Fünfter Gesang

Noch immer segn' ich euch, ihr schwermutsvollen Stunden!
In eurer Unruh' hat mein Geist die Ruh' gefunden.
Kein wahres Übel ist erhabner Seelen Schmerz;
Und edle Traurigkeit verbessert nur das Herz,
Noch immer segn' ich euch, empfindungsvolle Zähren!
Ihr fließt nur, um in mir die Tugend zu ernähren.
Ihr Menschen! die ihr euch um ird'sche Güter grämt,
Mitleiden Schwachheit nennt und euch zu fühlen schämt;
Die noch kein edler Schmerz zur Menschlichkeit geführet,
Die kein erhabner Zug der Zärtlichkeit gerühret,
Die aus Gewohnheit fromm, aus Trägheit tugendhaft,
Das Vorurteil erhöhn, das die Vernunft bestraft:
[104]
O seid ihr euch geneigt, so lernt an meiner Jugend,
Und glaubt, Fühllosigkeit ist keine wahre Tugend.
Oft seid ihr lasterhaft, wann ihr euch weise scheint:
Die Torheit lachet oft, wann wahre Tugend weint.
Glaubt nicht, daß Menschlichkeit, glaubt nicht, daß edle Zähren
Und reiner Liebe Trieb des Weisen Herz entehren.
Die Liebe fliehet ihr oft bloß aus Eitelkeit,
Weil ihr nicht glücklich g'nug, sie zu empfinden, seid;
Und weil der schwache Geist, mit Unverstand umhüllet,
Den mächt'gen Trieb nicht kennt, der edle Seelen füllet.
Der geiz'ge Claudius flieht der Verschwendung Reiz;
Und aus Verschwendung flieht ein Nometon den Geiz.
Sie schwärmen beide. Gut! wie soll ich diese nennen,
Die andre Triebe schmähn, weil sie sie noch nicht kennen
Und glauben, daß ihr Herz der strengen Tugend treu,
Und ihm der Himmel noch gar sehr verbunden sei;
Weil sie die Lüste fliehn, die sie nicht zu genießen
Und selbsten im Genuß nicht zu empfinden wissen?
Nein! Tugend nähret sich durch innerlichen Streit;
Der meisten Laster Quell ist die Fühllosigkeit.
Wann, schon vor Alter grau, Selencus, was er liebet,
Dem krank gewordnen Sohn mit spätem Mitleid gibet:
Soll dieses Tugend sein? Nein, hier vermiss' ich sie:
Gleichgültig, ist sie mir ein Anschein ohne Müh'.
Doch wenn ein Scipio, noch bei erhitzter Jugend,
Das, was er liebt, verliert, das nenn' ich Heldentugend.
Standhaftigkeit ist zwar des Weisen größte Zier:
Doch wo er standhaft bleibt, dort erst verzweifelt ihr.
Da, wo er menschlich weint, schämt ihr euch, mit zu weinen;
Ihr wollt nicht weise sein; ihr sucht es nur zu scheinen.
Ein Weiser bleibet groß, wann Erd' und Himmel bricht:
Ihn decken kann ihr Fall, doch ihn erschrecken nicht.
Er kennt der Lüste Wahn; sie reizen ihn vergebens:
Ganz still durchschleichet er den dunkeln Weg des Lebens.
Der Blitz, den andre scheun, erhellt nur seine Bahn:
Ihm dient sein furchtbar Licht, das ihn nicht schrecken kann.
[105]
Schnell irrt sein kühner Blick durch jene Ewigkeiten:
Welch ein vergnügter Blick! Er wird den Tod von weiten,
Doch auch der Seelen Trost, in jenem Schimmer sehn.
Die Stunden fliehn! er dankt, daß sie so früh vergehn.
Gelassen flieht er nun den Schwarm gedrohter Plagen.
Ein Cato weicht dem Glück; er kann sein Unglück tragen.
Kein aufgebrachter Stolz trotzt wütend dem Geschick.
Kein Aberglaube hält die kühne Faust zurück.
Sein Tod soll ihm nicht Schmach, doch auch nicht Ruhm erwerben:
Und mutig leiden ist noch mehr als mutig sterben.
Doch bei des Freundes Tod weint sein empfindend Herz:
Kein schlecht verstandner Stolz verbeißet seinen Schmerz.
Er will nur standhaft sein, jedoch nicht fühllos scheinen:
Er weinet, wie vielleicht die Engel selbsten weinen;
Und so, daß man dabei den Weisen nicht vermißt;
Er ist der Menschheit Ruhm, daß er noch menschlich ist.
Was ist es für ein Glück, daß Weise Menschen bleiben.
Ihr Herz nur wird gerührt, nichts kann den Sinn betäuben.
Von ihnen, Menschen, lernt, euch edler Tugend weihn:
Die größte Weisheit ist's, ein wahrer Mensch zu sein.
Ich seh' den Weisen nicht, wo mir der Mensch verschwindet:
Der kann nicht standhaft sein, der keinen Schmerz empfindet.
O Jüngling, wenn dein Herz sich echter Tugend weiht,
O so eröffn' es bald erhabner Zärtlichkeit!
Wer zärtlich denkt und fühlt, den quält zwar heft'ges Leiden:
Doch auch den Sterblichen sonst fast versagte Freuden
Erfüllen seine Brust und sind der Tugend Lohn:
Den Vorschmack fühlet er von sel'gen Freuden schon.
Wer zärtlich denkt und fühlt, den wird kein Hof verblenden;
Er wird auf beßres Glück die mut'gen Augen wenden;
Er sieht es, daß nur Lieb' und Freundschaft glücklich macht:
Und Lieb' und Freundschaft fliehn bei stolzer Fürsten Pracht.
Er wird nicht voller Wut nach falscher Ehre trachten,
Ihn weckt kein Feldgeschrei zu blutbegier'gen Schlachten.
Kennt ihn auch nicht die Welt: sie zu besitzen nicht,
Sie glücklich machen ist der wahren Tugend Pflicht.
[106]
Mausolens Grabmal trotzt den prächtigsten Palästen.
Dann, wann er zärtlich war, war Philipps Sohn am größten.
Es sucht kein edles Herz, von Zärtlichkeit gerührt,
Des Kaisers flücht'ge Gunst, die dich, Sejan! verführt.
Staatsstreiche nennet er sehr oft Verrätereien,
Und Falschheit wird er mehr als alles Unglück scheuen.
Wenn, Claudian! dein Geiz die arme Witwe drückt,
Die Flüche wider dich zum harten Himmel schickt;
Quält nach dem langen Tag die Sorge dich im Schlafe;
Fühlst du schon zum voraus die so verdiente Strafe.
O du, der Schätze häuft, o sieh dein Unglück ein,
Und lern der Zärtlichkeit ein edles Herze weihn!
Das Herz des Menschenfreunds wird Geiz und Wollust meiden:
Es fühlt sein Innerstes des Nebenmenschen Leiden.
Es weint, wenn jenes weint, und weinet unverstellt,
Und zeiget uns sein Herz, zu groß für unsre Welt,
Wann ein Apicius, von Wollust stets betäubet,
Dem Überfluß im Schoß, noch unzufrieden bleibet,
Und klagt, daß die Natur die Menschen eingeschränkt,
Und keine Lüste mehr abwechselnd uns geschenkt:
So lacht ein zärtlich Herz, nur fähig edler Triebe;
Es find't des Lebens Glück in einer reinen Liebe.
Zu niedrig ist für ihn der Lüste hitz'ger Brand,
Weil er ein besser Gut in Doris' Küssen fand.
Da wohnt die Wollust nur, wo reine Zärtlichkeiten
Ein jung unschuldig Paar zum keuschen Eh'bett leiten.
Ihm ist die Lust zu grob, die dich, Apitz, beseelt:
Nur das ist wahre Lust, die keine Reue quält.
Ein edles Herz kann nur von edlen Flammen brennen.
Und sollt' auch das Geschick ihn von der Liebsten trennen,
So folgt er dem Geschick, wenngleich sein Herze bricht:
Fühlt er gleich allen Schmerz; er schweigt und murret nicht.
Die Tugend liebt er mehr, die Liebste wie sein Leben.
Die Tugend nur allein kann sie ihm wiedergeben.
Die Seele bleibt nicht stets in der Gefangenschaft:
Er wird sie wiedersehn; drum lebt er tugendhaft;
[107]
Nicht tugendhaft aus Stolz, nicht tugendhaft aus Zwange.
Fehlt auch ein zärtlich Herz, so fehlt es doch nicht lange.
Es fühlt, daß Tugend nur uns recht vergnügen kann,
Und reuvoll kehrt er um nach der verlaßnen Bahn,
Zu stiller Tugendbahn, um noch mit edlen Tränen,
Verlöschend sein Versehn, die Weisheit zu versöhnen.
Die Zärtlichkeit hat erst zur Tugend mich geführt:
Durch sie ward meine Brust von deinem Reiz gerührt,
Zemire! sieht dich gleich mein traurigs Aug' nicht wieder,
Statt Tränen weih' ich dir empfindungsvolle Lieder.
Verschont sie ungefähr die strenge Flucht der Zeit,
So lebt dein Name noch und meine Zärtlichkeit.
So wird einst unser Ruhm im Munde künft'ger Schönen,
Vom Untergang befreit, bisweilen noch ertönen.
Ein Jüngling, der von der, die er geliebt, entfernt,
Den Schmerz der Zärtlichkeit gleich mir empfinden lernt;
Der tröstet sich vielleicht, wenn ich ihn klagend rühre,
Und preist die Zärtlichkeit und segnet dich, Zemire!
Vielleicht werd' ich alsdann aus unermeßnen Höh'n
Bei schauervoller Nacht mitleidend auf ihn sehn.
O Jüngling, tröste dich und trockne deine Zähren:
Dein Schmerz ist groß; jedoch er wird nicht ewig währen.
Der nur kann fühllos sein, den das Geschick bestraft;
Sei zärtlich, sei getrost und lebe tugendhaft!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Cronegk, Johann Friedrich von. Gedichte. Gedichte. 8. Einsamkeiten. Fünfter Gesang. Fünfter Gesang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-58FD-E