Geräusche

Wenn es in den alten Äpfelbäumen rauscht, ist es anders. Und wenn es in Tannenwipfeln rauscht, ist es anders. Wenn es über Felder braust, ist es anders. Wenn es im Weidenbusche rauscht, ist es anders. Wenn es über Almwiesen braust, ist es anders. Wenn es Rosenstöcke im Garten schüttelt, ist es anders. Wenn es in Birken säuselt, ist es anders. Wenn ein getroffener Hase schreit, ist es anders. Wenn ein Käuzchen am Waldessaume abends klagt, ist es anders. Wenn der Rabe halberfroren krächzt, ist es anders. Wenn der Kanarienvogel trotz Gefangenschaften schmettert, ist es anders. Wenn der verlaufene Hund heult, ist es anders. Wenn das Baby in der Wiege unhörbar atmet, ist es anders. Immer ist es anders, aber die wenigsten hören es!


Beethoven, ganz, ganz tief in dich hinein lauschtest du, Tauber, vernahmst so die Geräusche der ganzen Welt: Das Konzert des Sturmes, das Konzert der Stille, das Konzert der Klagen, das Konzert des Kicherns! Und du gabst es einfach wieder, wie Bergwände das Echo – – –. So wurde es die Musik der Welt!


Ich fuhr das süße junge Kindermädchen Sonntag abends im Boote zur Bucht. Die Ruder sangen im Wasser. Das Kindermädchen sagte: »Die Kinder sind so lieb, die gnädige Frau ist so lieb, Sie fahren mich spazieren, und ich bin nur ein armer Dienstbote«.


[102] Die Ruder sangen im Wasser, sangen im Wasser und hielten still am Weidenufer und sangen da nicht mehr, stundenlange – – –. Und dann sangen sie wieder, bis man an den Garten kam des Hauses, in dem sie bedienstet war. Und sie sagte:

»Ich werde noch horchen, bis Ihre Ruderschläge verhallen in der Nachtstille – – –«.


Die Möbel knackten im Winter um 3 Uhr morgens und ich lag als Kind in Todesangst, in Todesschweiß bis zum Morgengrauen: Es kommt jemand geschlichen, schlachtet mich – – –. Mama, Mama!


Ich war bei der Maturitätsprüfung durchgefallen, kam aufs Land zu meinen Eltern, die zu weinen begannen in ihrem Zimmer. Von der Waldwiese kam aus dem Musikpavillon der Klang der Ouvertüre zu »Wilhelm Tell«, von Tannenwipfelrauschen unterbrochen. Irgendwo sagte eine Kinderfrau zu einem Kinde: »Na warte, du schlimmes Mädi, ich werde es dem Gärtner sagen – – –«. Eine große blaue Fliege summte herein, stieß an den weißen Plafond an. Meine Eltern weinten, Papa unhörbar, aber Mama schneuzte sich.


Sie stieß im Schlafe mit dem Ellbogen an die japanische Wandmatte. Es gab einen dumpfen Klang. Ich berührte sanft ihren Ellbogen, sagte leise: »Süßestes Geschöpferl – – –«. Sie seufzte auf. Dann ward es wieder still.


Ich hörte im Bergwald einen Schuß, und ein Reh starb. Ich hörte im Garten einen Schuß, und [103] ein Nußhäher starb. Ich hörte im Hotel einen Schuß, und es starb ein junges Mädchen. Ich dachte: »Wirst du deinen eigenen Schuß auf dich hören?!?«


Meine geliebteste Geliebte putzte sich die Zähne und gurgelte melodisch mit »Salol«, spuckte aus, wie ein Miniaturwasserfall, aus einem rosigen Mündchen in ein schneeweißes tiefes Lavoir. Ich sagte zu ihr: »Betrüge mich nur mit einem unmusikalischen Menschen! Denn dieser hat dann wenigstens nicht das Glück, die Melodien deines Gurgelns zu vernehmen beim Zähneputzen!«

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TextGrid Repository (2011). Altenberg, Peter. Prosa. Märchen des Lebens. Geräusche. Geräusche. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0001-D912-B