Am nächsten Tage schrieb Christa an Adrian in einem sanften, beinah liebevollen Ton. Sie würde nie nach Konstantinopel kommen. Und sie bot ihm an, sich von ihr scheiden zu lassen, mehr um seinetals [262] um ihretwillen. Sie hätte sich ihre Freiheit selbst genommen und bedürfe keiner andern. Sie wisse aber, daß er sich, so lange die Ehe nicht gelöst wäre, für gebunden halten würde.

Er antwortete: Nein. Vorläufig würde er die Ehe nicht lösen. So lange er die geringste Hoffnung habe, ihr auf irgend einem Gebiet etwas leisten zu können, weise er die Scheidung von sich.

Christa ahnte die zarte Rücksicht, die seine Handlungsweise bestimmte. Als seine Gattin war die beträchtliche Revenüe, die er ihr ausgesetzt hatte, ihr Recht. Geschieden von ihm, wurde sie zu einem Gnadengehalt.

Sie war einem Pflichtgefühl gefolgt, als sie ihm die Scheidung anbot. Unter der Weigerung litt sie keinen Augenblick. Sie dachte aber, wie seltsam es doch sei, daß ein Mensch den andern gegen seinen Willen fesseln könne. Fraglos eine Form der Sklaverei.

Wie? es ist meine Pflicht, weil ich einmal den Gatten geliebt habe, ihm anzugehören, auch, da ich ihn nicht mehr liebe? Warum ist es nicht meine Pflicht, wenn ich einen Mann liebe, zu erfüllen, was die Liebe heischt? Ihr fiel das Ungeheuerliche ein, daß Frauen ihre Männer vergiften, daß Männer ihre Frauen erschlagen, um sie los zu werden. Und sie brauchten doch einfach auseinander zu gehen. Warum thun sie es nicht? Weil die Scheidung so umständlich und so kostspielig [263] ist? und weil sie so viel boshaftes Geschwätz aufwirbelt und enthüllt, was Scham und Ehre verletzt?


Christa hatte mit Frank eine Wanderung durch die Museen gemacht. Um eine Erfrischung einzunehmen, waren sie in das Café Bellevue am Potsdamer Platz eingetreten.

Das rosige Licht der untergehenden Sonne, das über das Gewühl der Menschen und Wagen hinflutete, schuf ein Bild voll malerischen Reizes und blühender Heiterkeit. Ein Lindenbaum vor dem Café überduftete das farbige Bild. Ein Sprengwagen fuhr quer über den Platz. Hinter ihm her wirbelte eine Säule Staubes auf. Und mitten in dieser goldrosigen Staubsäule stand einen Augenblick ein Mensch. Wie ein Heiligenbild, von Glorie umstrahlt stand er da.

Christas Blick hing gebannt an der wunderbaren Erscheinung. Als er aus der Staubsäule heraustrat und sich ihnen näherte, grüßte er Frank.

Er hatte ein bleiches, schönes Priestergesicht. Das Haar ein wenig länger als man es zu tragen pflegt. Der Ausdruck seines Gesichts von unvergleichlicher Vornehmheit und tiefer Ruhe.

Christa sah Frank fragend und gespannt an.

»Er heißt Daniel Rainer,« sagte er. »Ein Theologe, der nicht Prediger werden konnte und wollte. [264] Er ist auf ein Jahr nach Berlin gekommen, um orientalische Sprachen zu studieren. Im Uebrigen ein direkter, unverfälschter Christusjünger – zur Hälfte. Die andere Hälfte hält er geheim. Ein rechter Seelenbräutigam für sehnsüchtige Marsbräute, keusch wie frischgefallener Schnee. Halb Priester, halb Erzengel, in jedem Fall Uebermensch. Dabei naiver Kindskopf. Ein Einsamer, wenn ich von einigen Jüngern absehe, die ihn anbeten.«

»Woher kennst Du ihn? Wie kommst Du in diese heilige Gemeinde?«

»Ich bin ihm vielleicht Luzifer, den er, der Erzengel, braucht, um ihn zu bekämpfen. Soll ich ihn Dir bringen?«

»Er wird nicht kommen wollen.«

»Wer weiß!«


Einige Tage später brachte Frank wirklich den jungen Mann. Christa wollte mit ihm in der üblichen weltlichen Weise eine Unterhaltung über Kunst, Litteratur, Politik führen. Es zeigte sich, daß ihm diese Dinge entweder fremd waren oder ihn nicht interessierten. Er ging niemals ins Theater, las keine Zeitungen und wenig Bücher.

Christa sah, daß eine Plauderei mit ihm nicht möglich war. Er vertiefte gleich jeden Gegenstand, [265] suchte immer die Seele der Dinge. Nie hatte sie einen Menschen von so heiligem Ernst kennen gelernt. Die Politik und alles, was damit zusammenhing, sah er im Bild eines Wassertropfens, den man durch ein Vergrößerungsglas betrachtet: Unzählige Geschöpfchen, die sich in allen möglichen Variationen gegenseitig verschlingen. Er verstehe Goethe, der, während der Kanonendonner von Jena an sein Ohr schlug, sich ruhig und sachlich über die Urpflanze unterhielt.

»Vergessen Sie nicht,« warf Christa ein, »daß es mit einem Prinzen Reuß war.«

Er sah sie groß an. Er verstand die Malice ihrer Worte gar nicht. Und er fuhr fort: »Alles, was gestern war und heute ist, wird morgen nicht mehr sein. Nur Dinge, die einen Geschmack der Ewigkeit haben, gehen mich an. Nie hat sich Christus um Politik gekümmert.«

»Und wurde doch gekreuzigt,« sagte Frank.

Biblische Hoheit war in Daniels Augen, als er antwortete: »Sie sahen die Krone auf dem Haupt des Leuchtenden und meinten, mit dem Blut, das von den Dornen rieselte, den Glanz zu ersticken. Sie wußten nicht, daß erst der tote Christus die Welt erobern würde.«

Christa war bei dieser Unterhaltung nicht ganz bei der Sache. Die äußere Erscheinung Daniel Rainers nahm ihre Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch. Auch irritierte es sie, daß Frank kein Auge von ihr wandte. Und nur damit die Unterhaltung nicht stocke, sagte sie schließlich: »Man könnte Sie um [266] Ihre Weltabgewandtheit beneiden. Mich erregen politische und künstlerische Dinge oft bis zur Leidenschaft.«

Frank, der schlechter Laune war, bemerkte: »Auch für Herrn Rainer wird es Dinge geben, die seine Leidenschaft erregen, wenn es auch nur eine transcendentale Wollüstigkeit für ein metaphysisches Ideal sein sollte.«

Der junge Mann bewegte verneinend den Kopf. »Der Sturm reicht nicht bis in die Tiefe des Meeres. Die Tiefe weiß von dem Sturm nur durch die Schiffstrümmer, die sich in den Grund bohren, und die Leichen, die da ruhen.«

Einen Augenblick flog ein Schatten über sein Gesicht. Er senkte die Augen. Gleich aber öffnete er sie wieder groß und klar: »Wir leiden nicht mit den großen Schmerzen und Verzweiflungen der Natur, mit ihren Sturmfluten und Erdbeben, weil ihre Leiden nicht unsere Leiden sind. Vielleicht sind sie zu groß für uns. Auch die Leiden meiner Mitmenschen sind nicht meine Leiden – vielleicht sind sie zu klein für mich. Glauben Sie, daß Brutus seine Söhne beweinte, als er sie seinen Ideen geopfert hatte?«

»Ja,« sagte Christa.

»Nein,« sagte er.

Er ging, ohne eine Erfrischung angenommen zu haben.

Frank schwieg lange, nachdem der junge Philosoph gegangen war. Das Schweigen wurde Christa [267] schließlich peinlich, und sie fragte: »Was denkst Du von ihm?«

»Ich denke, daß nur eine schmale Kluft ihn vom Wahnsinn trennt. Ich stelle ihm das Prognostikon, daß er als religiöser Schwärmer endet. Klostersüchtig ist er schon. Nicht unmöglich, daß er sich für den Heiland selbst hält. Vielleicht ist er der Messias, den die Adventisten erwarten. Uebrigens hat er ja drei bis vier Jünger, die ihn verkünden sollen. Gieb Acht, Christa, daß er Dich nicht zu seinem Johannes wählt, der ja bekanntlich an seinem Herzen ruhte.«

Die ironische Bissigkeit seines Tones beleidigte Christa, und sie sagte scharf:

»Irrsinnig erscheint oft nur, wer anderssinnig ist.«


Wochen vergingen. Daniel Rainer kam nicht wieder. Frank brachte ihr aber eine mystisch-religiöse Dichtung von ihm, als Beleg – wie er spöttisch betonte – für seine Anderssinnigkeit. Sie war nicht im Buchhandel erschienen, nur in wenigen Exemplaren für Freunde gedruckt worden.

Sie las sie in steigender Erregung, verstand zwar oft nicht, was er meinte, geriet aber ganz in den Bann der dunklen Gewalten, die, wie Frank glaubte, ihn in die Nacht des Wahnsinns treiben würden.

[268] Sie fand Klänge darin von Manfred, von der Bibel, von Zarathustra, von alten indischen Gesängen.

Und sie schrieb an ihn: »Ich habe Ihre Dichtung gelesen. Und mir war's, als träte ich in eine Kathedrale, wo durch die farbige Glasmalerei hoher gothischer Fenster glühende Streifen auf ein Grabdenkmal von klassischer Schönheit fallen. Und als töne aus dem Grabmal heraus in leisen, feierlichen Akkorden Musik. Aber viele Kapellen in der Kathedrale sind mir verschlossen geblieben. Sie haben die Schlüssel. Wollen Sie sie mir nicht bringen?«

Sie schickte den Brief nicht ab. Es hätte Frank, dessen zornige Eifersucht sie fühlte, verletzt. Es heimlich zu thun, war sie zu stolz.


»Wie denkst Du über Frauen, Frank?« fragte Christa ihn einmal.

»Und Du?« gab er lächelnd zurück. »Radikal, nicht? Alles den Frauen! vom Fahrrad bis zum Pegasus.«

»Ich will Dir sehr gebildet antworten, Frank, sogar mit einem Anstrich milder Weisheit, da ich doch ab und zu – leider nur allzu flüchtig – Kulturstudien getrieben habe. Siehst Du Frank, ich denke, wenn eine Zeit überreif geworden ist und sich Symptome [269] der Entartung (ich sage nicht Fäulnis) zeigen, so muß zur Auffrischung des Abgestandenen, des Abgewirtschafteten ein neues Element hinzukommen. Z.B.: bedeuteten nicht in Italien die Borgias die Ueberreife? Und die neue, läuternde Kulturquelle war der Neuplatonismus. (Sollte hier meinerseits ein Geschichtsirrtum vorliegen, korrigiere mich.) Sage Frank, sind nicht auch in der heutigen Gesellschaft Spuren der Ueberreife? und könnten nicht gerade die Frauen das neue Element sein, das die Zeit braucht? Siehst Du, das glaube ich, wir sind da, weil man uns braucht. Giebst Du mir recht! Ja?«

Frank zog sie zärtlich an sich und sagte mehr heiter als ernst: »Jedenfalls braucht man Euch liebe Frauen nicht so eilig, als man nach der Ungeduld glauben sollte, mit der Ihr auf dem Plan erscheint.«

Und er murmelte, immer lächelnd, noch etwas von Amazonenschlachten, von Brunhildens Ringen mit Siegfried, vom Charme des Doktorhuts, von der Entweiblichung durch die Emanzipation, bis er schließlich glücklich bei der unveräußerlichen Natur des Weibes als Gebärerin anlangte.

Christa sah ihn fremd, erstaunt an. Wie? war das möglich? Auch dieser geistvolle, kühndenkende Mann sagte, wenn vom Weibe die Rede war, Plattheiten wie der erste beste Philister oder berühmte Arzt oder – Kultusminister!

Sie fühlte sich entmutigt, gedemütigt. Frank verstand ja nicht einmal, daß ihr die Sache tief ernst war.

[270] Er sah, daß er sie gekränkt, flüsterte ihr leidenschaftliche Schmeichelworte ins Ohr und suchte ihre Lippen.

Sie entzog sich ihm und sagte schroff:

»Der Zweck der Liebe ist die Fortpflanzung des Menschengeschlechts. So will's die Natur. Mir versagt die Natur das Kind. So muß ich mir nun die Liebe versagen. Du aber – geh zu den süßen Mädels.«

Halb lachend, halb zornig verließ sie das Zimmer.

Allmählich aber, ihr nicht ganz bewußt, wirkte nach, was er über die Frauen gesagt. Er wurde ihr fremder.


Das alte Gewissen abzuschaffen, wurde Christa nicht immer leicht, und zuweilen zeigte es sich spröde, gerade da, wo Kleines und Unbedeutendes in Frage kam.

Bisher war es für sie undenkbar gewesen, mehr Geld auszugeben, als sie besaß.

Sie hatte in einem Schaufenster einen Kragen von weißem, großflockigen Tibetpelz gesehen, der sie entzückte. Er war enorm teuer, zu teuer für sie. Sie ging an dem Schaufenster vorüber. Zu Hause meditierte sie: »Soll ich ihn kaufen? Ich würde [271] reizend darin aussehen, und reizend auszusehen, ist eine Wonne für mich. Warum soll ich sie mir versagen?« Das alte Gewissen sagte nein, die neue Philosophie sagte ja.

Am andern Tag ging sie hin und kaufte den Pelz – auf Kredit. Im Notfalle würde Vaterchen die Rechnung begleichen.

Der Pelz stand ihr wirklich reizend. Frank fand es auch, als er am Abend kam. Sie erzählte ihm lachend von ihren Skrupeln, die dem Kauf vorangingen.

Er fixierte sie scharf und sagte: »Gieb mir die Rechnung. Ich bezahle den Pelz.«

Sie sah ihn groß an, dunkle Röte auf der Stirn. Sie fand den Scherz geschmacklos. In seinen Mienen las sie unvergleichlichen Spott.

»Gieb mir den Stirner wieder. Bete ruhig Deinen ethischen Spuk weiter an, und schreibe nach Konstantinopel, Dein Mann soll Dir den Pelz schenken, wozu er ja standesamtlich berufen ist.«

Er hatte sich erhoben, um zu gehen. Sie hielt ihn zurück.

»Ich gebe Dir die Rechnung.« Sie suchte lange. Endlich fand sie sie und gab sie ihm – zögernd. Er küßte ihre Hände. Und sie plauderten. Ihre Schultern zuckten nervös unter dem weißen Pelz. Er wurde ihr zu heiß. Sie warf ihn ab. In unwillkürlicher Bewegung hatte sie die Schere vom Schreibtisch genommen, und – plötzlich in einem raschen Impuls, zerschnitt sie den Kragen. Er sprang auf, jähzornig. [272] Er umschlang sie und preßte sie in einer brutalen Liebkosung an sich. Fast war Haß in seiner Umarmung. Er hätte sie ebensogut schlagen können. Und wie ein Blitz fuhr es ihr durch den Sinn: Er ist der Sohn des Verbrechers!

Von diesem Augenblick an geriet sie in den Bannkreis des Fluches, der auf seiner Familie lastete.

Sie fing an, ihn zu belauern, wie er sich selbst belauert hatte, und immer in der Furcht, er könnte merken, was in ihr vorging. Warum mußte er ihr die Geschichte seiner Geburt erzählen! Er hätte das Geheimnis bewahren sollen.

Und allmählich erkannte sie traurig, es lag Frank nicht mehr so viel daran, daß sie an seinen sozialen und politischen Bestrebungen teinahm. Er achtete kaum noch auf das, was sie sagte, ging auf ihre Ideen nicht mehr ein. Er konnte lächeln, wenn sie ernsthaft redete, eben weil er ihre Worte gar nicht hörte. Er verfolgte mit den Augen ihre Bewegungen. Sie fühlte im Nacken seine liebkosende Hand und sein Entzücken an ihrer sammtnen Haut. Und kam es doch wieder vor, daß er in großen und kühnen Strichen die Grundzüge einer neuen Gesellschaft vor ihr entwickelte und sie – ihre Hand in der seinen – ganz mitfühlend und mitdenkend an seinen Lippen hing, so zog er sie plötzlich mit einer jähen Leidenschaftlichkeit an seine Brust, und sie hatte die zornige Empfindung, er fruktifiziere ihre seelische Erregung für seine Sinnlichkeit.

[273] Sie waren nicht mehr eins in der Liebe. Ihre seidene Zärtlichkeit hielt nicht Schritt mit dem Temperament dieses Glühenden, der an sich selber verbrannte.

Etwas Schwüles, Beklommenes kam in ihre Beziehungen. Es war wie ein intermittierendes Fieber. Frost und Hitze wechselten.

Und zuweilen, wenn er ihr heimliches Widerstreben fühlte, stieß er sie von sich: »Geh, geh, Dein Anblick thut mir weh. Schauerlich, wenn das Weib die Sinnenfreude und ihre Schönheit mit dem Mann nicht teilt.« Sie ging, aber sie kam immer wieder.

Solche Scenen wiederholten sich. Es war ein Gehen von ihm fort, und ein Zurückkehren zu ihm. Das Widerstreben aber wurde größer.


Sie brachten wieder einen Tag in Wannsee zu, einen herrlichen Maitag. Sie waren weit in den Wald hineingegangen.

Ein schweres Gewitter zog auf. Unaufhörlich rollte der Donner. Christa wollte heim. Frank nicht. Er liebte Gewitterstimmungen. Sie blieben.

Weiße, drohende Wolkenberge türmten sich höher und höher. Am unteren Rande öffneten sich die weißen Berge, und Flammenbündel schossen heraus.[274] Eine dämonisch grandiose Pracht. Man konnte dabei an den nordischen Thor denken, der mit seinem Hammer krachend das Himmelsgewölbe spaltet. Der Himmel aber wehrte sich. Er schickte seine Wirbelwinde. Die stießen wie mit Posaunen in die Wolkenberge, und sie barsten. Sturm! Ein Sturm, in dem Verzweiflung war und zugleich wilde jauchzende Lust, gellendes Lachen und verzehrendes Schluchzen. Er peitschte die Zweige der Bäume, daß sie ächzend sich wanden und krümmten. Alle Blumen entblätterte er, daß sie wie fliegende Schmetterlinge durch die Lüfte jagten, um die Wette mit den klagend kreischenden, flüchtenden Vögeln. Es zischte und prasselte wie bei Feuersbrünsten, es heulte, wie von Orkanen, die über das Meer donnern.

Frank hüllte sorglich sein zitterndes, zartes Weib in ihren Shawl. Wie ein verängstigtes Vögelein barg sie ihren Kopf an seiner Schulter. Den Arm um sie geschlungen, blickte er hochaufgerichtet in den Sturm, in dieses Antlitz der Natur von medusenhaft furchtbarer Schönheit. Die Lippen geöffnet, als tränke er der Windsbraut wollüstiges Schluchzen.

Alles Blau war aus seinen Augen entwichen. Nachtschwarz funkelten sie, wie von Blitzen durchzuckt. Und weit über Christa weg flogen sie empor, zu den Blitzen, die wie ungeheure Fragezeichen Gottes über das Firmament flammten.

Christa begann wie ein Kind zu weinen, und wie ein Kind klagte sie: »Ich will nach Hause.«

Er sah an ihr nieder mit einem harten, drohend [275] wilden Blick. Sie fürchtete sich vor ihm. Wie ein Echo der medusenhaften Schrecklichkeit des Sturmes erschien er ihr. Sie wich vor ihm zurück bis in die offene Lichtung hinaus. Da packte sie ein Wirbelwind und wehte sie um wie einen Halm. Sie lag am Boden. Einen Augenblick beugte er sich über sie. Und sie hatte das entsetzliche Gefühl, er würde über sie hinwegschreiten, oder – in Bacchantenwut sie zerreißen. Er sah ihr Entsetzen. Ein Schauder überflog ihn. Und er ging fort von ihr, immer in derselben Haltung, das Haupt hoch emporgerichtet. Und er ging weiter und weiter. Sie sah ihn nicht mehr. Ein wolkenbruchartiger Regen prasselte nieder. Tötliche Angst ergriff sie. Sie wußte ja, er würde sie nicht allein im Walde lassen. Er mußte gleich wieder da sein. Wie aber, wenn er sie nun doch in seiner ekstatischen Stimmung vergäße! Sie schnellte empor. Wahnsinnige Furcht gab ihr die Kraft, gegen Sturm und Regen anzukämpfen. Eine halbe Stunde Wegs hatte sie vor sich.

Mehr tot als lebendig langte sie in der Villa an. Sie ließ sich umkleiden und fuhr sofort, fiebernd, nach Berlin zurück. Sie erkrankte an einem Lungenkatarrh und mußte eine Woche das Bett hüten.

Sie hatte Muße, über das Geschehene und über Frank nachzudenken. Frank – ja – er war ein Eigner im Stirner-Sinn. Und es schien ihr, als ob jeder Eigene geheimnisvoll und unberechenbar wäre. Jeder eine Welt für sich, ganz verschieden von der Welt des andern Eigenen.

[276] Nein, sie kannte Frank, diesen leidenden und heißen Menschen, noch nicht, ein Mensch, in dessen himmelhohem Jauchzen noch etwas von dem düstern Trommelwirbel einer Leichenfeier war und der in seine tiefsten Schmerzen ein ironisches Gift mischte. Und sein Lachen war ein verkapptes, herzzerreißendes Weinen.

Als Frank wieder zu ihr durfte und so bewegt war und von seiner Verzweiflung sprechen wollte, als er sie im Walde nicht mehr gefunden, legte sie ihre Hand auf seinen Mund.

»Sei still, Frank. Ich trage Dir nichts nach. Ich habe Dir nichts zu verzeihen. Du brauchtest in jenem Moment eine Mänade und fandest ein weinendes Püppchen.«

Christa lag auf einem Ruhebett, sah sehr blaß und sehr schön aus, und die Blumen, die er geschickt, standen neben ihr.

Er küßte ihre Hände. Sie sah ihm fest und klar in die Augen und sagte dann sehr sanft:

»Frank, ich liebe Dich nicht mehr. Die Liebe zu Dir ist gekommen ohne meinen Willen. Und nun ist sie ebenso gegangen. Schön war es. Du hast mich reicher gemacht. Wir sind nicht mehr eins in der Liebe.«

Er senkte den Kopf und bedeckte eine Weile die Augen mit der Hand. Als er wieder aufsah, schimmerten sie feucht.

»Du sagst, was Du sagen mußt. Ich liebe Dich [277] mit immer gleicher Kraft. Wir sind nicht mehr eins in der Liebe. Es ist wahr. Sieh, Christa, man hat Euch Frauen so oft und so lange als immaterielle Wesen behandelt, bis die Edlen und Keuschen unter Euch sich ihrer Sinne geschämt haben und sie verkümmern ließen.«

Und mit traurigem Spott fügte er hinzu: »Nun muß ich meine Mänade suchen. – Noch eins, Christa – sage, ist es, weil eine neue Liebe – –«

Sie wußte, er dachte an Daniel Rainer.

»Keine neue Liebe, Frank, vielleicht ein neuer Glaube. Ich weiß es noch nicht.«

Er ließ sich auf ein Kissen vor ihr nieder und blickte sie an, wie man eine geliebte Tote ansieht, ehe der Sargdeckel sich über ihr schließt, tötlich sehnsüchtig.

»Du Holde, Du Feine – noch einmal gieb mir Deine Lippen. Ich scheide nun auf immer von Deinem süßen Leib.«

Und sie neigte sich über ihn. Und mit tiefer Inbrunst zog er sie in seinen Schoß.

Als er gegangen war, nahm sie seine letzten Blumen und that sie in die Aschenurne. Sie atmete tief auf. Sie hatte von sich gethan, was nicht mehr zu ihr gehörte. –


[278] Christa, von Frank losgelöst, glaubte nun ganz eine Eigene zu sein, selbstherrlich, königlich, niemandem unterthan, eine nur sich selbst Gehorchende. Zuweilen nur war ihr, als laure in einer verborgenen Falte ihres Innern irgend etwas, das ihr Denken und Thun leise umfloren wollte, etwas wie das Vorgefühl einer Krankheit, die in uns steckt und die wir mit Willenskraft niederzwingen.

Vor einiger Zeit hatte sie einem Anspruch ihres Vaters widerstanden. Der Vater kränkelte. Er hätte sie gern mit ins Bad genommen. Seine geräuschvolle Gattin eignete sich wenig zur Gesellschaft eines Leidenden. Sie hatte seine Andeutungen nicht verstehen wollen. Der Vater war ihr fremd geworden. Sie gehörten nicht mehr zu einander.

Von Adrian erhielt sie ab und zu kurze Briefe. Zwischen den Zeilen las sie eine Bitte. Er litt am Klimafieber und konnte vorläufig an Rückkehr nicht denken. Einen Augenblick schwankte sie. Ihre reflektierende Vernunft siegte über den ersten Impuls. Er hatte nie zu ihr, sie nie zu ihm gehört.

Der Vater, Adrian, sie hätten ein Recht an ihr? »Recht ist ein Sparren, erteilt von einem Spuk!«


[279] An einem Märzvormittag hatte sich Christa aufgemacht, um Maria Hill in der Hohenzollernstraße zu besuchen.

Die Freundin stand am Vorabend einer großen Reise. Sie wollte einen sechswöchentlichen Urlaub benutzen, um sich einer Orientfahrt der Stangenschen Expedition anzuschließen.

Im Tiergarten, in der Nähe der Hohenzollernstraße, bot sich Christa ein schrecklicher Anblick. Ein Wagenpferd war aufs unglücklichste gestürzt. Keine Decke war ihm untergebreitet. Und es war kalt, sehr kalt, ein Rückschlag in den Winter. Der Schnee auf den Wegen hart gefroren. Das Tier lag da, mit dem Dampf seiner Nüstern das Eis tauend. Sein Blut färbte weithin den Schnee. Blutiger Schaum stand ihm vor dem Maul. Der Ausdruck dieses Pferdekopfes mit dem weitentblößten riesigen Gebiß und den blutunterlaufenen, stierglotzenden Augen war gräßlich. Und daß es stumm war, stumm in seiner Qual!

Der Kutscher stand mit einigen Leuten in der Nähe und fluchte über das Beest, das durchaus verrecken wolle. Niemand bekümmerte sich um das verröchelnde Pferd.

Ein peinlich nervöses Gefühl schnürte Christa die Kehle zu. Schnell ging sie weiter. Hinweg mit dem Bild. Sie versucht an alles mögliche andere zu denken.

[280] Sie traf Maria Hill frohgestimmt, ganz erfüllt von ihrer Reise. Christa hörte ihr mit geringer Teilnahme zu, sie wußte selbst nicht, warum. Da war in ihrem Gemüt irgend ein Hindernis. Nur als Maria erwähnte, daß sie auf der Reise Konstantinopel berühren würde, fiel ihr Adrian ein. Sie bat Maria, ihn aufzusuchen, da er krank sei. Sie gab ihr seine Adresse.

»Ihr seid ja eigentlich Wahlverwandte, durch die Chemie. Er wäre gewiß ein guter Chemiker geworden. Die Diplomatie liegt ihm nicht. Aber – wie eine alte Excellenz mir neulich sagte: Die Diplomatie wäre das einzig mögliche Civil für einen Aristokraten.«

»Er ist kein Aristokrat,« sagte Maria, »er ist eine fein bürgerliche Natur.«

»So? das wußte ich gar nicht.«

Sie nahmen in alter liebevoller Weise Abschied voneinander.

Als Christa wieder in den Tiergarten einbog, sah sie zu ihrem Entsetzen, daß das Pferd noch immer röchelnd, sterbend auf derselben Stelle lag, nur daß es jetzt in beinah rhythmischer Regelmäßigkeit immer mit dem Kopf auf den harten Boden aufschlug.

Und da kam es plötzlich mit elementarer Gewalt über sie. Sie stürzte fort, in die nächste einsame Allee des Tiergartens, und brach in krampfhaftes Weinen aus.

Das Wetter war inzwischen umgeschlagen, die [281] Luft weich geworden. Graue Schatten zogen über den Park, seltsam dichte, phänomenale Nebel. Der ganze Park war wie in weichen, grauen Dampf gehüllt. Um die Mittagsstunde herrschte eine tiefe, gleichförmige Dämmerung, als neige sich der Tag zum Abend.

Menschen, die in den Alleen vor ihr hergingen, schienen in ein graues Spinnennetz geraten, ihre Bewegungen zeichneten sich noch eine Weile schattenhaft in der Luft ab, dann wurden sie von dem grauen Dampf eingesogen.

Die phänomenale Naturerscheinung gab Christa einen Ruck. Sie raffte sich auf, unterdrückte das Weinen, langsam schritt sie in der Allee durch den grauen Dampf auf und ab.

War sie denn toll? ein blutendes, verendendes Tier hatte sie bis ins Mark erschüttert. Oder – sie grübelte – war dieses schreckliche Bild nur wie der letzte Tropfen, der einen Becher überlaufen ließ?

Und was in einer verborgenen Falte ihres Innern gelauert, die Schatten, die an ihr vorübergehuscht, sie gewannen Gestalt, verwundete klagende Schatten. In dem traumhaften Dämmer schwebten sie um sie her.

Dem Schmerz um Anne Marie hatte sie ihr Herz verschlossen. Nun sprang es auf, wie von unsichtbarer Kraft berührt. Sie sah die geliebte Schwester auf den kalten Steinen knieend, ringend mit ihrer Qual und sich langsam, langsam töten.

Sie sah Anselma mit den blutigen Augen, wie [282] sie in die Flammen stürzte – vielleicht, wer weiß, sie hätte sie doch noch retten können. Und der Vater! sein Lieblingskind hatte ihn verlassen, als er es rief. Und daß sie Julia damals nicht das Kleid gegeben. Auch die armen Kinder im Walde sieht sie, die ihr Geldstück im Schnee verloren. Und Adrian! Sie sieht die kleine Dorfkirche, in der sie mit ihm getraut wurde, ganz mit Blumen geschmückt, lauter große Sonnenblumen, weil es im Dörfchen nicht mehr viel andere Blumen gab. Und die Tannenzweige auf dem Kirchplatz und auf den Steinen der Kirche, sie dufteten so frisch und urwüchsig. Und sein »Ja« klang so tief und klar. Ob er sie vielleicht doch in jenem Augenblick geliebt hat? Und Frank! Sein letzter Blick, als sähe er in das Antlitz einer geliebten Toten, ehe der Sargdeckel sich über ihr schließt!

Und sie weint, weint unaufhaltsam. Sie weint um Anne Marie. Sie weint um Anselma, um Adrian, um das Kleid, das sie Julia nicht gegeben, um Frank.

Und während sie auf und ab wandelt, grübelt sie weiter. Stirner hatte sie gelehrt, alles, was nicht zu ihr gehört, abzustoßen, als Totes zu begraben.

Wie, wenn sie nun mit dem Toten auch Lebendiges oder Scheintotes begraben hätte? Fühlt sie sich nicht noch immer mit Adrian verflochten durch das eheliche Leben? Zittert nicht die Glut Franks noch in ihrem Blut?

Und sie fragt sich, ob sie nicht, befreit von allen Rücksichten, an den Verletzungen, die sie andern [283] zugefügt, mehr gelitten, als an der früheren Unfreiheit, an ihren nachgiebigen Schwächen und ihrer Selbstentäußerung?

Hat sie nicht die Selbstbefreiung zu teuer bezahlt? Und war nicht Stirner auch wieder für sie eine Macht gewesen, die sie »in Dienst und Pflicht« nahm? ein neuer Spuk, ein neues Gespenst?

Stirner hat den Einzelnen entdeckt. »Der Einzelne ist allein der Mensch ... Du bist nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich ... Du bist Deine Gattung, bist ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster...«

Und wenn es nun gar keinen Einzelnen gäbe, wenn mein Kern, mein Ich, das aus allen Verhüllungen gelöst werden soll, sich untrennbar mit diesen Verhüllungen (Sitte, Land, Zeit u.s.w.) verwachsen zeigte, und der Einzelne wäre nichts als ein Philosophentraum?!

Und nun erschien ihr plötzlich diese Philosophie kalt, scharf wie ein Schwert, das Gespenster köpft und unversehens unsern lebendigen Kopf dabei mittrifft. Wenn sie ihr Ich aus allen Hüllen befreit hat, wenn in all ihren Beziehungen zur Gesellschaft kein Wert und keine Wahrheit steckt, was fängt sie denn nun mit ihrem nackten Ich an! wo und wie soll sie sich ausleben!

Und sie muß an Anselmas letztes Bild denken: Das nackte Weib, das mit der Krone auf dem Kopf durch Stoppelfelder schreitet. Ueber ihr der [284] Rabe. Felder, über denen kein Vogel singt, aus denen keine Blume sprießt.

Das ganze Aufsichselbstgestelltsein, was nutzt es ihr? was hat es Frank genutzt? Sie liebt ihn nicht mehr. Er aber liebt sie noch. Und sein Wille war ohnmächtig ihr gegenüber. Und hatte er es nicht selbst gesagt, schon vor der Geburt war er verurteilt und mußte die Galeerenkette tragen, die sein Vater hätte tragen sollen.

Frei! Doch nur, so weit unsere Natur es zuläßt. Aber die Grenzen unserer Natur sind so eng. Und können wir wirklich – wenn auch von Spuk und Sparren befreit, die Wege gehen, die wir gehen wollen? Und wenn Raubtiere (Verleumdung, Haß, Bosheit) uns verfolgen und uns in andere Bahnen zwingen?

Julia glaubte auch frei zu sein, da packte sie das Raubtier der männlichen Begehrlichkeit und zwang sie auf den schlüpfrigen Weg, den sie anfangs garnicht gehen wollte.

Und kämen wir selbst auf einen hohen, hohen Gipfel, wohin kein Raubtier uns folgt – da oben aber weht vielleicht Eisluft, und auch die Einsamkeit kann wie ein Raubtier sein, das uns anfällt.

Sie grübelt weiter: Und bin ich so ganz sicher, daß der Gipfel, zu dem ich hinauf will, nicht etwa nur ein Gipfel ist, der sich in einem Abgrund spiegelt?!Einen Spuk zu bannen hat Stirner gar nicht versucht: das Gespenst von der Unfreiheit des Willens. Alle Philosophen haben diese Unfreiheit [285] konstatiert. Bin ich gleichsam nur ein chemisches Produkt von Substanzen und Kräften, über die ich keine Macht habe, willenlos souveränen Schicksalsgewalten überantwortet, so bin und bleibe ich ein Wurm, und selbst der kühnste Aufstieg der inspiriertesten Geistseher ist Titanentrotz, der sich an granitenen Unmöglichkeiten brechen muß. Das heißt – wenn die Philosophen für alle Ewigkeit recht behalten.

Und Stirner – seine Weltauffassung ein gefährlicher Irrtum? Lug und Trug? Nein. Und das war das beinah Tragische in ihrem inneren Erlebnis. Nach wie vor erschien sie ihr grandios, einzig, von einer Wahrheit ohnegleichen, aber – sie, Christa, ist zu klein für seine große Lehre. Wer diese Lehre in Thaten umsetzen will, muß biegsam wie Stahl oder hart wie Diamant sein. Sie aber war von sprödem Material, das leicht bricht, oder auch von zu weichem, das bald auseinanderfließt. Wenn man Kanarienvögeln das Futter reich mit gestoßenem Pfeffer vermengt, gehen sie meistens an Magenentzündung zu Grunde, die Starken aber, die die Kost vertragen, erhalten purpurrote Federn von herrlichem Glanz. Sie vertrug die Stirnersche Kost nicht. Keine Purpurfedern von herrlichem Glanz waren ihr gewachsen, nein – –.

Ein Lichtstrahl traf ihre gesenkten Augen. Sie blickte auf. Die Sonne! sie hatte den Dampf aufgesogen. Der Park hatte das graue, unheimliche Gewand abgeworfen und einen königlichen Hermelin angethan. Im Sonnenlicht der Schnee. Weißer [286] Glanz. Da wurde auch ihr Auge heller, ihr Gemüt freier. Und war es eine Gedankenverbindung, die aus diesem weißen Glanz ein anderes Bild von weißem Glanz in ihre Seele rief, oder eine spontane Eingebung: Sie dachte an Daniel Rainer.

War nicht vielleicht schon in ihrem Abwenden von Stirner und Frank ein neues Element wirksam gewesen, ein neuer Mensch, und gerade dieser?

Sie wußte noch wenig von ihm. Das aber wußte sie: er war ein Mensch von höchster Intellektualität und von krystallener Reinheit. Aber auch dunkle Tiefen barg er, in denen Sterne sich mystisch spiegelten.

Mit Frank war ihr Geist gewachsen. Mit ihm würde Tieferes wachsen.

Es war, als hätte sie Eile nach Hause zu kommen. Den Brief, den sie an ihn geschrieben und nicht abgeschickt, jetzt schickte sie ihn ab.

Daniel Rainer kam. Aber er brachte den Schlüssel zu seiner Dichtung nicht mit. Es verlohne sich nicht, davon zu sprechen. Was in der Schrift stände, läge hinter ihm. Alle Exemplare, die er noch vorgefunden, habe er verbrannt.

»Das Buch,« sagte sie, »erschien mir wie die Wanderung einer Seele, die, von allem Materiellen losgelöst, ihre eigentliche Heimat sucht. Haben Sie Ihre Träume von der Unabhängigkeit des Geistes vom Körper aufgegeben?«

»Nein, es giebt Menschen, die sterben können, wenn sie sterben wollen. Und ich sollte zu dem, was[287] niedriger Instinkt in mir ist, nicht sagen können: stirb! Ich fühle mich oft wie ein in meinem Leibe Gefangener. Ein Gefängnis, wo ich nur durch ein Guckloch in paradiesische Gegenden schaue. Und nichts ist natürlicher, als daß ich die Thür zu erbrechen oder wenigstens das Guckloch zu einem großen, hohen Fenster zu erweitern versuche.«

»Ist nicht,« warf Christa schüchtern ein, »wie die Menschheit auf den Stern Erde, so auch jeder Einzelne in sein Land, in seine Zeit, in seinen Leib hineingebannt?«

»Gebannt?« wiederholte er, »vielleicht verbannt! Aus Verbannungen kann man heimkehren.«

Sie sah ihn verständnislos an. »Sie denken Unmöglichkeiten.«

»Unmöglichkeiten!« wiederholte er, »es giebt unermeßliche Möglichkeiten. Im menschlichen Embryo sind alle Tierstufen bis zum menschlichen Geschöpf enthalten. Könnten nicht so im fertigen Menschen alle Stufen enthalten sein von dem tierischen Element bis zu einem Geschöpf ....«

Da er einen Augenblick innehielt, ergänzte sie seinen Satz: »das Züge der Ewigkeit trägt.«

»Ewigkeit!« In seinen Zügen war priesterlicher Glanz, als er sagte: »Spüren nicht alle Auserwählten unter den Menschen die Wehen einer Neugeburt? Nur der Geburtshelfer fehlt. Vielleicht ist er nicht fern.« Und er wiederholte:

»Es giebt unermeßliche Möglichkeiten.«

[288] »Darf ich Ihre Schülerin werden?« fragte Christa zaghaft.

Er sah sie hell an.

»Ja, Christe, so sei es.«


Sie sahen sich nun oft. Selten blieb er in ihrem Salon. Er liebte es, mit ihr hinauszuwandern in den Park oder weiter in den Grunewald.

Und sie lauschte seinen Worten, die oft dunkel waren. Vieles verstand sie nicht. An ihrem verflachten Geist mußte es liegen.

War er da, so war ihr immer, als wäre Sonntag, mehr noch – Feiertag. Sie begriff nicht, daß sie je einen Mann schön gefunden. Nur dieser war's. Aber nein – kein schöner Mann, ein Typus reiner Menschenschönheit. Aus seinen Augen leuchtete Genie. Ihre Farbe war unbestimmbar, am ehesten noch ein tiefes, durchsichtiges Grau, von hellen, grünlichen Lichtern durchschossen.

Oft, auf ihren Spaziergängen sprachen sie lange, lange kein Wort. Aber er sprach doch zu ihr. Er selbst war eine Dichtung, die sie mit der Seele las. Alle Thüren ihrer Seele standen offen, weit offen, festlich geschmückt mit Maien. Wie Pfingsten. Frühlingswinde wehten durch heilige Haine.

[289] Sie unterlag ganz dem Zauber seiner Persönlichkeit, ein dämonisch transcendentaler Zauber. Während dieser Zeit war sie wie ein junger, männlicher Pilger anzusehen. Sie trug ein dunkles, talarartiges Gewand, kragenlos, frei der zarte schlanke Hals, auf dem der kleine Kopf wie auf einem Blumenstengel zu schwanken schien.

Daniel verstand gut ihre feine Schönheit. Er liebte die Schönheit, weil sie mit allem Großen und Tiefen verschwistert sei.

»Du hast einen feinen Einfluß auf meinen Geist, auf meine Ideen,« sagte er zu ihr. »Darum habe ich Dich lieb.«

Es war ihr, als ob ein König gnadenreich sich zu ihr neigte.

Daß ein solcher Mensch durch die Straßen Berlins wandelte, erschien ihr fast komisch. Ein Stern in einer Laterne. Wäre er in einen Berliner Salon geraten, man hätte ihn als Narren behandelt oder ihn als Merkwürdigkeit »herumgereicht«. Und selbst in den vielen freien Gemeinschaften, wo sich die kühnen und radikalen Denker zusammenfanden, hätte man den Kopf über ihn geschüttelt.

Daniel Rainer hatte etwas vom Gralsritter oder auch von einem Brahmanen. Von beiden das geheimnisvoll Tiefe, und daß er immer im Feierkleid der Seele wandelte.

Zuweilen war's ihr, als sähe sie ihn wie schwebend auf einer Weltkugel. Durchsichtig rein war er und undurchsichtig tief. Und so ganz fern vom Alltagsleben,[290] daß es sie mitunter irritierte, daß er gewichste Stiefel trug. Sie hätte sich diesen Jüngling, der so psalmenhaft redete, nicht mit einem Bart denken können. Und völlig weltfremd war er. Oft kindlich naiv.

Und doch – war er nicht bis zu einem gewissen Grade auch ein Jünger Stirners?

Wie Frank hatte er sein Ich aus allen Beziehungen zurückgerufen, die ihn »in Dienst und Pflicht« nehmen wollten. Frank aber that es, um mit Leib, Seele und Geist schrankenlos des Lebens Inhalt auszuschöpfen. Der Stirnersche Egoismus nimmt viel und giebt wenig. Daniels Selbstbefreiung galt den Hemmnissen, die ihm den Weg zu seinen idealen Zielen erschwerten oder sperrten, galt dem, was seine Flügel band. Obwohl in der vollkomenen Reinheit seines Lebens einer Christusgestalt gleichend, war er doch weit entfernt, seine Aufgabe im Altruismus zu suchen. Mit Stirner teilte er die absolute Nichtachtung von Kirche, Staat, Familie.

Ja, er war von größerer Rücksichtslosigkeit, von härterem Stoff als Frank. Der litt unter dem Jammer seiner Familie. Daniel hatte gewissermaßen seine Familie abgeschafft.

»Meine Mutter,« sagte er, »wird vielleicht an meinen Plänen zu Grunde gehen. Ich kann's nicht ändern. Wer noch vor etwas zittert, ist nicht frei.«

Dieselbe Entäußerung alles nebensächlichen Denkens und Fühlens forderte er von seinen Freunden und Jüngern. Ein rein geistiges Band verband [291] ihn mit ihnen. Irrten sie von seinen Wegen und Zielen ab, so zerriß er das Band. Einer seiner Jünger teilte ihm mit, er habe seine Mutter wiedergesehen. Was er ihr auch angethan, sie hinge mit unverbrüchlicher Zärtlichkeit an ihm. Es habe ihn tief gerührt.

»Geh zu Deiner Mutter,« sagte er ihm, »aber geh von mir.«

Zuweilen fragte sich Christa, ob es ihm nicht an einfacher, menschlicher Güte fehle.

Völlig wich er von Stirner in seiner Lebensführung ab. Er lebte beinah als Asket. Das Zimmer, das er bewohnte, war kahl. Im Hintergrund stand ein schwarz gedeckter Tisch mit vielen Wachskerzen. Bücher in alten, messingbeschlagenen Einbänden lagen auf dem Tisch, unter ihnen eine Bibel.

Er nährte sich von Milch, Honig und Früchten. Zuweilen aber trank er Wein. Und er liebte es, wenn die Farbe des Weins von dunklem Purpur oder goldenem Gelb war. Und er aß feines, weißes Brot dazu. Weißes Brot und roter Wein.

Er fastete oft und schlief wenig. Er empfand den Leib als lästige Hülle und suchte ihn zu verfeinern, gewissermaßen durchlässig zu machen.

Unablässig warf er Ballast aus dem Luftschiff seines Lebens aus, damit es steige, steige!

Es war etwas in seinem Wesen, das an Pose streifte oder wenigstens dafür gehalten werden konnte. In der Feinheit seines ästhetischen Empfindens, in seiner dunklen, dichterischen, oft geheimnisreichen [292] Sprache erinnerte er an die Ephebengruppe.

Christa war bisher kein großes Schicksal beschieden gewesen. Selbst die Konflikte mit ihrem Gatten, bei denen sie nur einen passiven Widerstand zu überwinden gehabt, hatten ihre Thatkraft nicht angespornt. Und nun stand sie mit Ehrfurcht vor der eisernen Willenskraft dieses Sichselbstschaffenden, der an die Möglichkeit der Ueberwindung aller niederen Menscheninstinkte glaubte.

Frank litt an sich selbst, wurde von seiner Skepsis aufgerieben, er glaubte an nichts, auch an sich selbst nicht. Er war ein Zerstörer. Daniel war oder wollte ein Schöpfer sein. Und er glaubte an sich mit der unbeirrbaren Sicherheit großer Menschen.

Ohne Geld, ohne Konnexionen, ohne nur die Sprache zu kennen, war er nach Rom gegangen. Er war in Paris gewesen, war in die hohen Sierras Spaniens gestiegen, wo die Hirten ihn wie einen Heiligen verehrt und Mönche und Nonnen ihn bewirtet hatten. Und er würde nach Jerusalem gehen, nach Syrakus, nach Island, an den Nordpol. Die Klöster waren seine Zufluchtsstätten.

Seinen Lieblingsschüler – er war reich und hieß eigentlich Cohn, er nannte ihn aber Parsifal – schickte er in der Welt umher, um einen erhabenen Punkt am Meer ausfindig zu machen, wo er ein Kloster gründen sollte. Ein Kloster mit den strengsten Trappisten-Regeln, nicht um der Gottgläubigkeit [293] willen – denn er war glaubenslos – aber er brauchte Schweigen und Stille.

Einen andern Schüler hatte er nach Jerusalem in ein Kloster gesandt. Er kam nicht wieder. Er war verschollen.

»Christe, willst Du hingehen, ihn zu holen? Frauen ersetzen an Feinheit, was ihnen an Kraft fehlt.«

Christa erschrak. Aber sie sagte nichts.

Einer seiner Schüler war plötzlich unter seinen Augen wahnsinnig geworden.

Wunderschön wär's gewesen, sagte er, wie er, seines Leibes nicht mehr eingedenk, wie in einem sublimen Haschischrausch durch Paradiese flog.

Daniel Rainer schien einzig in seiner Art. Er selber wähnte, völlig frei vom Geist der Zeit ein ewig geltendes Geschöpf zu sein. Trotzdem erkannte Christa in ihm einen Typus der Zeit. Er stellte nur die Reinzucht dieses Typus dar, gewissermaßen seinen Idealextrakt. Der Kern dieses Typus: Die fiebernde Sehnsucht nach einer vierten Dimension. Eine anarchistische Gesinnung liegt ihm zu Grunde, die selbst vor den Naturgesetzen nicht Halt macht.

Stirner machte Halt davor und erkannte an, daß niemand aus einem Kreis herauskäme.

Jene modernen, kühnen, ganz vergeistigten Anarchisten aber wagen mit ihren Gedanken den Salto mortale heraus aus dem Kreise, und sie springen – ins Leere, oder – in die vierte Dimension, [294] in eine Ueberwelt, an die sie mit religiöser Brunst glauben oder glauben möchten.

Ab und zu verschwand Daniel auf einige Tage. Einmal blieb er wochenlang fort. Christa war in Sorge um ihn.

Er hatte sich in Süddeutschland in einem Kloster als Novize aufnehmen lassen, das Noviziat aber nur kurze Zeit ausgehalten. Kleinlich und elend wäre es gewesen.

»Warum wanderst Du so viel in der Welt umher?«

Er blickte zu Boden. Nach einer Weile sagte er:

»Drei Stationen muß ich zurücklegen, ehe ich in das wirkende Leben treten kann.« (Unwillkürlich mußte Christa an die Leidensstationen Christi denken.) »In der ersten Station muß ich immer fort von da, wo ich anfange, heimisch zu werden. Wo das Leben mich fesseln will, darf ich nicht bleiben. Jeder Ansiedelung widerstehen. Abschied nehmen können. Darum meine Wanderungen von Land zu Land, von Meer zu Meer.«

Er schwieg in sich versunken.

»Und die zweite Station?« fragte Christa.

Er sah auf mit einem Blick siegenden Mutes. »Wer in die Werkstatt Gottes (er hatte ihr noch nie gesagt, was er unter Gott verstand) schauen will, muß bis an den Eingang der Werkstatt gelangt sein. Der Weg dahin ist weit. Auf der zweiten Station heißt's: Schreiten! vorwärts, aufwärts, unaufhaltsam schreiten! Mein Fuß muß ehern werden. Ueber [295] Ruhm, Liebe, Wohlleben hinwegschreiten, ebenso sicher durch den Sand der Wüste wie hinauf zu steilen Höhen, unbeirrt – meinem Ziel entgegen. Auf dieser Station bin ich jetzt. Noch kann ich straucheln oder ermüden. Ist aber mein Fuß ehern geworden, sicher schreitend durch den Sand der Wüste, hinauf zu steilen Höhen, gefeit gegen Sonnenbrand und Sturm, dann bin ich zu der dritten Station gekommen, zu dem Punkt, wo ich bleiben werde, von wo aus mein Wirken beginnt. Etliche Jahre zur Vorbereitung habe ich noch vor mir. Entweder ich werde, was ich werden will, oder ich gehe zu Grunde, ohne Klage, schweigend, vornehm, wie der Stern, der im Aether zerrinnt.«

Oft schon hatte Christa ihn nach diesem Wirken, nach seinem Ziel gefragt. Er hatte ähnlich geantwortet wie Lohengrin der Elsa: Nie sollst Du mich befragen u.s.w. »Das Allerheiligste darf nur ein Geweihter betreten. Du, Christe, bist noch im Noviziat. Die Zeit wird kommen, wo ich es Dir künden werde.« Und Christa ahnte – nein, sie wußte –, Daniel suchte, oder er glaubte sie schon gefunden zu haben – die Sternenbahn, die hinweg über die Unfreiheit des Willens in das Sonnenland führt, wo der menschliche Wille seiner Fesselung ledig ist.

Unter Daniels Einfluß verfeinerte sich Christa immer mehr. Sie wurde nervenzart wie nur Frank es gewesen, die kleinste Roheit, die sie auf der Straße sah oder in den Zeitungen las, entsetzte sie. Ihr Geruchssinn wurde so empfindlich, daß sie eine verblühende [296] Blume im Zimmer nicht ertrug. Ihr ganzes Zeit alter empfand sie als grob.

Und Daniel wurde immer bleicher und asketischer.

Einmal kamen sie etwas erschöpft von einem Spaziergang nach Hause. Er nahm Thee, aß Kuchen und rauchte eine Cigarette. Christa war erstaunt und gerührt. Das war so einfach menschlich. Sie lächelte ihm zu wie einem Kinde, das sich in liebenswürdiger Weise gehen läßt. Er plauderte sogar von seiner Kindheit. Nie bis jetzt hatte er geplaudert.

Ihre Jungfer brachte ihr einen Brief. Sie las ihn und wurde nachdenklich.

Er sah den Poststempel: Konstantinopel.

»Trauriges, Christe?«

»Adrian von Lützow geht es nicht gut. Er bedarf sorgfältiger Pflege. Maria Hill schreibt es mir. Sie wird bei ihm bleiben, bis – ich kommen werde.«

»Und Du, Christe?«

»Ich bin schwankend.«

Er legte die Cigarette beiseite, und das lieb Menschliche schwand aus seinen Zügen.

»Ich weiß, Herr von Lützow hat Deinem inneren Leben fern gestanden. Mir scheint, Du irrst auch noch in meiner Welt wie in einem Labyrinth umher. Und klug hast Du Dir einen Ariadnefaden mit hineingenommen. Wirst Du mit mir scheu oder müde, so leitet er Dich in die alte Mechanik Deines Lebens zurück. Geh nur, geh, man wird der Heimkehrenden ein Kalb schlachten.«

[297] Und sie zerriß den Ariadnefaden. Sie schrieb »nein« an Maria Hill.


Es war Sommer geworden. Daniel gedachte sich auf einige Zeit, wie er es schon oft gethan, in ein süddeutsches Kloster zurückzuziehen, um eine Arbeit zu vollenden. Eine Schrift religiös mystischen Inhalts. Vorher wollte er sich einige Wochen der Erholung in dem idyllisch gelegenen Oertchen gönnen, das unterhalb des Klosters liegt. Mit Christa. Ein Unwohlsein hielt sie in Berlin zurück. Sie konnte sich erst zehn Tage später mit ihm vereinigen. Die Trennung und daß sie krank gewesen, hatte ihre gegenseitige Freude an dem Wiedersehen gesteigert.

Es war ein herrlicher Sommertag, als er sie vom Bahnhof abholte. Sie hatte nie reizender ausgesehen.

Nach einem einfachen Mahl unternahmen sie gleich eine Wanderung ins Freie. Er wollte ihr ein altes, romantisches Schloß zeigen und auch sein Kloster. Auf dem Rückwege würde der Mond scheinen.

Er war nicht ganz wie sonst, sie spürte eine leichte Unruhe in seinem Wesen.

Die Sonne war eben untergegangen, als sie auf den Hügel kamen, von dem aus man das Kloster sah.

[298] Wie damals, als Christa mit Frank am See stand, war das Firmament wie eine Transfiguration des Feuergottes. Aber mitten aus diesem brennenden Wahnsinn ragte ein dunkel dämmrig graublauer Hügel. Er hatte die Form eines Sarkophags. Auf einem kleinen Wasser vor dem Hügel ruhte ein mildleuchtender Reflex des Farbenrauschs.

»Wie eine Riesenthräne,« sagte Daniel, »die aus dem flammenden Aether gefallen. Seltsam, diese Feuerflut, die den dunklen Sarkophag umschließt. Es ist wie die Raserei eines purpurnen Schmerzes, als ränne das Herzblut eines Cherubs durch das All. Wer ist gestorben, oder wer stirbt?«

Daniel war traurig geworden vor dieser flammenden Maßlosigkeit.

Sie gingen weiter über eine einsame Haide. Am Ende der Haide stand das alte Schloß. Ein halb zerfallener, romantischer Bau, von einem morschen Gitter eingezäunt. Es stand inmitten eines wüsten, verwitterten Parks. Am Eingang ein kahler Baum, vom Blitz gespalten, der weithin seine Aeste breitete – ein düsterer, gespenstischer Wächter.

»Spukhaft,« sagte Christa. »Wollen wir nicht lieber umkehren?«

Sie gingen aber hinein. Der Boden war modrig feucht. Die Dünste bildeten in der Dämmerung Gestalten: einen Greis mit einem Silberbart, ein fliehendes Weib in weißen Schleiern. Auf einer morschen Holzbrücke ein Adler von Stein mit einem abgebrochenen [299] Flügel. Urnen, in denen Unkraut wucherte. Rings tiefstes Schweigen.

Die Dämmerung war eingebrochen. Daniel begann zu reden, mehr und schneller, als es sonst seine Art war, und noch dunkler und mystischer als sonst war auch, was er sagte. Ueber ihr Verständnis ging es hinaus. Ihre Lippen begannen zu brennen. Die Dämmerung war tiefer geworden. Sie ging unsicher auf dem unebenen Erdreich. Er nahm ihre Hand, um sie zu führen. Sie fühlte, daß seine Finger leise bebten. Leuchtkäfer durchschwirrten die Luft.

Plötzlich ließ er ihre Hand los und eilte einige Schritte voraus.

»Wir wollen hinaus aus diesem wilden, verzauberten Park.«

Er stolperte über einen Gegenstand, der hingestreckt am Boden lag. Er fiel, fiel auf den weißen Leib einer umgestürzten Statue. Er verletzte sich dabei die Hand, und Blutstropfen rieselten über den Marmor. Seine Lippen lagen auf der Brust des Marmorbildes.

Er wollte sich erheben, konnte nicht, umklammerte wild die weiße Göttin. Krampfhaftes Zucken erschütterte seinen Körper.

Sie neigte sich zu ihm nieder:

»Bist Du verletzt, Daniel?«

Ihre Stimme brachte ihn zur Besinnung. Er sprang empor. Zum erstenmal sah sie sein Gesicht verstört, von Leidenschaft durchwühlt.

Sie wollte seine Hand nehmen. Er wehrte ab. [300] Auf ihre Frage antwortete er nicht. So schnell schritt er aus, daß sie kaum folgen konnte.

Der Mond jagte über die Wolken. Als sie vor dem Hause, in dem sie wohnte, angelangt waren, sagte er leise:

»Sieh die Schatten im Mond. Haben sie nicht die Form einer menschlichen Gestalt mit einer Dornenkrone auf dem Haupt?«

Ja! Sie sah es auch.

»O Christe! Christe!« den Blick dem Mond zugewandt, ging er ohne Gruß von ihr.

Etwas Verhängnisvolles war geschehen. Sie wußte es, und sie ahnte, was es war.


Am anderen Tage wartete sie vergebens auf ihn. Am Nachmittag kam ein Brief. Er war aus dem Kloster datiert. Sie las ihn nicht gleich. Sie fürchtete sich vor dem, war darin stehen würde.

Sie ging hinaus bis auf den Hügel, von dem aus man das Kloster sieht. Und sie starrte hinüber auf die Eingangspforte, als müsse ihr Blick eine magische Gewalt haben, vor dem die Pforte sich öffnete und ihn herauszwänge, her zu ihr.

Erst als es fast dunkel war, riß sie den Brief auf.

»Ich liebe Dich, Christe. Und ich glaubte mich [301] frei von Sinnlichkeit. Ein halb vollendetes Werk muß ich von neuem beginnen. In strenger Askese will ich versuchen, wieder rein zu werden. Ich sehe Dich nicht wieder.«

Das Papier fiel zu Boden. Ein Luftzug nahm es mit und wehte es fort, weit fort.

Ihre weitoffenen Augen schweiften umher, erfaßten nichts. Und ohne vermittelnde Vorstellung, wie in einer Vision, sieht sie sich plötzlich im elterlichen Hause. Sie sieht, wie das Bogenlicht aus der Reitbahn die weißen, dichten Schneeflocken magisch durchleuchtet. Und sie sieht die Toteninsel, die schwarzen Cypressen und den weißen Priester.

Der weiße Priester, der den Sarg begleitet, ist Daniel, und in dem Sarge liegt sie selbst. Sie ist tot. Sie hört den Totengesang. Im Kloster drüben spielt jemand die Orgel: Daniel. Er spielt für sie. Eine Seele weint aus der Orgel.

Langsam geht sie nach Hause. Sie liebt Daniel. Sie liebt ihn seit dem Augenblick, wo er in der goldrosigen Staubsäule wie ein Heiliger gestanden.

Sie hat Adrian geliebt mit einer blumenhaften Sinnlichkeit. Ein Rausch des Geistes war in ihrer Liebe zu Frank gewesen, ihre Sinne hatten sich erst langsam an seiner Glut entzündet. Immer nur ein Teil ihres Wesens hatte ihnen gehört. Daniel erfüllte und durchdrang sie ganz und gar.

Wie sie in Daniels Gesicht nicht die Schönheit des Mannes, sondern eine vergeistigte Menschenschönheit bewundert hatte, so war auch in ihrer Liebe für[302] ihn der Mann wie ausgeschaltet. Diesen Menschen liebte sie, der in seiner geheimnisvollen Hoheit wie eine biblische Verheißung war, und der Erfüllung dieser Verheißung galt ihr leidenschaftliches Begehren. Zeugung und Empfängnis war darin.

Und doch war in ihrer Empfindung auch zarte Zärtlichkeit und leidenschaftliche weibliche Hingabe. Und auch seine äußere Erscheinung gehörte dazu: sein bleiches, schönes Priestergesicht, seine durchsichtigen Hände, seine tiefgrauen, von grünlichen Lichtern erglänzenden Augen.

Es giebt eine solche Liebe nicht, ohne daß die Sinne dabei sind?

Hoch und stolz – die Augen groß und madonnenhaft aufgeschlagen – richtet sie sich empor. Es giebt eine solche Liebe, denn ich habe sie.

Läßt die Natur nicht auf allen Gebieten unendliche, immer neue Variationen zu? Auch in der Brust des Menschen liegen goldene Felder brach für neue psychische Entdeckungen. Jene königliche Blume, die bisher nur alle hundert Jahre einmal blühte, ob sie unter anderen Bedingungen, bei einer anderen Kultur nicht alljährlich blühen wird?

Und nun ist der so Geliebte von ihr gegangen, und das Geheimnis seines Werkes hat er mit ins Kloster genommen. Und nie wird sie erfahren, worauf sie so lange mit seelischer Spannung gewartet. Liebeverlassen, gottverlassen – wer und was ist sie nun ohne ihn?

[303] Ohnmächtige, zehrende Sehnsucht zerreißt ihr das Herz.

Mit Zorn und Widerwillen denkt sie daran, daß es immer das erotische Element ist, das Mann und Weib trennt, wenn sie als Mensch zum Menschen kommen wollen. Bei dem Mann ist's immer so. Aber auch das Weib ist in diese Gefühlsweise verstrickt. Frank schied sich von ihr, als sie ihn nicht mehr liebte! Und Daniel geht von ihr, weil er sie liebt.


Gegen Sonnenuntergang irrt sie nun Tag für Tag in Herzens- und Seelennot um das Kloster herum. Sie weiß, um diese Zeit spielt er die Orgel.

In den ersten Tagen sang aus der Orgel ein tiefes, tiefes Heimweh, eine kranke, irdische Sehnsucht. Dann wurde das Spiel frommer, ergebener. Feierliche Töne mischten sich hinein. Sie weiß, er begräbt seine Liebe.

Und mit jedem Tag wurden die Orgelklänge heiliger, asketischer, und mehr und mehr entrückte er ihr.

Ein Gehölz lag auf dem Weg zum Klosterhügel. An einem Tag brach eine so wundersame Goldflut der untergehenden Sonne durch die Bäume, daß Christa eilig durch das Wäldchen lief, um die ganze [304] unverhüllte Schönheit des Naturspiels zu genießen. Es war eine Enttäuschung. Die Sonne lag reizlos wie eine große, überreife Orange auf dem matten, grauvioletten Himmel.

Es war eine Ideenassociation, als sie dachte: Wie – wenn nun die Enthüllung seines Ziels auch eine Enttäuschung gewesen, die geheimnisvollen, verheißenden Durchblicke das Beste daran wären, und die Entschleierung nur grauviolette Möglichkeiten zeigte?!

Das Bild von dem verflogenen Vogel, mit dem jener Kritiker Anselma so tötlich verwundet, kam ihr in den Sinn. Trennte auch ihn eine Glasscheibe von dem goldenen Aether, dem entgegen er seine morgenrötlichen Schwingen entfaltete, und er sah das Glas nicht und würde sich daran zerschmettern?

Und je mehr sie nachdachte, je skeptischer wurde sie. Am Ende war er selbst über seine Ziele im Unklaren und tappte durch Nebel und Wolken einer imaginären Sonne entgegen, die er durch das Riesenfernrohr brünstiger Ahnungen zu schauen wähnte.

Oder lag, was er wollte, in der schmalen Kluft, die ihn vom Wahnsinn trennte?!

Und sein Orgelspiel war an dem Tage, als läse er ihre Gedanken: leise, zerrinnende, verschwimmende, in Mondlicht getauchte Klänge.

Aller Stolz fiel von Christa ab. Sie wurde demütig. War sie wirklich mit Stirner, mit Frank, mit Daniel so viel gewachsen? Oder hatte sie nur Stelzen bestiegen? Auf denen hält man sich nicht [305] lange. Was quält sie ihr Gehirn ab? Es ist wie ein Rad. Sie bringt es ins Rollen, es rollt – rollt – ins Unbekannte, ins Nichts. Und wieder erhob sich vor ihr das Gespenst der Unfreiheit des Willens. Ein müder Trübsinn zehrt an ihr. Alles, was auf Erden geschieht, ist so schrecklich. Es erregt ihr Schauder. Ein Schauder, gemischt aus Widerwillen, Schwermut, Verwunderung. Hat man nicht erst kürzlich auf Tolstoi, einen Menschen, rein und groß, den Bannfluch der Kirche geschleudert? Und ein verdummtes Volk spuckt vor ihm aus. Kann man eine blutigere Satire auf die Menschheit schreiben?

Was sollte sie denn jetzt thun, damit ihre Lebenssäfte nicht ganz ins Leere rinnen? Sie wird an Maria Hill schreiben: Sie käme, um Adrians Pflege zu übernehmen.

Zu spät. Briefe von Maria und Adrian trafen ein. Die beiden hatten sich lieb gewonnen. Adrian willigte jetzt in die Scheidung, unter einer Bedingung – einer unerläßlichen – daß er ihr einen bestimmten Teil seines Vermögens überlassen dürfe.

Er war reich geworden. Seine Großtante, die Gräfin Oertzen, war gestorben und hatte ihm ihr Gut in Mecklenburg hinterlassen. Auf diesem Gute würden sie leben und dort ein chemisches Laboratorium grün den. Adrian hatte seinen Abschied genommen.

Viel Herzliches und Gutes stand noch in den Briefen. Adrian nahm einen zarten und liebevollen Abschied von ihr.

Christa war von Herzen froh, daß die beiden sich[306] gefunden. Allmählich aber wurde sie traurig. Warum fehlte gerade ihr das Talent zum Glück! Selbst Klarissa, die den Arzt, der sie geheilt, geheiratet, hatte es gefunden. Vielleicht fand sie es nur deshalb nicht, weil sie immer an der unrechten Stelle gesucht. Oder – ja – das wars – weil sie ein Uebergangsgeschöpf war.

Wie sagte Maria? »Wir begabten Frauen von heute, wir stehen alle auf einer schwankenden Brücke ohne Geländer, wer nicht schwindelfrei ist, stürzt leicht hinab ... Die neuen Ideen sind schon lebendig, die alten in uns noch nicht tot.... Wir haben die Nerven der alten Generation und die Intelligenz und das Wollen der neuen. Und gleich dem Moses, werden wir an der Schwelle des gelobten Landes sterben.«

Hätte sie nicht hinzufügen sollen: und am Ende der Brücke ist eine Sphinx? Das Rätsel »Weib« ist noch nicht gelöst.


Christa ist an das Wasser gegangen, das Daniel eine Riesenthräne genannt, die aus dem flammenden Aether gefallen. Wie – wenn sie sich in dieser Thräne auflöste?

Sie setzt sich an den Rand des Wassers. Die Orgel hört sie nur aus weiter Ferne wie das Echo einer Geisterklage.

[307] Selbstmord! Das Dasein ablehnen! Hat gerade sie ein Recht dazu?

Ist sie nicht eine von den Frauen, über die man die Achseln zuckt und sagt: Was will sie denn eigentlich? Ja, was will sie denn? Sie ist geliebt worden. Nie hat sie des Lebens Not kennen gelernt, kein tragisches Schicksal hat sie gehabt.

Und doch – – sind nur Hunger und Not und Tod, und daß der Geliebte von uns geht, tragische Schicksale?

Frank war ja auch ein Unglücklicher. Er war sein eigener Feind, sein eigenes finsteres Schicksal. Und Nietzsche? Wenig hat er erfahren, wenig gelebt, und ist doch eine tragische Persönlichkeit gewesen, wie kaum ein anderer. Früher wurden die Ketzer verbrannt, jetzt verbrennen sie sich selbst. Leidende, an sich Vergehende sind alle diejenigen, die – sie hat es ja schon gesagt – in die vierte Dimension wollen und die, wie Daniel, der sich von Gott und Religion losgesagt, mit frommer Gier in sich ein neues höchstes Wesen suchen. Sie haben »die Hostie nicht verdaut«.

Und Christa fühlt sich diesem Typus verwandt, in ihrem innersten Wesen ihm zugehörig. Freilich, sie ist nur ein dürftiges Reis jenes starken Stammes verwegen phantastischer Denker. Es fehlt ihr an Persönlichkeit, Geisteskraft. Sie ist und bleibt eine Berlinerin, eine kluge (vielleicht auch das nicht einmal), und möchte es doch so leidenschaftlich gern nicht sein.

[308] Ach, sie ist es müde, zur Menschheit zu gehören, müde, zu sich selbst zu gehören.

Sie versinkt in grenzenlose Melancholie. Die dürren Herbstblätter rascheln.

Das ganze Leben sieht sie im Bild jenes Menschen, der durch eine endlose Prairie reitet und den Ausweg nicht findet. Endlich glaubt er am Ziel zu sein. Da sieht er zu seinem Entsetzen, daß er sich an der Stelle befindet, von der er ausgeritten ist.

Sie neigt sich über den kleinen See. Ihr Spiegelbild, verzerrt, zitternd, starrt ihr entgegen. Sie glaubt sonderbare Töne zu hören wie das Echo eines Lachens. Lachte das Spiegelbild? Lachte sie selber?

Und nun lacht sie wirklich. Sie lacht über ihre Selbstmordidee. Größenwahn! als ob es für sie so wichtig wäre, ob sie ist oder nicht ist. Es kann ihr ja noch ganz gut im Leben gehen. Sie ist noch jung, von normaler Sinnlichkeit. Wahrscheinlich, daß sie noch einmal einen Mann lieb gewinnt, und möglich, daß sie wieder aufhören wird, ihn zu lieben.

Sie steigt wieder zum Hügel empor. Langsam schweben Wolkenmassen heran. Allmählich senken sie sich ins Thal im Kampf mit der Sonne. Zuckende Lichter fallen durch die schwarzen Schleier auf die Landschaft; hier und da glänzt ein Streifen auf, ein goldenes Band auf dunklem Grunde. Die Wolken jagen die Sonne. Sie flieht auf die ferne Bergspitze und ruht da als funkelnde Krone auf dem Bergeshaupt.

Auf der Hügelwiese eine leuchtende Schlange. [309] Sie hebt sich, schwebt aufwärts: ein Regenbogen von grandioser Pracht.

Eine Schar Kinder kommt daher in Begleitung frommer Schwestern. Sie hat die Kinder schon oft gesehen und zuweilen mit den Schwestern gesprochen. Kranke Kinder, von Skropheln verzehrte, die die Ferienkolonie aufs Land geschickt hat. Einige darunter hatten schon vom fünften Jahre an in Fabriken arbeiten müssen.

Und die Kinderschar trippelt gerade unter dem Regenbogen dahin, der wie die Eingangspforte zu einem Paradiese sich über ihnen wölbt.

Christa sieht ihnen nach, erschüttert von Mitleid. Und an dieses Gefühl reiht sich Gedanke an Gedanke. Und sie kommt zu einem Entschluß.

Die Eigenheit ruft Dir zu: »Komm zu Dir.« Wie aber, wenn es nun das Beste wäre, nicht zu sich selber zu kommen, sich gar nicht auf sich zu besinnen? An einem bestimmten Platz eine bestimmte Aufgabe er füllen und Nachts die traumlose Ruhe – den Schlaf. Thäte sie so, würde sie wenigstens nicht ganz überflüssig sein. Auch feine und duftende Stoffe wie die Lupinen werden als Dünger für neue Ernten in den Boden gepflügt. Sie würde sich mit ihnen vergleichen, hätte sie je so duftend geblüht wie sie.

Gedankenspiele!

Vor Jahren, als sie öfter mit früheren Schulfreundinnen, die Volksschullehrerinnen geworden waren, zusammenkam, und die jungen Mädchen ihr unendlich traurige Geschichten aus dem Elend dieser [310] Kinder erzählten, hatte sie einen Augenblick an den Beruf der Volksschullehrerin für sich gedacht. Ein vorübergehender Einfall.

Sie dachte auch jetzt nicht daran, Volksschullehrerin zu werden. Aber an dem Teil der sozialen Arbeit wollte sie sich beteiligen, der den Kindern galt. In welcher Art und Weise, wußte sie noch nicht. Möglicherweise würde sie ein Kinderheim gründen, mit Adrians Geld, das sie nicht zurückweisen konnte und das für sich zu gebrauchen ihr widerstand.

Ueber die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Individualismus und Altruismus hatte sie schon als junges Mädchen nachgedacht. Mit dem Stirnerschen Individualismus war sie nicht ausgekommen. Nun würde sie es mit dem Altruismus versuchen. Das harmonische Menschengeschlecht, das die goldene Brücke finden würde zwischen Christus und Stirner, war ein fernes Zukunftsideal.

Sie faßt ihren Entschluß mit aller Energie, deren sie fähig ist, aber ohne Freudigkeit, und doch sieht sie voraus, daß mit der Thätigkeit Freudigkeit und Liebe zum Werk kommen wird. Sollte sie schon einen Beruf ergreifen (die Vorstellung eines bestimmten Berufes war ihr von jeher antipatisch gewesen), dieser war der schönste, vornehmste, schaffendste. Das Kind ist das vornehmste Geschöpf unter den Menschen, denn es bedeutet die Zukunft, und die Gegenwart ist im Vergleich zur Zukunft immer Pöbel.

Das Recht des Kindes hat das Herz der Welt [311] noch nicht erobert. Sie hielt es für wahrscheinlich, daß das neue Jahrhundert, an dessen Schwelle sie stand, das Jahrhundert des Kindes sein würde.

Und wer weiß, vielleicht würde sie nun mit den Kindern gleich einem Kinde sein, das sich noch erst entwickeln soll.

Wie aber, wenn sie nun selbst Kinder gehabt hätte? Nicht eine ewige Wahrheit, daß in der Mutterschaft des Weibes Dasein wurzle?

Mit einer Gebärde souveränen Stolzes warf sie das Haupt zurück: »die Wahrheiten einer Zeit sind die fixen Ideen derselben.«

Das Kind hätte mir ein Mehr von Freuden und Sorgen gebracht. An meiner inneren Entwicklung hätte es nicht viel geändert. Nun und nimmer wäre ich nur ein Durchgang gewesen für Andere, nur dazu da, den Begriff der Mutter, der Familie zu illustrieren. Nach Begriffsgesetzen zu leben, hätte ich nie mich zwingen lassen. »Als Ich entwickele Ich – Mich.«


Am Nachmittag vor ihrer Abreise – in den ersten Tagen des November – stieg Christa zum letzten Male den Klosterhügel hinan. Das Gehölz war schon kahl. Nur eine kleine Gruppe von Bäumen brannte noch in der roten Pracht des Herbstes. [312] Vom Wind bewegt, von der Sonne durchleuchtet, glichen sie lodernden Fackeln. Der Himmel in seinem klaren Blau erschien bleich neben dieser Glut.

Christa mußte an den feurigen Busch denken, aus dem Gottes Stimme zu Moses redete. Zu wem redet heute noch Gott? Und wir verschmachten doch danach, die Stimme eines neuen Gottes zu hören.

Und die Orgel tönte, tönte, anders als sonst. Immer schneller wurde das Tempo. Die Töne schwollen an, brausten wie eine wilde Geisterjagd durch die erzitternden Lüfte, bald jauchzende Hallelujas, bald wie das Miserere eines Erzengels, der in die Tiefe stürzt.

Die Orgel war rasend geworden. Erschauernd senkte Christa den Kopf. Unwillkürlich faltete sie die Hände.

Ob er schon die schmale Kluft überschritten, die ihn vom Wahnsinn trennte?

Sein Wahnsinn aber würde schön sein wie der seines Freundes, der, seines Leibes nicht mehr eingedenk, in sublimem geistigen Haschischrausch durch Paradiese flog.

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TextGrid Repository (2012). Dohm, Hedwig. Romane. Christa Ruland. Christa Ruland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8011-5