Ludwig Anzengruber
Der Einsam

[282] I

Die Glocken hatten vor langem geklungen, dann sang die Gemeinde in der Kirche, und jetzt ist alles stille; jetzt ist die Predigt.

Am Fuße des Hügels, auf welchem das Gotteshaus über das weite Tal emporragte, lag eine kleine Schenke; Klang und Sang waren dort an das Ohr der Greisin gedrungen, die unter dem Vordache im Gärtchen saß, bald vor sich nach den leeren Tischen und Bänken blickte, bald seitwärts nach einem schmalen Blumenbeete. Es hätte weder des Läutens bedurft, unter dem Sanktus und beim Offertorium, noch des Singens der Leute, sie hätte es auch ohne das recht gut gewußt, wie weit die heilige Handlung vorgeschritten sein konnte, nach dem Schatten des Vordaches, wie derselbe über die Gelbveigelstöcke zu ihren Füßen hinschlich – ei ja, scharfe Sinne hatte sie noch, aber an den Kräften, an den Kräften fehlte ihr's halt, sonst wär sie heut auch nicht heimgeblieben, um das Haus zu hüten; sie mußte selbst darüber lächeln, daß sie dazu bestellt war, die es keinem hätte wehren können, das ganze Haus fortzutragen.

Aber heut will die Predigt kein Ende nehmen. Unter dem alten Pfarrer, der vor kurzem verstorben war, war lang schon die Kirche leer und die Tische und Bänke rings von lärmenden Leuten besetzt; es ist halt eben ein neuer, der will sein Sach besonders schön machen, sonderlich, daß er so viel Wort aufwendt, und hat doch auch nur 's liebe Christentum zu bereden, wird er doch nichts aus eigenem dazutun?

[282] Jetzt sah die alte Frau, wie es oben an der Kirchentüre rege ward, erst kamen einzelne daraus hervor, blieben nach ein paar Schritten zögernd stehen oder eilten hastig davon, dann quoll es in einem breiten, wimmelnden Strome hintennach, wie ein Schwarm aufgestörter Ameisen aus einer Erdritze. Allen vorauf aber war der Wirt, ihr Sohn, mit dem Enkel, dem kleinen Anton, an der Hand; die langen Schöße des Sonntagsrockes des Alten flogen im Winde, und der Junge machte gezwungen die gewagtesten Sprünge, hinterher lief die Kellnerin Liese, die mit ihren kurzen Beinen immer ein paar Schritte zurückblieb.

»Gotts Donner, Liesel, wo bleibst?« rief der Wirt, in den Garten stürzend und sich behend wie ein Kreisel umdrehend. »Mein Janker, mein Fürtuch! Lei, lei!« Dann wandte er sich zur Mutter. »Die Kirch is aus.«

»Du Narrisch«, lachte die Alte, »seh's wohl. Nun, wie is er denn, der Neuche?«

»Ah, ein gscheiter Herr, ein rechter Herr schon, nur ein wengl resch, ein wengl resch halt.«

Die alte Frau streichelte die erhitzten Wangen des Knaben, der zu ihr getreten war. »Hast dir auch gmerkt, Tonl, was der geistlich Herr gsagt hat?«

»Wer alls in d' Höll kommt, hat er gsagt«, antwortete das Kind.

»Na, wer denn alls?«

»Die Ketzer, dann die Freimaurer, dann die Juden, dann die ... die ...«

»Die Lauen, die Lauen«, ergänzte der Wirt, indem er das Vortuch umband und den Rock der Liese über den Arm hing.

»Ja«, lachte die, während sie ins Haus ging, »nur die Warmen kommen in Himmel, zun Auskühlen!«

Die Alte sah der Dirne, über die lose Rede mißbilligend den Kopf schüttelnd, nach, dann murmelte sie: »So, so, also wieder einer, der 'm Teufel z' schaffen gibt.« Sie saß eine Weile sinnend. »Unser alter Kaplan geht auch fort?« wandte sie sich an den Sohn.

[283] »Ja, ich hör, morgen mitm frühsten.«

»So, so, schau, schau, muß der auch fort! Wär mer doch lieb gwesen, der wär verbliebn, war ihn und 'n seligen Herrn Pfarrer schon so gwöhnt, wann ich amal doch hab zur Kirchen hinkriechen können. Dreimal habn mich dö schon versehn, wer weiß, wie der Neuche mit einm herumtut? Ich schick mich so viel schwer in fremde Leut. Hätten's doch erwarten können, die zwei, der eine mitn Versterbn, der andere mitm Fortgehn, hätt kein so Eil ghabt; zwegn der klein Weil, die ich's noch mitmachen kann, wär's auch nit ausgwesen.«

Indessen hatten sich Gäste eingefunden, es begann ein geschäftiges Hinundherrennen in der kleinen Wirtschaft, und an den Tischen erhob sich ein Gemurmel und Gesumme.

»Mir gfallt er nit, gar nit, gar nit gfallt er mir, der Neuche«, sagte ein schmächtiger, bleich aussehender Bursche zu den umsitzenden, gleichfalls jungen Leuten. »Werdet sehen, jetzt kommt wieder eine Zeit, wo jeds zu Ostern wird sein Beichtzettel auf -weisen müssen.«

So leise er das gesagt hatte, so war es am Tische nebenan, wo eben der Wirt das Getränk auftrug und dadurch das Gespräch stocken machte, doch verstanden worden. Ein hagerer Mann, dessen schmales Gesicht scharfe Züge zeigte, wandte sich rasch nach dem Sprecher um. »Glaub's schon, Tomerl, daß dir das leid tut«, sagte er, »aber dem Zsammleben in der wilden Eh mit deiner Kathl, dem dürft jetzt a Ziel gsetzt sein, und auch d' andern solln sich gfreun, wie denen wird 's Gasselgehn abgwöhnt werdn! Hast ganz recht graten, wann d' meinst, daß gegen 'n Vorherigen der Neuche ein härtern Striegel führt.«

»Es hat's wahrlich auch schon not«, sagte ein anderer, »daß wieder ein Zeit ins Land kehrt, wo die Sünder zun zappeln anhebn müssen.«

»Wo drent eh Heuln und Zähnscheppern is?« klang es vom Burschentische herüber. »Sollt mer herent noch 's Zapplete kriegn? Dös is unbillig!«

»Ös Lotter ös«, schrie ein Weißhaariger über ein paar [284] Tische herüber, »spotts noch! So a Zeit, wie die jetzig Zeit is, hat's noch gar niemal gebn! Was mer aus einer heutign Zeitung lest, wie's in der Welt zugeht, so was hat mer in mein jungen Tagn nit z' lesen kriegt!«

»Weil's in dein jungen Tagn gar kein Zeitung gebn hat!« schrie ein Bursche dagegen.

Da fuhr der Lange am Nachbartische wieder empor. »Wird euch schon vergehn, der Spaß, und uns kann's nur lieb sein, wenn wieder da am Ort ein Zucht, ein Ordnung und ein Christentum is.«

»Ich denk, an die drei hat's unterm Seligen auch nit gfehlt«, sagte ein dickes, behäbiges Männlein, das neben dem Eiferer saß. »Ich hab nix gegen den Neuchen – bewahr –, aber allz' scharf macht leicht schartig. Nur ein Einsehn! Der Alte hat sich allzeit um sein Sach rechtschaffen angnommen.«

»Ei ja«, lachte der Hagere, »daß du uns 'n Alten vorruckst, dös versteht sich. Hat er ja doch, wie dein Dirn Hochzeit ghalten hat, ein Aug drüber zudruckt, daß die mitm Kranzl und mit Begleitjungfern vorn Altar geht. Gelt, jetzt gibst dich? Is auch gscheiter. Alle, die 'm Alten 's Wort reden, wissen wohl, warum sie's tun; freilich, du und deinesgleichen habt euch wieder ein seinsgleichen erhofft, aber 's hochwürdig Konsisturi weiß schon auch, warum's den Neuchen hergsetzt hat.«

»Wohl, wohl«, schrie der Dorfschuster, »so ein Herr taugt uns, der keine Übelständ duldt, nit geistlich, nit weltlich, wie auch recht is. Denn wie da aufm Bühel 's Gotteshaus über dem Gmeindhaus und über allem steht, so soll auch der Herr Pfarrer zuoberst in der Gmein stehn! Die paar Tag schon, seit er im Ort, hat er 'm Burgermeister ganz gute Einschläg in Gmeinsachen geben, und der, wie er gscheit is, ordnet sich ihm auch unter; auch der Schulmeister darf sich nit sperren, schon in der Schul muß der Grund glegt werdn ...«

Der Dorfschneider wollte nicht zurückbleiben und fiel dem Schuster ins Wort: »Jawohl, schon bei 'n Kindern! Das laue [285] Wesen und die laxe Mural, die sein am Rand, ein scharf Regiment und ein streng Zucht hebt an, und wir, denen schon lang all die Neuerungen nit anstehen, wir sein jetzt die Herren da am Ort.«

»Nit nur am Ort«, nahm der Lange wieder die Rede auf; »laßt's euch sagen, Manner, dös verbleibt nit in einm Sprengel, dös is für weiter anglegt, nit nur da im Ort, bald im ganzen Land werdn wir, die wir der Ärgernis müd sein, die Herren spielen können, und die selben, die's uns jetzt noch z' Trutz meinen möchten, solln's wohl verspüren!«

Da erklang vom Burschentisch eine Zither, und einer hob zu singen an:


»Geht's mer christlich nimmer zsamm.
Druckt's mich wie die Trud,
Heiß ich mich halt Abraham
Und werd a Binkljud!«
Sofort sang ein zweiter:
»Und wenn eppa drauf ich kimm,
Daß ich da nix wirk,
Heiß ich mich halt Ibrahim
Und werd gar a Türk!«

Eben griff ein dritter Bursche präludierend in die Saiten, die künftigen »Herren im Lande« schimpften laut, und es dürfte nicht lange mehr angestanden haben, so hätte wohl mancher Gerechte manchem Sünder Reu und Leid erwecken gelehrt und mancher Sünder manches Gerechten Geduld im Leiden erprobt, wäre nicht plötzlich am Zaune ein Mann vorbeigeschritten, bei dessen Erscheinen sofort Stille eintrat.

Die Bursche standen auf und rückten die Hüte, die Anhänger des neuen Seelsorgers neigten die Köpfe gegeneinander und begannen angelegentlich zu flüstern, um von dem Ankömmling keine Notiz nehmen zu müssen, und etliche Bauern, die, unbehaglich genug, mitten unter ihnen saßen, griffen an den Filz, ohne sich vom Sitz zu erheben, und lächelten verlegen; [286] nur der vorher geängstigte Wirt stürzte jetzt, aufatmend, herzu. »Ah, hochwürdig Herr Kaplan, das is schön, daß mer dich noch sieht vor der Reis. Also moring schon is's ernst, hörn wir, moring schon? Na, nit a bissel hereingehn auf a Abschiedströpferl?«

Der Angeredete war ein kleiner, beleibter alter Mann, ging in hohen Stiefeln, einem langen Rock von ziemlich grobem Tuche, wie ihn die Dorfschneider für die Landgeistlichen gewöhnlich fertigen, und das Kollare sah, gerade nicht sehr reinlich, unter dem verschobenen Kragen hervor; das runde, gutmütige Gesicht war von einem breitkrempigen Filzhute, wie ihn die Bauern tragen, beschattet, eine schwarzseidene Zipfelmütze guckte darunter hervor.

»Dank schön«, schnarrte der Kaplan, denn er behielt auch unterm Reden den kurzen Pfeifenstummel, aus dem er qualmte, zwischen den Zähnen. »Bin stark gangen, und lang kann ich mich nit aufhalten. Steig seit fruh in der Gegend hrum, hab mir noch mal alls angschaut und Abschied gnommen. Von 'n Leuten hab ich das nit not, is eh denen meisten lieb, daß s' mich ausn Gsicht kriegn. Na, geh ich halt jetzt schön stad nachm Pfarrhof und fang fein sauber langsam zun einpacken an.«

»Nimmst deine Vieher auch mit?« fragte der Wirt.

»Meine Käfer und Schmetterling? Die Fauna vom ganzen Viertel? Na, die werd ich doch nit dalassen?«

»Ei mein, so Schachtel- und Kistelwerk mitschleppen, mach doch a rnentische Unglegenheit.«

Diesmal nahm der Kaplan gar die Pfeife aus dem Munde, eh er den Wirt anfuhr: »Wo d' ein blauen Teufel von Wert einer Sach weißt, red nit!«

Da kam die Mutter des Wirtes, auf den Stock gestützt, an den Zaun geschlichen. »Na, du«, sagte sie, »du bist mir ein schöner hochwürdig Herr! Mich laßt du da ganz alleinig und gehst in d' Stadt.«

»Je, alte Martha, was tust denn du dich hermühen? Grüß Gott! Na, brauchst mer's nit z' neiden; wenn auch [287] nach der Stadt, ins Priesterhaus, in d' Versorgung halt, geh ich.«

»Dös kann ich dir wohl sagen«, flüsterte die Greisin, »mir gschieht völlig hart, daß du gehst. 'm Reden nach, obwohl viel mit ihm einverstanden sein, weiß ich mich mitm Neuchen nit aus, eh möcht ich 'n schier fürchten.«

»Brauchst kein Angst z' haben«, murmelte der Kaplan, »er is halt noch jung, sein Jahrn sind die unsern wie a Ratsel, da muß er erst auch so lang allweil im Kreis hrumgangen sein, dann begreift er's schon, wie eins müd wird, hinsitzt und der Welt zuschaut, wie's auch ohne seiner fortkommt. Er wird schon älter werdn.«

»Ja freilich wird er's amal, aber das erleb ich nit, und wie werdn mer sich wohl in der Zwischenzeit reden?«

»Laß ihm halt sein Freud und red nix dawider.«

»Meinst leicht, ich soll mer denken, 'du redst mer lang gut'?«

»Gedanken sein zollfrei.«

»Gott verzeih mer d' Sünd, aber d' heilig Weih von euch abgrechnet, da seids ös wie weltliche Hallodri, einer 'm andern aufsässig.«

»Jetzt is Zeit, daß ich geh«, sagte der Kaplan; er reichte ihr die Hand, »na, bhüt Gott! Mach halt noch dein Weil mit und bleib fein riegelsam dabei. Bhüt Gott, Wirt! Bhüt Gott, Leuteln!« setzte er für die wenigen hinzu, die ihn grüßten.

»Bhüt Gott! Bhüt dich Gott, Kaplan!« Die Alte schlich nach ihrem Bänkchen zurück.

»Glück auf d' Reis und ein schön Wetter«, rief der Schuster.

»Is eh gut, daß er fortkommt«, schrie der Schneider hintennach, »war sein Zeit nix mit ihm und jetzt schon gar, ein Junger muß an sein Stell, den sich der Herr Pfarrer ziehn kann, wie er 'n braucht.«

»Ho«, sagte einer am Burschentische und erhob sich und machte einen langen Hals. »Was beugt denn der Kaplan 'm Steig aus? Mein Seel, er nimmt d' Straßen, rundum und um, um die ganze Anhöh!«

[288] »Siehst denn nit«, sagte ein anderer, »daß vom selben Steig hrunter der Pfarrer und der Bürgermeister daherkommen?«

»Na, daher werdn s' doch nit kommen?« war die mehrstimmige Frage.

»'s macht aber keiner ein Trittl nach rechts oder nach links, sie halten sich gradzu.«

»Wirtshaus! Zahln!« lärmten die Bursche, warfen das Geld auf den Tisch und flüchteten fast unter den Augen des Gefürchteten.

Der Pfarrer war eine stattliche Erscheinung, von hoher, kräftiggebauter Gestalt, die Härte seiner Züge wurde durch die Völle und Frische seines Gesichtes gemildert; bleich und welk hätte dieses Antlitz mit den dunklen, feurigen Augen, der scharf gebogenen Nase, dem starken Kinn und den weit abstehenden Backenknochen wohl Scheu erweckt, während es jetzt nur den Eindruck überlegener Willensstärke machte. Aber nur in dem Sinne, wie es der Kaplan gemeint hatte, der eben über zwanzig Jahre älter war, konnte der Pfarrer für jung gelten, denn er zählte wohl fünfundvierzig.

Gar kläglich nahm sich neben ihm der Bürgermeister des Ortes aus; trotz er über Mittelgröße maß, war er doch bei seinem gedrungenen Körperbau, dem Klotzigen und Ungefügen jeder einzelnen seiner Gliedmaßen eher für klein und zurückgeblieben anzusehen. Seine Augen hatten sich durch eine längere Übung gewöhnt, über den Wülsten der unteren Lider eine eigene Achsenstellung anzunehmen, welche, seiner Meinung nach, dem Ausdrucke besonderer Pfiffigkeit entsprechen sollte; hätten nun auch nicht die Hängebacken und der breite Mund mit der vordrängenden Unterlippe dem entgegengearbeitet, die Nase allein würde alles verdorben haben, die fürchterliche Nase, so derb und so knollig, daß sie im ganzen Orte vertraulicherweise nur das »Heft« genannt wurde, und die so rücksichtslos aus dem Gesichte hervorsprang, als wollte sie aller Welt bedeuten, wie leicht der ganze Mann an ihr zu führen sei. Der Bürgermeister verdankte seine Ehrenstelle lediglich nur dem Umstande, [289] daß er der »Schwerste«, das heißt der Reichste, im Orte war.

Als die beiden in den Wirtsgarten traten, schoß der letzte, der unbehendeste der Bursche, an ihnen vorüber, ärgerlich lachend den Kameraden »Halts aus! Halts aus!« nachrufend.

Alle erhoben sich. Der Wirt behielt für eine Weile die Kappe in der Hand, die Kellnerin knickste und glättete ihre Schürze, selbst die alte Martha stand auf ihren Stock gestützt, sie mochte eben dem »reschen Neuen« keinen Anlaß zum Übelnehmen geben.

Der Pfarrer dankte mit einem kurzen Kopfnicken, einen scharfen Blick sandte er den Entflohenen nach, dann wandte er sich an den Bürgermeister: »Also das sind Eure Bursche? Von der Unmanierlichkeit will ich absehen, aber diese Eile, ihrem Seelsorger aus dem Gesichte zu kommen, deutet auf schlechte Gewissen und üble Aufführung. Sind alle so?«

Der Bürgermeister versuchte es, eine sorgenvolle Miene anzunehmen. »Es sein wenig anders«, sagte er. »Wär eh nit d' Halbscheid von sö in der Kirchen z' sehen gwesen, hätt s' nit d' Neugier hneintrieben, weil halt heut Euer Hochwürden erste Predigt war.«

»Auch das Kommen und Gehen der Leute hierorts gefällt mir nicht. Da tritt der eine verspätet ein, und der andere verliert sich mitten unter der heiligen Handlung. Ich sehe das sehr ungerne und werde es abstellen.«

»Schon recht, schon recht«, pflichtete der Bürgermeister bei. »Das is alles so eingrissen unterm Frühern, der hat derlei gar nit beredt; im Gegenteil, sein Wort war, wer nit freiwillig käm, der bleibet gscheiter weg.«

Der Pfarrer runzelte die Stirne.

»Ja, und alles ist überhaps gnommen worden«, fuhr der Bürgermeister fort. »Meßlesen überhaps, Beichthören überhaps, Predigen und Bußgäng, alls halt überhaps. Na, und der alte Kaplan, der hat dabei gar nit zählt, der war nur froh, wann er mit sein Fliegennetz hat recht fleißig herumsteigen [290] können. Is a seltsamer Herr, mit allm Gwürm und Viechwerk, was sechs Füß und Flügel hat, is er auf meilnweit bekennt, ordentliche Freithöf – Gott verzeih mer die Sünd – hat er daheim fürs Unziefer eingricht, da sein s' der Reih nach auf Nadeln aufgspießt, und wie große Herren haben s' a lateinische Grabschrift drunter stehn.«

»Ich weiß«, sagte der Pfarrer, »er ist ein leidenschaftlicher Entomolog.«

»Ja, ja, so einer is er, wie Euer Hochwürden sagen, ein leidenschäftlicher Entenmoloch. Gar kein Zeit hat er übrigbhalten, daß er sich um was Rechts hätt annehmen können. Ei wohl, durch die zwei sind wir dahin kommen, wo wir jetzt stehen; Hochwürden werden schwere Müh habn, dös alls wieder auf gleich z' bringen.«

»Die scheue ich nicht, und mit Gottes Hilfe will ich's bald dahin gebracht haben, daß ihm hier am Ort und unter meiner Seelsorge eine der eifrigsten und frömmsten Gemeinden im Lande dienen soll.«

»Ei wohl, da ist mir nit bang. Wir werden's schon machen.«

»Wir?« fragte der Pfarrer und sah den Vierschrötigen mit großen Augen an.

Dessen Nase zeigte sich mit einmal kupferig wie die eines Weinsäufers; das war seine Art zu erröten. »Bewahr«, stotterte er, »nit im Traum, daß ich dran denk, mich mit Hochwürden auf ein Staffel zu stelln, dös wär doch aus der Weis; ich wollt nur sagen, wir werdn schon tun, was Hochwürden anschaffen, wir werdn schon sorgen, daß in allem gehorsamt wird, wir, was mer die Ersten von der Gmeind sein.«

»Das erwarte ich auch«, sagte, sich hoch aufrichtend und im Kreise um sich blickend, der Pfarrer, »denn ich verlange, daß jedem einzelnen wie der Gemeinde die Religion über alles geht, ohne die ja doch das ganze Leben nur ein wüster Durcheinander wär, in dem sich keiner auskennen möcht; sie allein gibt uns durch ihre Offenbarung ein klares Bild von[291] Zweck der Schöpfung und Bestimmung des Menschen, und zwar von Erschaffung der Welt an bis zum Jüngsten Tag, und nun weiß sich ein jeder aus, wozu eigentlich er und alles andere auf Erden ist. Und wenn wir die Obrigkeit fragen, warum wir ihr gehorchen sollen, muß sie sich nicht auch auf die Religion berufen, die uns lehrt, daß die Obern von Gott eingesetzt sind? Darum gehört auch geistlich Regiment über das weltliche, und die Mächtigen sollten sich wohl hüten, ruhig zuzusehen, wie man täglich mehr und mehr Gott und die Vorsehung hinwegzuleugnen versucht; wär man erst mit dem Herrn im Himmel und den göttlichen Einrichtungen fertig, dann würde man hinterher mit den Herren auf Erden und den irdischen Einrichtungen wenig Umstände machen.«

Unter den Anhängern des »Neuen« erhob sich ein beifälliges Gemurmel: »Wohl, wohl, is eh a so!« – »Dös leucht ein, dagegen kommt keiner auf!« – »Der versteht's halt, der hochwürdige Herr, der versteht's halt!«

»Darum die Religion über alles«, fuhr der Pfarrer fort, seine Wangen röteten sich und seine Augen blitzten. »Es ist das eine notwendige und heilsame Unterordnung, und wie ich die mir anvertrauten Seelen zu leiten und zu führen gedenke, steh ich nicht an, offen herauszusagen, und mag es ein jeder hören. Durch den Satan zu Gedankenhochfahrt und Sinnenlust verführt, hat der Mensch schon im Paradies sich diese Welt verderbt; daß er nun nicht durch Lauheit und Liederlichkeit auch noch die andere Welt verspiele, die ihm durch Christi Blut erkauft worden ist, dafür zu sorgen, ist die Kirche eingesetzt! Ich werde streng darauf achten, daß das Gebet im Hause nicht verabsäumt wird, daß jeder die Andachtsübungen in der Kirche mitmacht, daß keiner von Bitt- und Bußgängen fernbleibt, daß alle die gebotenen Fasttage halten und die Gnadenmittel, die heiligen Sakramente, in vorgeschriebenen Zeiten und bei sonstigen Anlässen gebrauchen. Darüber soll mir nur ja keiner Klage führen, daß er dadurch Zeit und irdische Freud einbüßt; ein solches Opfer kann man ihm wohl auferlegen, da ihm dafür die [292] Ewigkeit und himmlische Freud in Aussicht steht. Räudige Schafe dulde ich in meiner Herde nicht, und ich hoff, daß wir darüber alle eines Sinnes sein werden. Wir wollen es nicht fehlen lassen an eifrigen Ermahnungen und eindringlichen Vorstellungen, will sich aber einer durchaus nicht bessern, so scheiden wir ihn lieber aus; ist es Bauer oder Bäuerin, so sollen sie unter uns keine Ansprache und nachbarliche Hilfeleistung mehr finden, ist es Knecht oder Magd, so soll ihnen der Dienst aufgesagt werden, ist es Sohn oder Tochter, wie hart es auch fallen mag, so soll ihnen nach den Worten der Schrift geschehen: 'Wenn dich ein Auge ärgert, so reiße es aus und werfe es von dir!' Mögen sie in die weite Welt laufen, wo sie die Prüfung durch Not und Elend, wie wir hoffen, zu Gott zurückführt, und wenn sie reuig heimkehren, werden wir sie mit offenen Armen aufnehmen, aber Ärgernis und bös Beispiel darf hier am Orte nicht zurückbleiben, wenn wir uns rechtschaffen des Widerchrists und der Widerchristen erwehren wollen!«

Er schloß mit einer kurzen Bewegung der Hand, gleich einer Abdankung der Hörer, und ging mit raschen Schritten auf den Tisch zu, den die Bursche verlassen hatten.

Bisher hatten sie alle gestanden, nun duckte wieder einer nach dem andern nieder. »Amen« und »Vergelt's Gott« murmelten etliche, wie nach einer Predigt.

Die alte Martha zupfte die Kellnerin am Rocke. »Sag mal, Liesl, wie heißt er denn, der hochwürdige Herr?«

»Eisner!«

»No schau, richtig, Eisner«, flüsterte die Alte vor sich hin. »Kann ich mich halt doch noch auf meine Augen und mein Gedächtnus verlassen. Da kenn ich 'n wohl, da kenn ich 'n eh. Daß aber er's is!« Sie kopfschüttelte. »Daß er's sein kann! Das macht mer erst recht bang.«

Plötzlich verstummte an den Tischen das wieder laut gewordene Gespräch. Am Eingange des Gartens zeigte sich ein etwa fünfundzwanzigjähriger Bursche, er ging barfuß und ohne Kopfbedeckung, trug lange, städtische Beinkleider und [293] eine Jacke, beide Kleidungsstücke von grobem Tuche, stark abgenützt und stellenweise grob geflickt, doch reinlich gehalten. Er schleppte sich mit einem großen Tonkruge. Sein feingeschnittenes Gesicht, das bleich und finster sah, war von langen Haaren, die ihm bis auf die Schulter fielen, umrahmt, und ein Flaum, der an den Wangen spärlich gedieh, aber über den Lippen und am Kinne kraus und wollig sich entwickelte, gab ihm das Ansehen, als trüge er einen gepflegten Schnurr- und Kinnbart. Er hielt den Kopf gesenkt und die großen, dunklen Augen unter den Lidern versteckt; nur jetzt, wo er unentschlossen stillestand, tat er einen einzigen raschen Blick vor sich hin, es war ihm der Eindruck nicht entgangen, den sein Erscheinen hervorbrachte, und es schien, daß nicht nur er vor den Leuten scheute, sondern auch diese vor ihm.

»Herrgotts Sakra«, brummte er, »vergiß ich wieder, daß heut Sonntag is, und komm da mitten in den Schwarm hnein.« Er trat ein und ging, ohne einen Blick seitwärts zu werfen, geradewegs auf den Wirt zu.

»Was willst denn du da?« fragte der unfreundlich.

»Der Proviant ist mer ausgangen. Füll mer mein Krug und gib mir ein Laib Brot mit; schau dir ja selber gern, daß ich wieder fortkomm.«

Der Wirt nahm ihm den Krug ab und schritt, von dem Burschen gefolgt, in das Haus.

»So, so«, sagte der lange Eiferer, »da habts 'n Einsam auch wieder herunt im Ort. No, heißt's wohl 'm Teufel ein Kerzen anzünden, oder gschieht bald a Unglück.«

»Wer ist denn der verwahrloste Bursche?« fragte der Pfarrer den Bürgermeister.

Der Gefragte seufzte tief auf. »Der? U mein, daß ich sag, das is wohl a Pfahl in unserm Fleisch, halt ja, a Pfahl! Wir heißen ihn 'den Einsam', weil er sich da oben auf einer hohen Felswand in einer Höhln eingwohnt hat, kein Ansprach sucht, auch nit leicht eine fand. Er hat einmal ein im Zorn erschlagen, und seit er ausm Strafhaus freigangen is, haust er in derer Weis; wohin er eigentlich zuständig is, [294] darnach hat niemal wer gfragt, er auch nit, er hat sich halt dahergmacht.«

Der Pfarrer sah erstaunt auf. »Und das duldet die Gemeinde?«

»Ja, Hochwürden, da sein noch andere Sachen. Man traut sich nit gegen ihn. Wann ihm 's Geld ausgeht, tragt er sich wohl ein Bauern zur Arbeit an, und die erst Zeit habn wir gmeint, mer könnt ihm von der Seit zu, und habn ihm 's Tagwerk verweigern wölln, wie aber paar Scheuern über Nacht in Feuer aufgangen sein, da hat ihm keiner mehr nein gsagt.«

»Na ja, ja, Burgermeister, schon recht«, mengte sich gutmütig der dicke Behäbige ein, der früher vom Langen so garstig abgeführt worden war, »nur mußt auch sagen, erwiesen is nix, kann leicht ein Zufall gwesen sein.«

»Erwiesen is nix, weil er schlau ist«, rief es von mehreren Seiten. »Wär's erwiesen, wärn wir 'n los!«

»Ihr hättet das eben von allem Anfange an nicht leiden und euch nicht einschüchtern lassen sollen! Wie kann man sich denn nur diese aufgezwungene Nachbarschaft und diese fortwährende Bedrohung des Eigentums gefallen lassen?« fragte erregt der Pfarrer, und seine feine, zarte Rechte krampfte die Finger in sich. »In der Kirche sieht man den Menschen wohl auch nicht?«

»Nie hat ihn keiner mit kein Aug drin gsehn, solang mer sich auf ihn besinnen.«

»Das geht nicht an! So ein Mensch, der weder nach Gott noch Welt frägt und wie das liebe Vieh dahinlebt, gibt ein Beispiel, durch das die ganze Gegend verwildern könnte. Dem muß ein Ende gemacht werden! Ich werde den Burschen ins Gebet nehmen, und wenn er zu Kreuz kriecht –«

»Hochwürden, der kriecht nit!«

»Nun, wenn nicht, so könnt ihr euch darauf verlassen, daß ich ihn fortzuschaffen weiß.«

»Wenn das gschäh«, meinte froh der Bürgermeister, »dann saget ich wohl 'Vergelt's Gott' im Namen der Gmeind.«

Jetzt kehrte der Wirt mit dem gefüllten Kruge und einem [295] Laib Brot unter dem Arme zurück, der »Einsam« tänzelte um ihn herum. »So gib mer's doch her«, sagte er, »so laß mer's nur tragn, laß mer's tragn!«

»No no, nur stad«, sagte der Wirt. »Da hast! Gib dein Geld und mach, daß d' fortkommst.«

»Fort werd ich gleich sein«, sagte der Bursche, »Geld aber kann ich dir keins gebn, weil ich keins hab, du weißt aber, daß d' es noch allmal kriegt hast. Muß halt wieder auf a Zeit ins Tagwerken gehn.« Jetzt hob er den Kopf, drehte den Hals und musterte mit einem schnellen Blick die Umsitzenden. »Ja, ja, ich muß ins Tagwerken gehn; wer nimmt denn dösmal 'n Einsam?«

»No, antragn wird dir keiner d' Arbeit«, sagte der Dorfschuster.

»Mußt dich halt einm anbieten«, sagte der Schneider.

Der Lange aber fuhr vom Sitze empor und schrie: »Tagwerken, sagst, tätst du? Tagwerken, du Tagdieb? Unheil stiftst, und 's Geld nimmst 'n Leuten dafür ausn Sack! Aber hüt dich, bald wirst nimmer der Gfürchte im Ort sein; der hochwürdig Herr da, unser neucher Pfarrer, hat's grad Red ghabt mitm Burgermeister, wie mer dir dein Unwesen ver-leidt; jetzt kimmt a neu Regiment.«

»Was kümmert mich der Pfarrer und der Burgermeister?« sagte der Einsam. »Oben in meiner Felslucken kenn ich kein Kirch und kein Gmeind, und was 's neu Regiment angeht, wenn's nur euch taugt, mir kann's gleich sein, ob alt oder neu, ob der Ochs im Joch oder im Kummet geht. Nur gegen mich darf sich keins zviel herausnehmen, 's könnt übel ausgehn, hüts euch, hüt sich jeder, der 'n Einsam noch nit kennt!« Er wandte sich zum Gehen.

»Halt, Bursche!« rief ihm der Pfarrer nach.

»Der Herr Pfarrer will mit dir reden«, schrie der Bürgermeister.

»Kann sein, aber ich will 'n nit hörn.«

Da riß es alle in die Höhe. »Halten wir ihn auf!« riefen sich mehrere zu. »Halten wir 'n auf!«

[296] »Haha«, lachte der Bursche. »Nur zu! Greifts mich! Kikeriki! Wer will sich denn 'n roten Hahn aufs Dach hetzen?!«

Der Pfarrer aber stieß die im Wege Stehenden zur Seite und stürzte bis zum Eingange vor. »Du lachst zu früh«, schrie er, »wir treffen uns schon noch!«

Da hielt der Bursche inne, wandte sein von Zorn und Trotz entstelltes Gesicht gegen ihn und rief heiser: »Wär vielleicht besser für uns allzwei, es unterbleibet!« Damit kehrte er den Rücken und schritt unangefochten seines Weges weiter.

II

Als der Kaplan von seinem Morgenspaziergange nach dem Pfarrhofe zurückgekehrt war, hatte er in aller Gemächlichkeit begonnen, seine Habseligkeiten einzupacken; dabei verqualmte er eine ganz erstaunliche Menge Tabaks, nicht aus seiner Stummelpfeife, die ihn nur auf seinen Ausflügen begleitete, sondern aus einer mit einem langen Rohre, und er ward ihrer nicht überdrüssig, obgleich sie ihn in seiner Beschäftigung behinderte, und er verlor nicht die Geduld, wenn sie auch regelmäßig, sooft er sich bückte oder niederkniete, den Tonkopf gegen den Boden stemmte und ihm den Federkiel in den Rachen stieß.

Seine Insektensammlung hatte er in zwei großen Kisten untergebracht und auf deren Deckeln mit ungefügen Strichen eine Flasche und die Worte »nicht stürzen« hingepinselt, seine Kleidungsstücke und Bücher lagen in einem Koffer unter Verschluß; es blieb ihm nur noch übrig, all jene teils nützlichen, teils notwendigen Gegenstände unterzubringen, die zwar einen sehr kleinen Raum einnehmen, aber für den augenblicklichen Bedarf im Hause wie auf der Reise eine desto größere Rolle spielen.

Als er aus einem Schranke ein Handkofferchen hervorzog, raschelte es im Innern; und als er auf- schloß, lag eine Photographie auf dem Boden, das Brustbild eines Bauernmädchens, [297] mit reichem Haar unter dem Kopftuche und kleinen blinzelnden Äuglein über dem Stumpfnäschen in dem vollen, runden Gesichte. Das Bild hatte durch Zeit und schnöde Behandlung arg gelitten, es war verblaßt und zeigte Fingerabdrücke. Der Kaplan griff das Blättchen auf und machte eine Bewegung, als wäre er willens, dasselbe in die Zimmerecke zum Kehricht zu werfen, aber er besann sich anders und legte es an seine Stelle zurück. »Dumms Dirndl«, schmunzelte er, »wär eine schöne Dummheit gewesen, wenn du damal dein Willen ghabt hättst, freilich, könntst 'n seither mit andern ghabt habn – ging mich nix an –, aber ich hoff zu Gott, daß du heuttags auch wo als rechtschaffene Bäuerin sitzst und dir ebensowenig vorzwerfen hast.«

Bedächtig griff er nun von den zurechtgelegten Stücken das eine um das andere auf, brachte es in das Kofferchen, reihte aneinander und schichtete übereinander, und als er damit zu Ende gekommen, klappte er zu und sperrte ab. Er atmete auf, streckte sich und trat an den Tisch, um sich eine frische Pfeife zu stopfen, die wievielte, wußte er selbst nicht, aber es machte ihn doch bedenklich, als er im Tiegel den Tabak bis auf einen geringen Rest dahingeschwunden sah; doch mit dem Gelöbnisse, daß es für heute die letzte sein solle, überwand er das Zögern und langte zu; dann setzte er sich in den Lehnstuhl, der an dem offenen Fenster stand, und sah hinaus in die Gegend. Geflirre, Gezwitscher und Gesang der Vögel war verstummt, es war Abend geworden. Ganz in der Ferne verlor sich das Tal unter einem leichten, fahlen Flor; graue Wolken standen über diesem, und ein schmaler, lichter Saum verriet, daß hinter ihnen die Mondsichel aufsteige. In der Abendglut aber leuchteten die kahlen Schroffen, lagen die Wälder in goldigbraunem Dufte und brannten ganz nahe die Fenster einzelner Hütten des Dorfes. Feierliche Stille lag über dem allen.

Doch Friede ist nicht in der Natur. Wohl uns, daß wir kein Auge dafür haben, wie nicht für die Dauer eines Atemzuges, eines Herzschlages die bildenden und zerstörenden [298] Kräfte ihre Betätigung aussetzen, daß wir in glücklicher Blindheit nicht sehen, wie kein Hauch verweht, kein Pulsschlag verrollt, ohne daß zahllose Wesen unter den Qualen des Werdens sich krümmen oder unter den Schrecken der Vernichtung vergehen! Nur die Menschenseele hat die Empfindung tiefen Friedens, selten und für kurze Zeit; sie wird ihn, der Verheißung nach, für immer haben, wenn die Brust über dem Herzen eingesunken sein wird, ob aber auch dann die Empfindung?

Der alte Mann, der da im Lehnstuhle saß, hatte sie in diesem Augenblicke voll und ganz, durch keine Frage, keinen Gedanken abgelenkt, durch keinen Schmerz, keine Leidenschaft beirrt, durch keine Erinnerung, keine Furcht getrübt. Ruhige Atemzüge hoben und senkten seine Brust, ganz im Schauen aufgegangen, genoß er rein das Gefühl des Seins, wo wir, des eigenen Selbst vergessend, plötzlich mit der Selbstlosigkeit des großen Ganzen in Harmonie treten und auch, aller Widersprüche bar und ledig, in dem Anblicke seiner größten wie seiner kleinsten Bilder sinnenden Auges uns verlieren.


Der Klang der Abendglocke schreckte den Kaplan auf, er stieß einen tiefen Seufzer aus und rieb sich die Stirne; ein grämlicher Zug überflog sein Gesicht, offenbar besann er sich auf etwas, das ihn gerade nicht angenehm berührte. Er erhob sich rasch, wechselte den Rock, verließ seine Stube, und nach wenigen Schritten über den breiten, aber kurzen Gang stand er vor einer Türe, an welche er pochte.

Innen blieb es stille.

Der Pfarrer lehnte am Fenster und sah in die Ferne, wo einzelne Gipfel eines Gebirgszuges hinter den Bergen, welche das Tal einschlossen, emporragten und, vor der scheidenden Sonne stehend, sich dunkel und scharf umgrenzt am Himmel abhoben. Schon vorhin, als er noch mit hastigen Schritten das Zimmer durchmaß, war ihm die eine Höhe aufgefallen, die zwei stumpfe, weit auseinanderstehende Zacken [299] zeigte und aussah, als hätte der Berg einst mächtige Hörner getragen und die wären ihm abgesägt worden. Er kannte den Berg; an dessen Fuße mußte das Dörfchen Gutenhofen liegen, dort wußte er eine ärmliche Hütte mit einem dürftigen Gärtchen, in welchem mehr Klette als anderes wuchs, und daran floß der klare Bach vorbei. Er fand oft den Weg dahin, der Straße nach, in Staub und Sonnenbrand, dem Wasser entlang und über dasselbe hinweg, in der Abendkühle und wenn die Steine, die man trockenen Fußes beschritt, im Mondlichte glänzten. – Das alte Weib war gestorben, zur Vordertüre trug man sie, das Tote, aus der Hütte hinweg, und durch die Gartenpforte ...

Der Pfarrer schüttelte mit dem Kopfe und streckte die Hände vor sich, als wollte er etwas abwehren. »Apage!« murmelte er. Er horchte auf, es pochte, und froh der willkommenen Störung, rief er ein kräftiges »Herein!«

»Guten Abend, Herr Konfrater«, sagte der Kaplan. »Ich bitt um Entschuldigung, falls ich belästig. Ich komm nur Abschied nehmen; ich hab mir gedacht, es ist besser, ich mach das heut noch spät ab, morgen früh dürft eben zu früh sein.«

»Wollen Sie Platz nehmen«, sagte der Pfarrer, indem er nach einem Stuhle deutete und sich selbst niederließ. Eine Weile saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber.

»Daß Sie den Entschluß gefaßt haben, sich zur Ruhe zu setzen, kann ich nur billigen«, hob der Pfarrer an. »Es bricht jetzt eine Zeit herein, wo es nach außen eines wahren Kampfeifers bedarf, um die Kirche gegen Anfechtungen zu schützen, und nach innen einer eisernen Strenge, um das festzuhalten, was sie unter den Händen hat. Nun scheinen mir aber Kampfeifer und Strenge nicht Ihre Sache zu sein!«

»Nein, das weiß Gott«, sagte der Kaplan, »wo sich was nit im guten richten laßt, bin ich nit der Mann dazu.«

»Ei, ei, so eingenommen für Milde und Nachsicht?« Der Pfarrer hob drohend den Finger, es sollte wie schalkhaft aussehen. »Am Ende benötigen Sie selbst derselben?«

»Wer denn nit? Jeder hat so seine Schwächen, aber ich [300] hoff, mein bissel Viehersammeln – ich tu s' ja nit martern – und das saker ... das Rauchen, halt das Rauchen, das rechnet mer unser Herrgott wohl nit für Sünd an.«

»Das hoff ich auch, habe mir ja nur einen Scherz erlaubt; jedoch im Ernst gesprochen, Gott mag Barmherzigkeit üben, dem Menschen geziemt es, strenge zu sein gegen sich und andere. An sich selbst lernt man das Bedürfnis nach Strenge fühlen, an sich selbst die Heilsamkeit derselben erproben. Ich habe mich einst ganz in die Hände der Obern gegeben, und sie haben mich in eine harte Schule geschickt, als Missionär nach einem anderen Weltteile.«

»Oh, so weit herumgewesen in der Welt, Herr Amtsbruder?«

»Ja, ich habe jahrelang im Sonnenbrande Afrikas den Wilden das Evangelium gepredigt; bin noch nicht gar so lange Zeit von dort zurück.«

»Ei, du mein, da ist mer halt doch ganz ausm Alten heraus, und es heißt, sich erst wieder drein eingwöhnen; ich geb zu, einige Wildling sein schon auch da, aber es dürft wohl anders mit sö umzgehn sein wie mit Wilde.«

»O ja, mit mehr Strenge! Die Wilden sind wie große Kinder, und es ist ganz merkwürdig, zu sehen, welche Einwürfe und Ausflüchte der Erbfeind den kindlichen Seelen zubläst, um sie gegen das Heil mißtrauisch zu machen und zu verhärten, aber am Ende bleiben sie doch Kinder und sind mit einigem Ernste eines Besseren zu belehren; hier aber habe ich es nicht mit Kindern, sondern mit großen Leuten zu tun, durch die Taufe in die Gemeinschaft der heiligen Kirche aufgenommen und von klein auf in deren Heilswahrheiten unterrichtet, und treffe ich darunter welche, die zu eigenem und fremdem Verderben sich gegen ihr Gewissen setzen und das anderer irreführen, dann bin ich der Mann dazu, der sie entweder zurecht-oder der Gemeinde aus den Augen bringt, und damit tu ich nur, was man von mir erwartet, denn meine Gesinnung war bekannt, eh man mich auf diesen Posten stellte.«

[301] »No ja«, seufzte der Kaplan, »ich merk schon, daß schärfer dreingangen werdn soll, das ist beschlossene Sach, und da hilft kein Reden; aber ich kann mer nit helfen, ein kleins Übergangl tat halt doch dazu not, wann das so auf ein Ruck kommt, das vertrutzt und verstockt die Leut, und der Herr Konfrater soll halt nit gleich brechen wollen, was nit auf der Stell biegen mag. Bsonders für zwei hätt ich gern ein gut Wörtl einglegt: Da ist der Bursch, den s' 'n Einsam nennen, jo mein, der laßt sich, wie er ist, nit so leicht um 'n Finger wickeln, da braucht's bevor schon a Zeit und Weil, bis mer 'n weich macht, und da ist noch der Schneider-Tomerl, der Sohn vom Flickschneider, gar ein armer Teufel, der ledig mit einer Dirn lebt, Not und Elend im Haus und ein kleins Kind dazu; ja, daß s' nit hätten zsamm sollen, das haben die zwei von Anfang an gwußt, das werfen sie sich heut gegenseits vor, und morgn will wieder keins vom andern lassen; der Jammer hat den Leuten ganz den Kopf verwirrt, will mer s' zsammhaben, so wolln s' auseinander, will mer s' auseinander, so wolln s' zsammbleiben, da möcht halt auch ein blind Dreinfahren leicht vom Übel sein, und mein Denken war, man wart zu, bis das Kleine ein bissel dreinplappern kann, dann ist man doch zwei gegn zwei, und redt sich leichter, wenn man dem sein Sach führt.«

»Das taugt nicht, Herr Konfrater«, rief der Pfarrer, »das taugt in Ewigkeit nicht, durch Zuwarten wird Ärgernis alt und übles Beispiel mächtig! Es ist leider nur zu lange zugesehen worden, und ich fühle mich verpflichtet, dem ein Ende zu machen, und werde ohne Zögern den beiden Burschen den Daumen aufs Auge drücken; der eine soll sich entschließen, zu leben, wie es unter Christenmenschen der Brauch ist, der andere soll die Dirne zu Ehren bringen, oder er soll sie lassen! Was etwa aus den beiden werden mag, wenn sie sich nicht fügen und vom Orte müssen, darüber habe ich nicht zu grübeln.«

Der Pfarrer erhob sich, der Kaplan, der seinem Beispiele folgte, trocknete sich mit einem bunten Sacktuche den Schweiß [302] von der Stirne. »No, nit für ungut«, sagte er mit vor Erregung zitternder Stimme, »daß ich mir überhaupt erlaubt hab, etwas zu bereden, aber ich wollt nit damit zurückhalten, weil ich gmeint hab, mein Wort, als von einm, der lang gnug hierorts war, um sich auszuwissen, dürft nit zu verachten sein, und weil ich darauf bedacht war, Unheil zu verhüten, das ich möglich kommen seh, wann ...«

»Kein Wort weiter in der Sache, Herr Kaplan«, unterbrach ihn der Pfarrer, »ich handle, wie mir Pflicht und Gewissen vorschreiben, und übernehme vor Gott die Verantwortung!«

»No, so empfehl ich mich halt, Herr Pfarrer, gehorsamer Diener!«

»Glückliche Reise! Noch eins ...«

Der Kaplan blieb, die Hand an der Klinke, stehen.

»Da Sie nach der Stadt übersiedeln, so dürfte es Sie wohl nur wenig beschweren, wenn ich Sie ersuche, dort nach einer Person zu forschen, die seit Jahren für mich verschollen ist.«

»Gern, bitt mir nur 'n Namen zu sagen und was ich sonst etwa zu wissen nötig hab.«

»Hm ja«, dehnte der Pfarrer, er blickte nach dem Fenster, außen war düstere Nacht geworden, rings waren Wolken aufgestiegen, und der Berg mit den Hörnerstumpfen war verschwunden. »Wir sprechen noch darüber«, sagte er kurz.

»Es ist wenig Zeit mehr.«

»Ich kann ja auch schreiben.«

»Nun, ist recht. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Kopfschüttelnd ging der Kaplan nach seiner Stube. »Vor Gott übernimmt er die Verantwortung!« murmelte er. »Die vor Menschen liegt doch näher; ich möcht nix vorm lieben Herrgott zu vertreten haben, was ich nit vor d' Menschen kann!«

Bald stand der Pfarrhof im Dunkeln, alle Lichter waren verlöscht und die Inwohner zur Ruhe gegangen. Der Pfarrer lag in tiefem, ruhigem Schlafe, und nur ein paar Schritte davon, in der Stube nebenan, quälten den Kaplan böse Träume – [303] er sah den gehetzten »Einsam« wie ein wildes Tier in das friedliche Tal einbrechen – auf einer endlos langen Straße ging der Schneider-Tomerl dahin und schlug mit seinem Wanderstecken nach großen, runden Kieseln, die am Wege lagen, wie auf geschorene, harte Pfaffenschädel, und bei dem einen Streiche rief er »just nit«, bei dem andern »zu Trutz« und »zwingen nit« – und weit unten, dort, wo sich der Bach ober der Mühle stauet, da fischten die Leute mit Stangen und Seilen den Leichnam einer Dirne aus dem Wasser, an deren Brust ein fahles, totes Kind angeklammert lag.

Er hatte eine recht unruhige Nacht, der gute, alte Mann.

III

Es war zur frühen Morgenstunde. Das Licht war noch nicht wach, und rings lag alle Farbe wie im Traum und sprach wie aus dem Schlafe. Es war um die Zeit, wo vor dem Tage ein leichter Schauer einhergeht. Ein Leiterwagen, mit zwei Pferden bespannt, die schnaubend aus einer Futterbarre fraßen, stand vor dem Pfarrhofe, dessen beide Torflügel weit geöffnet waren; in dem Flur bewegte sich schwerfällig ein dickes Frauenzimmer, das bald nach dem Wagen, bald nach der Treppe sah, es war die Pfarrköchin, welcher die Abreise des Kaplans so naheging wie der Tod des früheren Pfarrers; beide, für deren Abfütterung sie doch eine so rechtschaffen lange Zeit gesorgt hatte, gingen ja auf Nimmerwiederkehr.

Jetzt ward es laut auf der Treppe, zwei Bauernbursche schleppten sich mit der einen der beiden großen Kisten. Der Kaplan wollte seine Kostbarkeiten nicht aus den Augen lassen; unter fortwährenden Ermahnungen zur Vorsicht zwängte er sich wiederholte Male zwischen Wand und Kiste vorbei und war den Trägern bald voraus, bald neben, bald hinterher und immer im Wege, und als im Flur die Dicke angerufen wurde und, statt zur Seite zu treten, kopflos gegen die Leute anrannte und der Kaplan mit aller Kraft anfaßte, wo [304] nichts zu halten war, da geschah, was bei solcher mit störender Umsicht geleiteter Verhinderung zu erwarten stand: Die Kiste fiel polternd zu Boden.

Wäre es zu Zeiten des Mittelalters gewesen, wo es noch fruchtete und man daher leichter darauf verfiel, der Kaplan hätte die beiden Bursche sicher in Bann getan, so aber begnügte er sich damit, unter Anrufung von »Jesus und Josef« die Hände über dem Kopfe zusammenzuschlagen.

»Ös verdangelten Dodeln«, sagte er zornig, »ös hauts mer ja alles zsamm!«

»Na ja«, sagte der eine und kraute sich die Wange, »freilich, jetzt sein wir Dodeln. Wir täten sich ja eh leichter, wenn nit d' Jungfer Sepherl im Weg stehn und einm der hochwürdig Herr nit allweil untern Füßen hrumrennen möcht.«

Die beiden Angeschuldigten ließen sich bedeuten. Die Pfarrköchin nahm, dem Kaplane wiederholt die Hand küssend und drückend, Abschied und ging, vor sich hin nickend, nach der Küche. Ja, ja, was man erlebt, wenn man alt wird!

Der alte Herr stieg die Treppe hinan und blieb in seiner Stube, bis das letzte Gepäckstück hinweggetragen worden war, dann folgte er mit dem Handkofferchen.

Als er aus dem Tore trat, empfahl sich der eine Bursche mit vielen Kratzfüßen in ein gut Angedenken bei dem hochwürdigen Herrn. Der gab ihm einige kleine Münzen. »Oh, so wär's nit gmeint gwesen«, beteuerte der Beschenkte, »derhalb was anznehmen, müßt er sich ja frei schämen« – dabei schloß er die Hand –, »ganz für umsonst hätt's sein solln« – und damit schob er sie in die Tasche.

Der andere Bursche befand sich auf dem Sitzbrette des Leiterwagens, knallte mit der Peitsche und machte sich recht schmal, denn neben ihm sollte Platz, viel Platz bleiben für den Herrn Kaplan; der reichte eben sein Kofferchen hinauf und war im Begriffe aufzusteigen, da schlich einer heran, der ihm vor wenig Stunden durch die Träume spukte, der Einsam war es.

»Du fahrst fort?« sagte er.

[305] »Wie d' siehst.«

»Schad, dich hab ich leiden mögen. Hätt da was für dich, weil d' schon a Freud an solchenen Geziefer hast.« Der Einsam zog aus der Hosentasche eine Tüte aus steifem Papier, voll Büge und Beulen.

»No laß schaun.« Der Kaplan rollte das Blatt auf und fand einen jener Käfer, die man, ihrer langen, schön geschwungenen Fühler wegen, Böcke nennt, und der vorliegende war einer der rarsten aus dieser Familie, man konnte lange suchen, eh man einen solchen fand. Der alte Herr schmunzelte, als er aber das Exemplar dem Auge näher brachte und merkte, daß dem Holzbocke beide Hörner geknickt waren und die Hälfte der Beine fehle, da ward er ärgerlich, zerknüllte das Ganze, wie er es in der Hand hatte, und warf es von sich. »So zugricht«, brummte er.

»Na ja«, sagte der Einsam, »hab's ja gwußt, nit reden darf man mit euereinm.«

Da der Kaplan eine eigentümliche Bewegung im Gesichte des Einsam wahrzunehmen glaubte, so bückte er sich rasch und nahm das Papier wieder auf. »Na, sei kein Esel«, sagte er, »gift hab ich mich halt ein klein wenig, weil d' mer das Vieh ganz aus der Form bracht hast, weiter nix! So ein Tierl is ja kein Ochs, hättst schon können auch heiklicher sein!« Gutmütig lächelnd schob er den Knäuel in die Tasche; alles, auch das Wegwerfen, hat ja seine Zeit. »Werd halt schaun, wie ich 'n auf gleich bring. Dank dir schön; nun, bhüt dich Gott!« Er klopfte ihm auf die Achsel. »Und sei jetzt fein gscheit, du!«

Der Einsam blickte mit geringschätzigem Lächeln nach dem Pfarrhofe und schüttelte den Kopf.

Der Kaplan war auf seinen Sitz geklettert. »Na, nit trutzen, lieber nachgeben, gscheit sein! Vorwärts!«

Der Wagen fuhr dahin.

Der Einsam stand, mit dem Rücken gegen den Pfarrhof, und sah dem Fuhrwerke nach. Plötzlich faßte ihn eine schwere Hand an der Schulter, rasch wandte er sich um und [306] befand sich dem Pfarrer gegenüber, blitzschnell mit einem Sprunge kehrte er sich ab und wollte fort.

»Fürchtest du dich vor mir?« fragte der Pfarrer.

Da blieb der Bursche stehen.

»Sagte ich nicht, wir werden uns schon noch treffen?« fuhr der Pfarrer fort. »Nun hätten wir uns getroffen, ich denke aber, es wird für keinen von uns so gefährlich ablaufen, wie du dir einzubilden scheinst.«

»Möcht's schon selber glauben; wann nur du nix anfangst, ich nit!«

»Du bist gekommen, vom Kaplan Abschied zu nehmen, warst du ihm denn so zugetan?«

»Weißt, er hat mir eben nie nix wolln, nit in Gutem noch im Üblen.«

»Hättest du ihm denn übelgenommen, wenn er dir Gutes gewollt?«

»Na schau, mir is halt lieber, es will mir einer nit so und nit anderscht.«

»Sage mir einmal, wie heißt du denn eigentlich?«

»Ich heiß nit anders wie der Einsam.«

»Du mußt doch Eltern gehabt haben, nennst du dich nicht nach ihnen?«

»Eltern? Hehe, no ja freilich, zwei müssen wohl dabeigwest sein, aber ich hab nur d' Halbscheid von sö kennt, mein Mutter, mit der ich d' längst Zeit in Fried glebt hab; die andere Halbscheid, dö sich weniger um mich kümmert hat, war mir zu kein Vierteil bekannt – und war dös zviel –, und war dös mein Unglück, derhalb die, von der ich gwußt hab, nix mehr von mir hat wissen wolln.«

»Sprich deutlich, rede dich aus.«

Der Einsam sah dem Pfarrer gerade ins Gesicht, dann neigte er den Kopf nach der Richtung, in der vorhin der Wagen davongefahren war, und sagte: »Der war nit so neugierig wie du.«

»Es geschieht nicht aus müßiger Neugierde, daß ich dich zur Offenheit auffordere, meine Pflicht legt mir das nahe. [307] Ich weiß, du bist eines schweren Verbrechens wegen in Haft gewesen, darum hat dich wohl deine Mutter verstoßen?«

»Aber sie war nit im Recht, wär sie im Recht gwesen, auf die Knie hätt ich mich vor ihr hingworfen und ihr Verzeihen erbettelt, aber sie ist nicht im Recht gwesen, und darum bin ich gegangen, wie sie mich weggwiesen hat, und bin ihr nimmer kommen, nit in ihrer Todesstund!«

»Du bereust nicht eine so schwere Tat?«

»Nein!«

»Du sagst so kurzweg nein?«

»Weil ich nit kann.«

»Wie, eine so furchtbare Versündigung, die einem deiner Mitmenschen den Tod brachte, ihn vorzeitig aller irdischen Freude, ja vielleicht sogar der ewigen, beraubte, da sie ihn unvorbereitet vor den Richterstuhl Gottes führte, die gilt dir nichts?«

»Versteh mich recht, wenn man ein in einm falschen Meinen aufwachsen laßt, da kann wohl sein Hand und sein Sinn beim Übeltun sein, aber sein Verschulden is nit dabei; darum, was mir schwer auf der Seel liegt, das is meiner Mutter aufs Gwissen gfallen, das hat sie unter die Erd bracht – doch nix von ihr, soll s' in Fried ruhn! Meinst aber, daß ich's den Leuten übelnahm, wann sie sich von mir fernhalten? Bewahr, ich selber möcht ja mit keinm verkehrn, wie ich einer bin. Ich und die Leut, wir taugen nit zsamm, und rechtswegen ghör ich gar nit da in d' Welt hnein!«

»Doch! Vertrau dich meiner Führung an, ich will dich mit Gott, der Welt und deinen Mitmenschen wieder versöhnen.«

»Da machst dir ungschaffte Arbeit und unternimmst ein unmöglich Ding. Als der Einsam, wie ich bin, find ich mich noch am gscheidesten in der Welt zrecht und mitn Leuten ab und dö sich mit mir. Mein Recht, wie im Buch steht, is mir wordn, auf ein Verzeihn, dös hab ich gsagt, steh ich nit an, und mehr wie der Herrgott wirst du wohl auch nit imstand sein, selb der kann Geschehnes nit ungschehn machen, und dös wär's alleinig, was mer half.«

[308] »Sei klug, laß dich zur guten Stunde bedeuten! Als eine Bitte von mir leg ich dir's ans Herz, mache wenigstens den Versuch, hause nicht weiter in der Wildnis, wohne dich unter den Menschen ein, lebe wie sie, suche da Trost und Erbauung, wo sie diese suchen, und du wirst dich beruhigter fühlen, und sie werden dich wieder wie ihresgleichen betrachten.«

»Sei doch nicht aufdringlich. Wenn ich schon selber sag, ich nahm mich niemal mehr dafür. Glaub wohl, daß s' gegen mich heucheln möchten, dir zlieb, soll ja auch der ganze Handel nit mir zlieb sein! Wie der Förster d' jung Hund abricht, jetzt wixt er s', drauf streichelt er ihnen 's Fell, nur damit er, wenn Gäst kommen, a Ehr aufhebt mit der Dressur, so willst auch du, daß ich fleißig in d' Kirch renn und bet, damit d' a Ehr aufhebst vor der Gmeind; ich laß mich aber nit dressieren. Laß mich verbleiben, wie ich bin, ich tu ja keinm ein Übel!«

»Sagt man nicht, daß du Feuer an die Scheunen legst, um die Bauern fürchten zu machen, so daß dir keiner Arbeit zu verweigern wagt?«

»Sagn tut mer's freilich«, grinste der Einsam, »aber gschehn is's nie; doch red ich nix dagegen und laß die Leut auch bei einm Glauben, von dem ich mein Nutzen zieh, just wie du, Pfarrer!«

»Bursche! – Ich seh wohl, mit dir ist im guten nichts zu richten, so sage ich dir denn kurz und bündig, ich werde dich nächsten Sonntag in der Kirche sehen –«

»Da müßt gute Augen haben.«

»Du wirst dich sonntags in der Kirche einfinden! In meiner Gemeinde soll sich keiner auf dich berufen, wie man wohlmeinenden Rat zurückweist und dahinlebt, ohne eine Pflicht gegen Gott noch Menschen anzuerkennen! Also entweder ...«

»Spar dein Entweder! Ich komm nit, dadrauf kannst Gift nehmen.«

»Du gehorchst nicht?«

[309] »Wer bist denn du?« schrie heftig der Einsam. »Was hast denn du mir z' schaffen?«

Da faßte ihn der Pfarrer an der Brust. »Lump, soll keiner Herr über dich sein?!«

»Weißt, Pfaff«, keuchte der Bursche, »tu dein Pratzel da weg, es möcht dich verdrießen, wenn ich dir eine draufhau.«

Der Pfarrer fuhr zurück, wie von einer Natter gestochen. So standen sie sich gegenüber, der Mann bleich, der Bursche glutrot vor Zorn.

»Elender«, zischte der Pfarrer zwischen den Zähnen hervor, »dann schnüre dein Bündel, falls du eines zu schnüren hast, deines Bleibens ist nicht länger. Du sollst fort!«

»Holst du mich vielleicht herunter?« höhnte der Einsam.

»An dir mich besudeln?! Die Gendarmen werden dich schon auszutreiben wissen.«

»Solln nur kommen, zeitweis bin ich ja auch Jäger, mein Stutzen hab ich gleich z' Hand.«

»Entsetzlicher Mensch, du sinnst darauf ...?«

»Sinn du nit! Zu sein, wie ich bin und wie ich mag, wenn ich niemand was in Weg leg, das ist mein Recht, und dadrum wehr ich mich gegen jeden, den d' auf mich hetzst; denn du selber – wie ös allmal, ob ös eins ins Leben setzts oder drum bringts –, du haltst dich fern dabei, und a gute Nase hast schon, denn da müßt doch der Teufel lachen, wenn sich a Pfaff mit einm Pfaffenbankerten rauft!«

»Was sagst du?«

»Mein Vater war grad so ein heiliger Mann wie du!«

»Barmherziger Gott!« stammelte der Pfarrer, dann streckte er die Arme abwehrend von sich und schrie: »Hinweg! Fort! Weit fort, mir aus den Augen!«

Lachend kehrte der Einsam den Rücken und wandte sich zähnebleckend wiederholt zurück, als er auf dem schmalen Fußsteige den Hügel hinabschritt.

Und die Sonne war über die Berge heraufgekommen, und das Tal lag im freundlichen, hellen Morgenlichte.

[310]

IV

Daß sich die Bursche montagabends im Wirtshause versammelten, war hergebracht, daß ein oder der andere Bauer dorthin kam, um seinen Abendtrunk zu sich zu nehmen, war nichts Besonderes, heute aber hatten sich auch die Frommen eingefunden, der Lange, der Schuster und der Schneider und die andern, deren Art das sonst nicht war, und darum gab es an dem Burschentische verwunderte Gesichter und lange Hälse, und die gewöhnlichen Gäste saßen ziemlich unbehaglich unter den seltenen.

»He, Wirt!« rief der Lange.

»Bin schon da«, sagte der Gerufene hinzueilend.

»Weißt's schon?«

»Was?«

»Wirst bald ein Kundschaft verlieren.«

»Wär mir nit lieb.«

»Wird dich nit kränken, 'n Einsam mein ich, der soll austrieben werdn. Freilich, was d' ihm gestern noch auf Borg geben hast, das kannst wohl mit der Kohlen in Rauchfang schreiben.«

»Soll's hinsein, ich büß's gern ein, wenn wir den nur loswerdn! Aber wieso geht denn dös mit einmal so schnell?«

»Der Burmeister is weggfahrn«, sagte der Schuster.

»Heut fruh noch beizeit«, krähte der Schneider.

»Weiß ich ehnder«, meinte der Wirt, »aber wohin denn?«

»Laß dir sagen, laßt euch sagen«, begann der Lange, »ich hab's vom Gmeindschreiber. Der Herr Pfarrer is heut fruh auf d' Kanzlei grennt kommen und hat gsagt, der Einsam müßt weg; in gutem, dasselbe hätt er schon heraust, wär mit dem nix z' richten –«

»War eh unser Reden«, brummten etliche dazwischen.

»Ganz unbotmäßig hätt er sich gegen ihn, 'n hochwürdig Herrn, aufgführt, und – dös hat mer der Gmeindschreiber gsagt – nit schlecht muß er aufbegehrt haben, weil der Hochwürdig nachträglich noch völlig gsprungen is vor Gift. Na, [311] der Alte wollt erst a Gschrift aufsetzen und ans Schandarmeriekomanda schicken, aber der Pfarrer hat gleich gsagt, selb dauert z' lang, gäb leicht a unnötig Schreiberei hin und her, gscheiter, der Burgermeister setzet sich selber auf, fahret nach der Kreisstadt und brächt vorm Herrn Kommandanten die Beschwernus vor, so daß mer ohne viel Federlesen den Burschen aufgreift, zum Ausweis verhalt und dahin abschiebt, wohin er zuständig is.«

»Ah, so mir nix, dir nix laßt sich der nit aufgreifen«, sagte der Schuster, »ich hab ja ghört, er hat sich verschworn, daß er auf sie schießt.«

»Und der halt sein Wort, da gibt's Mord und Totschlag!« schrie der Schneider.

»Nur zu, nur zu«, rief der Lange, »soll sich nur zur Wehr setzen, wann s' 'n dann kriegn, lassen s' ihn nimmer so bald wieder aus!«

»Jesses, nein«, sagte der gutmütige Behäbige, »wann ich denk, wie leicht da eins zum Krüppel gschossen werden kann, da bedauern mich doch die armen Leut, die Schtandari.«

»Ach was«, entgegnete der Lange, »das is ihner Brot, und ohne uns Bauern gäb's gar kein Brot, und drum muß der Kaiser auf uns schaun, und seine Leut müssen uns beistehn.«

»No, ein schweren Stand werden s' schon haben«, meinte der Schuster, »denn selb ist gwiß, was sich für Gsindel da in der Gegend aufhalt, dös wird alls 'm Einsam zurennen und ihm helfen.«

»An die hundert finden sich sicher zsamm!« schrie der Schneider.

»Laß dich nit auslachen«, sagte der Lange. »Ein oder der andere möcht's etwa willens sein, wann er davon erfahret, dazu bleibt aber gar kein Zeit, daß a Kundschaft auskommt, dafür is ja alles so eingfädelt, daß vielleicht morgen schon der ganze Rummel vorbei is! Ah, der Herr Pfarrer, der weiß sich aus, der fackelt nit lang hrum, dös is unser Mann, und dös sag ich, Manner, daß mer sagen kann, von heut [312] an hebt sein Herrschaft an und die unsre, was wir zu ihm halten!«

Die Herrschaft derjenigen, welche zu dem Pfarrer hielten, war wenigstens schon so weit gediehen, als sie jetzt aufbrachen – weil kein anständiger Christmensch das Abendläuten im Wirtshaus abwarte –, daß auch jene, deren Mann der Pfarrer just nicht war, gleichfalls zahlten und gingen.

Die Bursche waren jetzt unter sich, und der Schneider-Tomerl beugte sich über den Tisch und flüsterte: »Hörts, Bubn, solltn wir nit zsammhalten und 'm Einsam helfen d' Schtandari verjagen?«

»Ah, daß mer etwa ein Banganetstich in Leib krieget oder angschossen wurd?« sagte einer.

»Dazu sein mer uns z' gut«, meinte ein anderer.

»Und der Einsam z' schlecht«, ein dritter.

»Und Kamerad is er ja nit zu uns!« erklärte der erste. »Nein, er is kein Kamerad«, murmelten alle.

»Aber verwarnen sollt mer 'n doch«, sagte der Tomerl.

»Das kannst schon tun«, sagte einer, »das tu nur, daß 'n nit unversehens überfallen und ausm Nest nehmen wie ein nacketen Vogel; er soll sich nur wehrn für sein Teil. Wieviel werden s' ihm denn auch zutraun?«

»Zwei, mehr nit.«

»Hat er zu seiner Schneid a wengerl Glück, wird er selb alleinig mit dö fertig. Zahln, Wirt!«

Auch die Bursche gingen, sie wollten nicht länger beim Weine sitzen bleiben, am Ende hätte doch die Rauflust erwachen und den klugen Entschluß, sich nicht einzumengen, rückgängig machen können, denn ein kluger Entschluß ist es immer, zuzuwarten, bis neu Regiment älter wird und Klauen und Zähne, die es anfangs so bedrohlich wies, sich abstumpfen.


Der Pfarrer hatte den Tag über auf seiner Stube gesessen, Bücher lagen vor ihm aufgeschlagen, mochten ihn aber wohl nur wenig beschäftigen, denn oft hob er sich von seinem [313] Sitze, ging mit raschen Schritten auf und nieder, hielt dann inne und blickte eine geraume Weile zum Fenster hinaus, von welchem man weit die Straße übersah; von Zeit zu Zeit zeigte sich auf derselben ein Gefährte, aber wenn die Staubwolken verflogen und es sich erkennen ließ, war es ein anderes als das erwartete. Nun es Abend geworden war, griff der Pfarrer nach Hut und Stock, verließ den Pfarrhof und ging hinaus aus dem Dorfe, der Straße nach. Eine gute Strecke hatte er zurückgelegt, da hörte er ein Wägelchen heranrasseln, er blickte auf, der Bürgermeister saß auf dem Kutschbocke, er rief ihn an, und der Dicke riß die Zügel an sich. »Je, Hochwürden, da aufm beschwersamen Weg? Mein Jesus, ich hätt mer ja doch selber die Ehr genommen und heut noch aufm Pfarrhof zugsprochen.«

»Laßt's gut sein. Was gibt's Neues?«

»Morgen kommen s'! Hab selber den Befehl an den nächsten Posten ausfertigen und durch eine Ordinanz abschicken sehn.«

»Ist gut.«

»Hab auch gsagt, daß mer sich fein in acht nehmen möcht, sie hätten's mit einm rabiaten Kerl zu tun.«

»Schon recht.« Der Pfarrer rückte den Hut ein wenig zurück und fuhr sich mit dem Taschentuche über die Stirne. »Es bedrückt mich, daß ich da Menschen in eine Gefahr schicke –«

»Jo mein, wann's anders nit geht.«

»Aber der Bursche muß uns aus den Augen, ich habe es gesagt, und mit ihm muß der Anfang gemacht werden; mögen sie ihre Pflicht tun, ich kann ihn da nicht mir zu Trotz sitzen lassen –«

»Das is sicher! Gwiß nit!«

»Sonst brächte auch für weiter Ernst und Strenge kein Gedeihen.«

»Freilich, freilich.«

»Also morgen! Wollen hoffen, es verläuft nicht so übel.«

»Beileib, wird nit so arg werdn. Wolln Hochwürden nit [314] aufsteigen?« Der Dicke rückte auf dem Kutschbocke zur Seite.

»Nein. Ich danke, Bürgermeister. Gute Nacht!«

»Küß d' Hand, Hochwürden.«

Der Pfarrer schritt über die Straße und schlug einen Fußsteig ein, der ihn, quer durch die Felder, auf kürzerem Wege nach dem Dorfe zurückführte. Er nahm den Hut ab und setzte langsam Fuß vor Fuß. »Also morgen«, murmelte er, »gut, wenn das vorbei sein wird. Keine Schwäche! Schwäche ist sündhaft, denn sie führt zur Sünde!« Er seufzte tief auf, dann reckte er sich hastig empor, als würfe er etwas von sich ab, und begann die Felder aufmerksamer zu mustern; er sah nach den leeren und vollen Ähren, nach dem Stande des Klees, er streifte Käfer von den Rispen und schälte Körner aus der Hülse, bald aber warf er den Halm, der ihn eben noch beschäftigt hatte, achtlos weg und ging wieder im gewohnten strammen Schritte dahin.

Der Steig führte an dem Küchengarten vorüber, der hinter dem Wirtshause lag; derselbe war nicht eingeplankt, aber von so dichtem, hohem Buschwerk umfriedet, daß man die Leute, welche sich daselbst aufhielten, nicht sehen noch von ihnen wahrgenommen werden konnte, dagegen gestattete die grüne Wand das Horchen wie das Behorchtwerden und hatte Ohren wie manche andere.

Der Pfarrer blieb stehen.

»Das hab ich ja gleich heraustghabt«, sagte der Wirt im Garten, »daß 'm neuchen Herrn Pfarrer sein Reschen nit ohne is. Morgen schon jagen s' auf sein Anstiften 'n Einsam davon.«

»Ei, du mein, was macht er sich denn auch mit dem Bubn z' schaffen?« fragte die alte Martha.

»Wird doch kein Schad sein um den?«

»No, schau, er is halt doch zeither in Ruh und Fried da gsessen, wer weiß, wohin 's 'n führt und wozu 's 'n treibt, wann mer ihm hitzten mit einmal gröber kimmt als grob? Dasselbe hätt ich mir nit erwart von dem geistlichn Herrn, von ihm schon gar nit!«

[315] Da ließ sich die Kellnerin vernehmen: »Dö Ahnl redt, sie dürft ihn kennen.«

»Ei, freilich wohl bsinn ich mich auf ihn. Hab ich dös noch nit gsagt? Ach, das is nit schlecht, daß ich dös noch nit beredt hab! Wohl, wie noch mein Alter glebt hat und wir drüben in Gutenhofen ghaust haben, zur selben Zeit, wo wir einig worden sein, daß wir da das Wirtshaus kaufen wolln – selb is wohl auch schon über fünfundzwanzig Jahr her –, da hab ich 'n gut kennt, 'n Eisner, 'n hochwürdigen Herrn, als blutjungs Kaplanerl hab ich 'n kennt. Ja.«

»Ah, da schau, is dös der nämlich!« wunderte sich der Wirt.

»Derselb, der nämlich nit! Damal war er anderscht. Je, da habn s' ihn bissel gut leiden mögen, weil er halt gegen arme Leut ein so viel erbärmlicher Herr gwest is. Einer guten Bekennten von mir, der Auhoferin, is er in ihren letzten Nöten beigstanden; mein, die arme Seel hat a grimme Angst ghabt vorm Tod und vorm Teuxel, aber er hat ihr nit die Höll heiß und 's Sterben bitter gmacht, gar lieb hat er ihr zugredt, von der Erbarmnus Gottes und der himmlischen Freud, so daß s' getröst und ergeben die Augen gschlossen hat. Ja, dasselb hat 'n Leuten rechtschaffen gfalln, und weil er bis zum End gegn d' Mutter so gut gwesn is, hat auch die verwaiste Dirn, die Julian, zu ihm aufgschaut wie zu ein Heiligen.«

»Wird ihr nit schwer ankommen sein«, sagte die Liesel, »er is ja noch heut a sauberer Mann.«

»Geh zu, du Unend! Freilich, da redst du denen ganz nachm Maul, die ihm damal aufbracht habn, daß er öfter in der Dirn ihrer Hütte zugsprochen hätt.«

»No mein, wir sein alle sündige Leut, hätt der Herrgott lauter Engerln wolln, hätt er d' Welt nit erschaffen. Was hat denn der Pfarrer auch in der Hütte z' suchen ghabt? Wär ihm ums Beten gwest, hätt er ja bleiben können, wo er daheim war, in der Kirche.«

»Ei, Liesel, laß dir sagen«, lachte der Wirt, »ein Schelm denkt halt allmal, wie er is.«

[316] »Fragn mer doch voreh d' Ahnl, ob der Schelm nit recht hat!«

»Ich kann da nix sagen«, entgegnete die Alte, »weil ich nix weiß, und man muß auch nit alles sagn, was mer weiß, aber da wüßt ich wirklich nix.«

»Aber eins wird d' Ahnl wissen, was s' uns wohl noch sagen könnt. Was ist denn weiter mit der Dirn gschehn?«

»Mit der Auhofer-Julian? No, bald hat sie 's klein Anwesen verkauft und is nach der Stadt fort.«

»So?!«

»Was lachst denn da dazu so fletsch übers ganze Gsicht?«

»No, eins möcht ich halt noch gern wissen. Ist s' leicht vom Ort weggangen, oder hat s' schwer tragn?«

Da erschraken die im Garten, denn außen stürzte jemand hastig an den Büschen vorüber, einzelne vorstehende Zweige schnellten hinter ihm zurück, andere knickten.


Als der Pfarrer in seiner Stube angelangt war, schraubte er den Docht der Lampe empor und versuchte ihn anzuzünden; seine Rechte, in der er das Zündholz hielt, zitterte, er war bleich, und Schweißperlen standen ihm an der Stirne. Jetzt schlug die Helle auf. Aber heute war der Himmel wolkenleer, und zwischen den dunklen Fensterrahmen erschien aufdringlich grell das Bild der mondbeleuchteten Gegend; hoch ragte der Berg an, dessen beide Zacken wie verkalkte Knochen gleißten. Der Pfarrer ließ rasch die Vorhänge herab. Dann saß er, den Kopf in beide Hände vergraben, über der Legende der Heiligen, und da las er, Blatt für Blatt, von Tag zu Tag des Jahres, Namen um Namen – daß sie stark gewesen in der Gnade vor dem Herrn, ohne diese auch arm, schwach, reuig ...

Die Lampe verflackerte im Frührot.

[317]

V

Früh am Morgen hatte der Schneider-Tomerl das Dorf verlassen und war gegen das Gebirge gewandert. Nachdem er etwa eine Stunde rüstig ausgeschritten, erreichte er einen Berg; bis zur halben Höhe stieg derselbe mählich an, war mit dürftigem, buschigem Tannenwuchs bestandet, durch den viele Fußsteige liefen; wo aber diese sich verloren und der Busch ein Ende nahm, ragte eine mächtige Felswand steil empor. An dieser kletterte nun der Bursche auf einem schmalen, gefährlichen Pfade hinan, bis nahe dem Gipfel, wo eine steinige Fläche, nicht größer im Gevierte als die Dorfschulstube, vorhing, dahinter zeigte sich in der Wand eine Höhle, der Eingang derselben war mit Latten und Brettern verwahrt, Moos und Streu stopften Ritzen und Spalten, in der Mitte stand eine kleine Türe offen und ließ Luft und Licht ein, rechtsseits brach das Kniestück einer eisernen Ofenröhre aus der Verschalung hervor, und der Rauch hatte über ihr das Gestein mit einem manneshohen schwarzen Streif gezeichnet.

Der Schneider-Tomerl rief zur Türe hinein: »Guten Morgen! Beschwersam ist's, zu dir anzusteigen.«

Da trat der Einsam heraus und sagte brummig: »Es hat dir's ja niemand gschafft, und ich hab auch nit nach dir verlangt.«

»Tu doch nit zwider gegn mich«, sagte Tomerl, »ich komm nur, daß ich dich verwarn. Es dürften dir heut leicht noch ein paar zusteign, die dir nix Guts wolln, gegn die setz dich.«

»Ich erwart s' eh.« Der Einsam verschwand für einen Augenblick in seine Hausung, dann kehrte er zurück, einen jener plumpen Karabiner mit Steinschloß in der Hand, mit denen vorzeiten die Reiterregimenter ausgerüstet waren.

»Is ja gut«, sagte der Schneider-Tomerl, »aber wann s' dir einmal aufn Leib gerückt sein, dann nützt dir das Knallbüchsl gar nix. Solltst dich doch nit so beschleichen lassen, bin ja ich jetzt vor dir gstanden wie vom Himmel gfalln.«

[318] »Bild dir doch dös nit ein«, lachte der Einsam, »ich hab dich wohl gsehn, schon wie d' unten durchn Tann hraufgschloffen bist.«

»Dann is's schon recht. Ich wollt dir's nur sagen, daß du's weißt und dich darnach richten kannst; erwart s' jetzt oder geh ihnen ausn Weg, wie dir's ansteht.«

»Darauf kannst dich verlassen, daß ich s' heimschick, mag's jetzt in gutem sein oder, wenn sie sich nit bedeuten lassen, auch in üblem. Dasselbe kannst schon denen sagn, die dich auskundschaften gschickt habn.«

»Einsam«, rief der Schneider-Tomerl beleidigt, »mich schickt niemand! Daß d' es weißt, ich komm von freien Stücken, dich verwarnen, und ging's nach mir, stünd ich nit alleinig da, sondern wärn wir Bubn alle zur Stell und täten dir helfen, aber die Letfeign habn kein Kuraschi nit und bleibn lieber daheim.«

»Habn eh recht, dös is mein Sach, die ihnere nit. Was solln sie sich einmengen? Ich half ja auch kein von euch.«

»Is dalket gnug, nur Zsammhalten hilft! Heut kommt d' Reih an dich, und nachderher kommt s' an uns.«

»Ah ja, du bist der nämlich Schneider-Tomerl, von dem ich schon reden ghört hab! Du lebst mit einer Dirn, und die kriegt auch Kinder, ohne daß der Pfaff sein Segn dazu gebn hat?! Hehe! Ei ja, freilich wohl, da wird er dir schon zusteign, der gstrenge Hochwürden, dös is gwiß, und dö andern werdn dich fein sitzenlassen, dös is auch sicher!«

»Wohl, sie traun sich da nit und anderswo nit, dös weiß ich eh, aber dös möcht ich auch wissen, warum die Geistlichn, in deren ihr Sach sich doch gar kein Mensch einmengt, in aller andern Leut Sach sich einmengen?«

»Ja, 's mag ein wohl wundernehmen.« Der Einsam setzte sich auf einen Steinblock und ließ den Hahn des Karabiners paarmal spielen, daß die Funken stoben, dann begann er die Waffe zu laden. »Aber, mein lieber Tomerl, dich bemüßt nix, daß du mit der Dirn haust, und tust du's, so tust es ihnen z' Fleiß, doch bei mir, da kommt eins ausm andern, ich braucht [319] mich jetzt da nit auf d' Hinterfüß z' stellen, hätt ich nit getan, was ich getan hab und was nie gschehn wär, wann nit um ein von sö! – Mein Mutter war, glaub ich, Kleinhäuslerstochter, und wie sie sich als freiledige Dirn in ihrer Heimat mich derwirtschaft ghabt hat, ist s' nach der Stadt zogn und hat mich dort auf d' Welt bracht. Sie wollt sich wohl unter der Meng verliern, die Stadtleut sein auch nit braver und schlechter wie andere, nur weil ihrer so viel mehr auf ein Fleck zsammhausen, so tragt sich unter sö auch häufiger zu, was einzelweis da heraust aufm Land gleich ein groß Aufsehn macht – und mer nimmt dös gar nit hoch auf. Sie hat mich so rechtschaffen erzogn, wie sie's verstanden hat, und wie ich soweit zu Vernunft kommen bin, daß mir aufgfalln is, anderne Kinder reden auch von ihrm Vatern, da hab ich auch nach dem mein gfragt; hat's gheißen, der wär im Himmel, aber ein Bruder von ihm lebet noch, ein geistlicher Herr, der für uns zwei, für mich und mein Mutter, sorgen tät. Ich weiß, daß ein Reih von Jahren allmal zu bstimmten Zeiten Brief mit Geld kommen sein, und jeden Tag vorm Schlafengehn is der hochwürdige Herr Onkel ins Gebet einbschlossen wordn. No, weil mer mir angmerkt hat, daß mir nix abgeht, ich auchm Gwand nach sauberghalten war und fleißig in d' Schul grennt bin, gleich als sollt nix anders aus mir werden wie a Student, so habn sich d' Leut gegen mich gar nimmer ausgwußt, sollen s', 'du, Bub' zu mir sagen oder 'Sö, junger Herr'. Aber wie mit einmal die Brief vom hochwürdigen Herrn Onkel seltener wordn sein und mit ihnen auch 's Geld, da hat's gleich gheißen: 'Du, Bub, du darfst deiner Mutter nit weiter zur Last fallen, du mußt in a Lehr!' Na und da war ein Fleischhacker, der mich gern gsehn hat, der hat mich aufgnommen; 's Ochsenderschlagen war just nit mein Freud, aber es hat sich halt so gschickt. Paar Jahr hab ich noch duckmausert, dann war ich mit einmal ein Lackl, so groß, wie ich jetzt bin, da hab ich mich zu meinsgleichen ghalten, bin in d' Wirtshäuser und zu Unterhaltlichkeiten mit, oft sein wir auch an ein Ort mit die Knecht zsammtroffen; [320] drunter war einer, was s' 'n Aufhackknecht nennen, der war gegn uns Lehrburschen, ich mag sagen, was da ein Großknecht gegn ein Bubn, der Schaf halt oder Gäns hüt, und habn wir uns viel von ihm gfalln lassen müssen, doch dös is so herbracht; einmal aber war's, auf einer Kirchweih, ich will grad mit ein mordsaubern Mädel zum Tanz antreten, da kommt er auf mich zu, schupft mich auf d' Seit und sagt: 'Geh weg, Bankert!' No, mich hat das sackermentisch verdrossen, so mehr, weil dö Saubere dabeigstanden is, und ich sag ganz keck: 'Ein selbn gäb ich ihm nit ab!' Da hat er wohl denkt, mit mir wurd er gleich fertig sein, wann er mir vor alln Leuten zuschreit, weil ich ja meiner Mutter ihrn Nam führet, hätt mich dö ledigerweis geboren und kein Vatern aufzweisen ghabt, und ich wär also, was er mich gnennt hat! Aber ich hab wider ihn gschrien, ein Durcheinander halt, wie man tut, wann mer sich ärgert. Wie mein Vater, der's wohl ehrlich gmeint hat, zur Unzeit verstorben sein dürft – und wie mer's meiner Mutter wohl auch nit als Schand hat aufrechnen können – sonst hätt gwiß 's Vaters leiblicher Bruder, mein hochwürdiger Herr Onkel, die Hand von uns abzogn.«

Der Einsam stand auf, mit zitternden Händen legte er den Karabiner hinter sich auf den Stein und trat auf Tomerl zu. »Jetzt lach nit über das, was ich dir sag. Da hat der Knecht anghoben, mich aufzklärn, was mer in der Stadt von ein geistlichen Herrn Onkel halt, wie dös für gwöhnlich sein eigener Bruder wär und 'sselbe Verschwägern mit saubere Weibsleut nit unlustig fänd! Und nun hat er sein Schandmaul ausgleert und kein Aufhörn mehr gwußt, und dö, dö hrumgstanden sein, die habn sich vor Lachen zsammbuckelt und gschrien, und daneben steh ich, wie mer als Bub is, blitzdumm, ohne Arg und Falsch in der Seel, ohne ein Ahnung von dem säuischen Durcheinander, wie er auf der Welt vorkommt! – Mein Mutter war in mein Augn a Heilige, und der Onkel war mein hochwürdiger Wohltäter, und dö zwei einzigen Leut, zu denen ich aufgschaut hab, wo ich gmeint [321] hab, nach dö müßt sich richten, was a braver Mensch werdn will, dö mußt ich jetzt heruntermachen hören, daß wohl kein Hund kein Stückl Brot von sö gnommen hätt, und wie der Knecht kein End findt und sie fort und fort alls nennt, nur nit heilig und hochwürdig, da hab ich 'n ein elendigen Lugner gheißen, so er mer dö verunehrt, und hab ihm 's Maul halten gschafft! Auf dös schlagt er mich ins Gsicht, und drauf hab ich nix mehr gwußt, nit, was ich red, nit, wie mer a Messer in d' Hand kommt, und nit, wonach ich damit stich.«

Der Einsam holte ein paarmal tief Atem, ehe er fortfuhr: »Aber maustot ist er vor mir glegn, und ich mußt's wohl glaubn, wie er mir gsagt hat, ich hätt ihm 's antan. Gleich von der Stell haben s' mich fortgführt, aber im Arrest noch hat mich der Trotz aufrecht ghalten: er war selber d' Schuld, und ich hab nur meiner Mutter und meins Vaters leiblichem Bruder die Ehr gwahrt! Doch da is mein Mutter zugrennt kommen mit fliegende Haar und – Jesus, was ich tan hätt? Und das wär die Straf Gottes für ihrer zwei Versündigung und für mein unrecht ›Auf-der-Welt-Sein‹! Ah ja, dö Weibsleut, nit schrein können s' z' rechter Zeit, das gang gegn ihrn Willn, und nachderher schießt ihnen d' Schamhaftigkeit ein, und sie können auch nit rechtzeit reden. Hätt s' früher 's Maul aufgmacht! Jetzt is's ihr freilich gangen wie a offene Schleusen, und ich hab alles erfahren, daß derselbe Geistliche wohl mein Vater wär und sie und der nix anders, als wie s' der Knecht gheißen hat, und ich ebn auch! Das kannst du dir nit vorstellen, Tomerl, wie mir da gwesn is, wie ich eingsehn hab, daß ich ja jed Wort hätt einstecken müssen, weil's bittere Wahrheit war, daß ich da a Ehr hab wahrn wolln, wo d' nackte Schand an allen Enden fürgschaut hat, daß kein Körndel Recht und kein Stäuberl Vernunft dabei war und ich ein Menschen ganz für nix und wieder nix umbracht hab.«

Der Einsam rieb sich mit beiden Händen die Stirne. Mit leiserer Stimme sagte er dann: »Fünf Jahr habn s' mich bhalten, [322] aus Gnaden nur fünfe! Dann bin ich freikommen. Mein Mutter hat mich von sich gwiesen, ich bin gangen, und wir habn uns nimmer wiedergsehn. Ich hab ghofft, sie wurdn mich zun Militari nehmen, wär mir recht gwest, in der Kasern kann mer sich verkriechen, und vorn Feind hätt ich mich gern gstellt, aber der Arzt hat gsagt, meine Füß taugn nit, und so konnt ich wieder gehn. In der Stadt kann mer 'n Leuten nit ausweichen, da sein ihrer zviel, so bin ich halt fort, daher, wo s' schütterer sein, denn mit sö will ich nix z' tun habn, und ich weiß ja recht gut, sö auch nit mit mir, und wer anders sagt, der redt falsch, zsammghörig sein s' amal, und jeder scheut den, dem einer aus ihrer Gmeinschaft untern Händen bliebn is, und grat mer erst so weit außerhalb aller Zsammghörigkeit, dann paßt mer auch nimmer dazu; wie in einer Mauer ein lockerer Stein, den nix halt und er selber nit, müßt mer bald wieder hrausfallen. Zweifach bin ich von sö gschieden, durch die unehrliche Geburt und durch mein Tun, aber meiner Geburt wegen, an der doch ich kein Schuld trag, kann ich mich nit schämen, und mein Tun, auch durch die Lugenhaftigkeit anderer hellauf in Unsinn verkehrt, kann ich nit bereun; aber halt als ein Ganzs bedrückt's mich, dös bin ich nit loswordn und werd's nie los! – Nun weißt all mein Erlebts, und ich hätt mer's wieder einmal von der Seel hruntergredt, und jetzt tätst mer wohl a Freundschaft, wann d' wieder gingst und mich alleinließst. Bhüt Gott! Und wann mer heut oder morgen was zustoßt, kannst's ja 'n Leuten sagn, wie's mitm Einsam bschaffen war und wie sich der aus ganz ein grechtem Einsehen, gegenseitign Frieds halber, da herobn einbschlossen hätt wie a wilds Tier!«

»Du mein lieber Herr und Gott«, sagte der Schneider-Tomerl, indem er sich zum Gehen anschickte, aber erst zögernd Schritt für Schritt zurücktrat und mit großen Augen und unsicheren Blicken nach dem Einsam starrte. »No du, du hast schon auch dein schön Teil Jammer derlebt! Halt ja, dein schön Teil Jammer! – Bhüt dich Gott, Einsam!«

[323] Der stand eine geraume Weile, den Blick vor sich ins Leere gerichtet; als er ihn wieder senkte, da sah er am Fuße des Berges den Schneider-Tomerl wie toll durch den Tann laufen, auf der Straße haltmachen und mit beiden Armen Zeichen heraufgeben.

»Der Narrisch, was will er mir denn?« brummte der Einsam, und ärgerlich darüber, daß er ihn nicht verstehen konnte, winkte er ihm zu gehen und wandte sich ab; doch den schmalen Pfad seitwärts nahm er nicht in acht, und gerade gegen die Wand reckte der Bursche da unten weisend und warnend die Hände, denn kaum im Busch, war er von zwei Gendarmen angehalten worden, die er jetzt vorsichtig ansteigen sah.

Der eine war ein graubärtiger Mann von gedrungenem, kräftigem Körperbau, der andre war jung und schlank und überragte seinen Gefährten wohl um eine Kopflänge. »Nur erst oben sein«, flüsterte der Alte, »denn wenn er uns früher wahrnimmt und es uns übel meint, so jagt er uns mit Steinwürf da von der Wand, wie ein fauler Hüter die Geiß ausm Feld, und wir können uns nur auch gleich zum Hupfen und Springen anschicken wie die! Nur erst oben sein!«

Immer bedachtsam vorrückend, waren sie bis auf wenige Schritte dem Ziele nahe gekommen, da versah es der Jüngere für einen Augenblick, sein Seitengewehr schlug klirrend gegen das Gestein, der Graubart stieß einen halblauten Fluch aus, und der Einsam raffte mit Hast seine Waffe auf und sprang hinzu. »Ho, Leut, was wollts? Was soll's geben? Stehts, oder ich schieß!«

»Das laß sein«, sagte der Alte, der voranstand, und blinzelte dem Einsam vertraulich zu. »Ich mein schon selber, daß einm da a klein Körndel Blei leicht 's Übergewicht gäbet, aber sei gscheit und hab ein Einsehn, wir kämen ja ganz unschuldigerweis dazu, uns kann doch gleichgelten, haust du da oder anderswo, wir sein dir nit feind, wir sein ebn kommandiert, und schau, da müssen wir halt gehen, weil dös unser Pflicht is und unser Brot.«

[324] »Ei, red du freundlich, weil d' ein noch nit beim Kragen hast!« schrie der Einsam. »Ob euch mein Einfangen a Vergnügn oder a Beschwernus macht, darnach frag ich nit, das gilt mer gleich, und redts mer nit von Pflicht und von Brot, verpflichts euch nit zu so was und freßts kein solchs! Wolln mer dö Herrn vom Gricht was, solln s' selber kommen, handlangert ihnen nit, und wann euch ein jeder, wie ich, die Zähn in Rachen einischlaget, dann möcht sich wohl bald im ganzen Land keiner mehr zu euern Brot melden, und wir wurden einmal statt die klein Hund die großen bellen hören, wann sich dö noch traun.«

Der Graubart war unmerklich ein paar Schritte vorwärts gerückt und hielt seine Flinte recht wie einen Gangstecken gegen den Boden gestemmt, jetzt schwang er sich mit einmal vorneüber und stand mit einem Ruck auf der Steinplatte. »Gib dich!« rief er.

Da krachte ein Schuß, und der Alte brach zusammen. »Himmelherrgottssakkerment«, preßte er zwischen den Zähnen hervor, die er vor Schmerz zusammenbiß. »Ich hab's ja gwußt, wo ein Pfaff dabei is, geht's nit gut aus.«

Der Einsam aber wollte den einen Gegner vollends unschädlich machen, mit hochgeschwungener Waffe sprang er auf ihn zu – und hat er ihn mit dem Kolben vor den Kopf geschlagen und ihm das Gewehr entrissen, dann ...

Da stemmte der andre Soldat die Schulter gegen die Wand und die Füße wider den Boden, riß die Flinte an die Hüfte und gab Feuer. Der Einsam schnellte empor, weit weg flog seine Wehr in das Gestein, lautlos überschlug er sich nach vorne und lag tot.

VI

Der Widerhall zweier Schüsse, der rings in den Bergen nachgrollte, hatte das weite Tal in Aufregung versetzt, das Dorf war belebter wie an einem Feiertage, es litt die Leute nicht auf dem Felde und nicht in den Stuben, und wer nicht durch [325] die Gassen strich, der trat doch unter seine Haustüre; in Gruppen, die sich wechselnd sammelten und lösten, besprach man sich lebhaft, und jeder versuchte in seiner Art und nach seinem Meinen das Geschehene vorherzusagen, und wer im Orte bei Amt und Ansehen war, vom Gemeindediener bis zum Bürgermeister, hatte diejenigen zu beschwichtigen, die überzeugt waren, der Einsam habe beide Gendarmen von der Wand geschossen und käme sicher noch heut nacht zugeschlichen, um das Dorf in Brand zu stecken. Nur der Pfarrer ließ sich nicht blicken, und der Pfarrhof lag so ruhig auf seiner Höhe, wie wenn ein gewöhnlicher Tag wäre und als könne Furcht und Schreck, von denen die da unten bewegt werden, nimmer zu ihm ansteigen.

Spät am Nachmittage pochte es an die Stubentüre des Pfarrers, und ohne den Zuruf abzuwarten, trat der Bürgermeister ein. »Schöne Bescherung«, keuchte er und ließ sich ohne Umstände in einen Stuhl fallen.

»Nun, was gibt's, Bürgermeister?« fragte der Pfarrer, von dem Buche, über dem er saß, aufblickend.

»Furchtbare Gschichten, Hochwürden, furchtbare Gschichten! Der Einsam hat Wort ghalten und sich zur Wehr gsetzt; ein Schandar hat er angschossen und wollt grad über ihn her, da hat der zweite auf ihn antragn und losbrennt und hat 'n nur z' gut troffen; hin ist er!«

»Der Bursche tot? Gott verhüt es!« rief der Pfarrer, sich rasch vom Sitze erhebend.

»Ei mein, da verhüt sich nix mehr, maustot is er.«

»Ach, daß das so übel ablaufen mußte«, seufzte der Pfarrer. »Ich dachte nicht, daß er es im Ernste drauf würde ankommen lassen, aber wenn er sich zur Wehr setzte, dann wußte er auch, daß ihm das bevorstehen konnte! Da habt Ihr's, Bürgermeister, störrisch bis zum letzten, wider alle und wider alles, ganz ungefüg für die menschliche Gemeine; wohin würde das auch noch am Ende geführt haben?«

»Na, das mag mer wohl sagn, Schad is just keiner!«

»Es ist das traurig, sehr traurig, und wir können es beklagen, [326] aber« – der Pfarrer hob die Schultern – »wir haben uns nichts vorzuwerfen, unser Vorgehen war gesetzlich und notwendig, und dieser Verlauf entzog sich eben aller menschlichen Voraussicht, der Bursche selbst hat alles getan, um ihn herbeizuführen; nun es so ist, sei Gott seiner Seele gnädig!«

»Amen«, brummte der Bürgermeister. Und nach einer Pause begann er wieder: »Aber 's Schönste – daß ich sag –, dös kommt erst nach! Der Schandar hat sein verwundten Kameraden herunterschaffen, auf ein Wagen bringen und nachm Komanda führen lassen, er selber aber hat sich mit der Leich vom Einsam aufn Weg gmacht, und jetzt bringt er uns 'n daher!«

»Wie, hierher nach unserm Dorf? Ja, wie konnte er das nur?«

»Na, tragn ihm 'n doch vier Männer auf einer Bahr.«

»Eh«, machte ärgerlich der Pfarrer. »So geradezu ist das ganz unüberlegt und voreilig –«

»No ja, jetzt habn wir 'n aber einmal da, und ich tät recht schön bitten, Hochwürden möchten gstatten, daß er halt derweil, bis d' Beschau kommt, in der Totenkammer aufm Freithof beigsetzt wird; sonst legn s' mer 'n frei ins Gmeindhaus, und ich könnt vor Graus dort nimmer verbleibn.«

»Ich habe nichts dagegen. Der Mesner hat die Schlüssel in Verwahrung. Lassen Sie aufschließen. Aber den Gendarmen rufen Sie mir, mit dem Mann möcht ich sprechen.«

»Werdn ihn eh gleich da habn und alls mit, was aufn Füßen is, ich bin nur vorauf, ebn daß wir d' Schlüssel kriegn. Da hör ich s' ja schon kommen!«

Von außen schlug das Gebrause einer nahenden Menge herein. Der Pfarrer und der Bürgermeister traten an das Fenster. Da wogte es von unten herauf, eine schwanke Tragbahre in der Mitte, vor der alle scheu zurückwichen, so daß sich um sie ein stetig freibleibender Fleck zeigte und rundum ein dunkler Ring, in dem sich alles drängte und wirrte und stieß, und so wälzte sich das Ganze langsam heran.

Als die Leute des Pfarrers ansichtig wurden, hielten sie [327] stille und rückten die Hüte, und die Träger setzten ihre Last gerade unter dem Fenster ab. Der Pfarrer dankte, mit einem scheuen Blick streifte er die Bahre und trat zurück.

»Herr Schandar, sollts hraufkommen«, rief der Bürgermeister zum Fenster hinab.

Wenige Augenblicke darauf trat der Gerufene in die Stube, und hinter ihm drängte sich ungebeten eine Schar ein, Männer und Weiber, Bursche und Dirnen, auch Kinder, die sich scheu in die Ecken drückten oder an die Kleider der Angehörigen klammerten.

»Guten Tag, Hochwürden«, grüßte der Gendarm.

»Guten Tag! Sagen Sie mir nur, wie konnten Sie denn, ohne eine Weisung abzuwarten, den Leichnam hieher schaffen lassen?«

»Entschuldigen, Herr Pfarrer, aber den konnt ich ebensowenig obenlassen wie mein verunglückten Kameraden, der mußte in die Pfleg, und der Tote muß vor die Beschau, und die Herren vom Gericht, die können wir nit da hinaufbemühen, den Kreisphysikus kenn ich, das is schon ein alter Herr, dem hätt man sowieso die Leich beistellen müssen.«

»Gut, aber konnten Sie denn nicht vorläufig die Leiche dort in der Nähe in einer Hütte unterbringen?«

»Nein, Hochwürden, da scheuen sich die Leut zuviel, bemüssen kann man s' nit, und bereden würd man s' nit, das wär verlorne Zeit.«

»Nun, lassen wir's gut sein, es ist einmal geschehen. Aber sagen Sie mir, weiß man nun, wo der Bursche her ist und wie er heißt?«

»O ja«, der Gendarm griff nach seiner Brusttasche, »bei der Nachsuchung hat sich ein Taufschein gefunden. Er is von Gutenhofen, der unehliche Sohn der Kleinhäuslerstochter Julian Auhofer.«

»Jesus, Maria!« schrien plötzlich einige auf.

Das Gesicht des Pfarrers war fahl geworden, seine Züge, aus denen starres Entsetzen sprach, arbeiteten, als erstickte es ihm einen Schrei oder würgte ihn ein Wort; mit beiden [328] Händen griff er hinter sich nach der Mauer, glitt an derselben nieder und schlug schwer zu Boden.

Man sprang ihm bei, und als er wieder zu sich kam und man ihn aufrichtete, da stammelte er: »Geht! – Ein Glas Wasser! – Es wird sich ja geben. – Geht – laßt mich allein!« Er wies die Leute fort, zögernd drängten sie nach der Türe, und langsam verließ einer um den andern die Stube.

Und als er allein stand, da blickte er nach jener Ecke, wo das Bildnis des Gekreuzigten hing, lange starrte er auf dasselbe hin, plötzlich rang er die Hände ineinander und hob sie empor.

»O Herr! Strafst du an den Gefühlen, die wir verleugnen?!«

Dann wankte er zu dem Betschemel, dort kniete er, zusammengekauert, und Schauer und Schauer schüttelte seinen Leib.


Und als der Mond heraufkam und durch das Fenster lugte, da saß der Mann bei Lampenlichte, seine linke Hand lag schlaff auf einem Blatte Papier, das seine zitternde Rechte in ungefügen Zügen beschrieb.

»Euer Eminenz! Bei der väterlichen Huld und Gnade, die ich nie vergebens angerufen, beschwöre ich Sie –«

Die Flamme flackerte unruhig, durch eine eindringende Welle der Luft bewegt, die außen milde dahinstrich und in der alles badete in lauer Sommernacht; sie fächelte auch um den Toten, der einsam lag, ungerührt. Oh, daß nichts in seinem Wesen, seinen Zügen als verwandt gemahnte! – Der Schreiber fuhr jäh empör, und die Feder kreischte über das Blatt.

»Entheben Sie mich sofort meiner Stelle hier, und lassen Sie mich in einem Orden strengster Observanz meine Tage beschließen. Von einem furchtbaren Geschicke ereilt, unwürdig befunden, ein Rüstzeug des Herrn zu sein, liege ich unter seiner Hand zerbrochen.«

Er hob die Augen zum Himmel empor. – Wie bleich der [329] Mond hersieht! So bleich und unbewegt ist wohl auch das Gesicht des Toten – und jetzt könnte man in dessen Zügen forschen – wenn nicht der Blick vor Grauen versagte!

Noch einmal ermannte er sich und schrieb weiter: »Sobald ich von hier erlöst sein werde, eile ich zu Euer Eminenz, Beichte abzulegen, zerknirscht, doch ohne Hoffnung auf Sühne, denn mit furchtbarer Klarheit ist mir der Sinn dafür erschlossen worden, daß es Verschuldungen gibt, die, nach den Worten der Schrift, weder hier noch dort vergeben werden, weil wir selbst sie uns nicht verzeihen können und der milde Vaterblick des Allerbarmers durch das Düster unserer Seele verschleiert bleibt.«

Da versagte der Lampe die Nahrung, der Docht glimmte matt, einem Ölflämmchen gleich, wie eines jetzt zu Häupten des Toten leuchtete, und in einem Lichtkreise, schwank und ungewiß, wie er hier über der Tischplatte zuckte, starrte das Gesicht!

»Ich komme ja«, rief der Pfarrer, sich erhebend, »ich komme! Ich will dich noch einmal sehen mit andern Augen – mit anderen Augen!«

Er brannte das Wachslicht einer kleinen Handlaterne an, verließ den Pfarrhof und trat hinaus in die sternenhelle Nacht, aber er blickte vorsichtig um sich und barg das Licht unter seinem Kleide, daß es seinen nächtlichen Gang nicht verrate, und mit hastigen Schritten glitt er dahin, vorbei an der Kirche, um deren Ecke, nach dem eisernen Gittertore, das auf den grasbewachsenen Friedhof führte; hier schlugen schwanke Halme gegen seine Füße, nicht breite, schwere Blätter wie damals, als er durch jenes Gärtchen, in welchem mehr Klette als anderes wuchs, so verstohlen zur Mutter schlich – wie jetzt zu dem Kinde.

Als er die Türe der Totenkammer öffnete, da dröhnten die Eisenplatten, und mit einem langgezogenen, schrillen Tone drehte sie sich in den verrosteten Angeln. Und als er des Toten ansichtig wurde, da deckte er erst die Augen mit der Hand und zog diese mählich weg, als wolle er sich an [330] den Anblick gewöhnen; er faltete die Hände, als bäte er dem bleichen Burschen etwas ab, dann streckte er wie beschwichtigend die Rechte gegen ihn und legte sie ihm auf das Haupt.

Er zog sie durchschauert zurück.

Und jetzt mahnte ihn dieses Antlitz mit den finster zusammengezogenen Brauen an ein anderes, das plötzlich lebhaft in der Erinnerung vor ihm stand, wie er es gesehen in jener Scheidestunde für dieses Leben, wo er, unmännlich genug, dem andern Teile die größere Schuld an der gegenseitigen Versündigung vorwarf. Ja – hier derselbe Mund mit den trotzig aufgeworfenen Lippen, zwischen denen die kleinen, ebenmäßigen Zähne vorblicken, und dem verachtenden Zuge um die Winkel, er dürfte sich eben geschlossen haben über den Worten – oh, wer sie beherzigt hätte, jene Worte:

»Ich denk, du hättest es verspielt, anderer Leut Richter zu machen!«

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TextGrid Repository (2011). Anzengruber, Ludwig. Erzählungen. Der Einsam. Der Einsam. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-DD85-7